Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.12.2005. In der Welt erklärt Kanan Makiya, wie Deutschland dem Irak helfen könnte - mit einer Gauck-Behörde. Die NZZ fiebert der Saisoneröffnung an der krisengeschüttelten Scala entgegen. Die taz fürchtet, dass die Renaissance des Bürgertums in Extremismus ausarten könnte. Der Tagesspiegel findet: Selbst der brutalste Rap ist nichts gegen die Marseillaise. Für die FAZ besucht Viktor Jerofejew das Fiese Haus von Norilsk.

Welt, 06.12.2005

Im Politikteil unterhält sich Mariam Lau mit dem irakischen Architekt Kanan Makiya, der einst durch ein Buch gegen Saddam Hussein bekannt wurde. Auf die Frage, wie Deutschland dem Irak helfen könnte, antwortet er: "Ich habe mit meinen Freunden von der Iraq Memory Foundation zwei Millionen Dokumente aus der Saddam-Ära gesammelt, denn das Regime war erfreulicherweise sehr erpicht darauf, alles festzuhalten: Verhörprotokolle, Denunziationsschreiben, Einsatzbefehle. Wenn wir Iraker miteinander leben wollen, muss die Architektur dieser Republik der Angst jedermann vor Augen stehen. Wir suchten Rat und Hilfe beim Umgang mit diesen Dokumenten und stießen auf die ehemalige Gauck-Behörde. Was helfen würde, sind nicht Soldaten oder Krankenschwestern, sondern vor allem ein neuer Ton: ein Verständnis dafür, dass wir mehr sind als eine Kolonie, dass im Irak der Kampf gegen den Terror gewonnen werden muss, der auch Deutschland etwas angeht."

Im Interview mit Andrea Seibel fordert Meinhard Miegel ein Höchstmaß an Ehrlichkeit von Angela Merkel: "Sie sollte nicht so tun, als könne sie zaubern und verkünden, das hat sie leider auch wieder in ihrer Regierungserklärung getan, als sie davon sprach, dass Deutschland in zehn Jahren in Europa ganz vorne sein könne. Der Politiker-Arzt spricht zum Patienten: 'Ich mache das schon.' Aber das ist falsch. Vielmehr muss sie große Teile der Bevölkerung einbeziehen, indem sie freimütig erklärt: 'Leute, ohne eure Mitwirkung verhungere ich auf meinem Hochseil.'"

Im Aufmacher des Kulturteils spekuliert Michael Pilz über die Frage, ob es heute noch Superstars gebe. Peter Dittmar berichtet, dass ein neues, religiös neutrales Symbol - der rote Kristall - neben das Rote Kreuz und den Roten Halbmond treten soll. Der Historiker Jens Nordalm sieht in Gestalten wie Paul Kirchhof einen lange vermissten Typus eines staatsskeptischen Konservatismus neu in die Öffentlichkeit treten. Dankwart Guratzsch berichtet, dass der geplante Bau einer Elbbrücke in Dresden den Unesco-Welterbestatus der Stadt gefährden könnte. Uwe Wittstock spekuliert über siebenstellige Vorschüsse, die Gerhard Schröder von Verlagen für seine Memoiren geboten werden. Und Ulrich Weinzierl schreibt zum Tod von Milo Dor.

Auf den Forumsseiten erinnert Michael Wolffsohn daran, dass Willy Brandts heute so berühmter Kniefall vor dem Denkmal für das Warschauer Ghetto seinerzeit eisiges Schweigen auf allen Seiten auslöste.

Besprochen werden John Neumeiers neue Mahler-Choreografie in Hamburg, Henzes "Bassariden" unter Ingo Metzmacher und Peter Stein an der Amsterdamer Oper und eine Feydeau-Komödie in Frankfurt.

NZZ, 06.12.2005

Mit Spannung fiebert Derek Weber der diesjährigen Saisoneröffnung des Mailänder Teatro alla Scala entgegen (mehr), die nach den Zerwürfnissen des vergangenen Jahres unter dem neuen französischen Intendanten Stephane Lissner erfolgen wird. Er hat bereits angekündigt, dass die Eröffnungspremiere des Jahres 2006, Wagners "Tristan und Isolde" in der Regie von Patrice Chereau, von Daniel Barenboim dirigiert werden wird. "Die 'italienischste' Idee aber ist sicherlich, ab 2007 jedes Jahr ein italienisches Opernhaus zu einem Gastspiel in die Scala einzuladen: Als erstes das San Carlo aus Neapel (mit Verdis 'Luisa Miller') und 2008 das La Fenice mit 'Il crociato in Egitto', einer Meyerbeer-Oper, die 1824 in diesem Theater uraufgeführt wurde."

Paul Jandl widmet sich dem schriftstellerischen Werk des kürzlich verstorbenen Autors Milo Dor, der der Gruppe 47 angehörte. Besprochen werden eine Darbietung von Ludwig van Beethovens drei Klaviersonaten op. 31. durch den Pianisten Andras Schiff in der Tonhalle Zürich, John Neumeiers "waghalsiges" Ballett "Lieder der Nacht" in Hamburg nach einer Mahler-Sinfonie, Hermann Lübbes größtenteils "erhellendes" Buch "Die Zivilisationsökumene" sowie Annie Proulx' Erzählungen "Hinterland. Neue Geschichten aus Wyoming".

TAZ, 06.12.2005

Alexander Cammann stellt fest, dass die Renaissance des Bürgertums mittlerweile über weiche Stilfragen hinausgeht und in harten "Extremismus" ausartet. "Dieser Formwandel zeitigt heute reichlich unfeine Ergebnisse, die sich vom - gerne inszenierten - konservativen Stilbewusstsein Fests und Siedlers beträchtlich unterscheiden. Frank Schirrmacher, Fests Nachfolger im Olymp des deutschen Bürgertums, dem Herausgebergremium der FAZ, erzeugt mit Vorliebe publizistische Krawalle. Arnulf Baring meinte schon vor drei Jahren in legendärer Manier angesichts der Krise alle Haltung verlieren zu müssen und die Bürger auf die Barrikaden zu rufen. Mittlerweile hat solch bürgerlicher Radikalismus auch die ehrwürdigste Institution des Rechtsstaats, das Bundesverfassungsgericht, erreicht. Der konservative Verfassungsrichter Udo di Fabio hat mit seinem Pamphlet 'Die Kultur der Freiheit' der deutschen Gegenwartsgesellschaft den Kampf angesagt."

Weiteres: Isolde Charim deutet die Diskussion um das Intelligent Design in der Natur als Versuch der Kirche, die Säkularisation rückgängig zu machen. Jochen Schmidt wandert durch das fertig renovierte aber noch leere Bode-Museum in Berlin und inhaliert den Duft von frischem Parkett.

In der zweiten taz erklärt Wörterschützer ("Lexikon der bedrohten Wörter") Bodo Mrozek Arno Frank seine Idee von einem Wortfriedhof. "Dort könnten die Handwerker aussterbender Berufe mit aussterbenden Werkzeugen - wie der 'Punze' - Grabsteine für ausgestorbene Wörter errichten, was diese Gegend vielleicht schrittweise wieder beleben würde." Christian Schneider bemerkt, dass Angela Merkel zur harmonischen Landesmutter stilisiert wird. Jan Feddersen brandmarkt den Plan der Lesben und Schwulen in der Union, ungeschützten Sex unter Homosexuellen zu bestrafen, als "kontraproduktive Panikmache".

Im Medienteil bringt uns Thomas Purschke im Fall des NDR-Sportchefs und mutmaßlichen Stasi-Mitarbeiters Hagen Boßdorf auf den neuesten Stand. Besprochen werden zwei Bücher, Heidi Speckers "grandios deutlicher" Bildband "Im Garten" und der Interviewband "Luk Perceval. Theater und Ritual" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 06.12.2005

Offenbar etwas bang hat Michael Kohler die Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration" im Bonner Haus der Geschichte betreten, doch schon im Eingang signalisieren ihm die Zeichen: "Hier wird kein deutscher Sonderweg der Erinnerung beschritten, sondern versucht, individuelle Erfahrungen mit dem Begriff einer gemeinsamen europäischen Geschichte zu verbinden."

Weitere Artikel: Das Literaturzentrum Neubrandenburg hat sich entschuldigt, zu DDR-Zeiten Autoren bespitzelt zu haben, berichtet Steffen Richter. Die Tatsachen waren natürlich längst bekannt, "hart am Rande eines Skandals" findet es Richter allerdings, "dass man diese Vorgänge in Neubrandenburg in den letzten 15 Jahren nur halbherzig öffentlich machte, lange Zeit zu übergehen und zu vertuschen versuchte". (Reaktionen auf den der Entschuldigung zugrunde liegenden Baumann-Bericht hier.) Harry Nutt berichtet über eine Hamburger Tagung, die versuchte, dem Intellektuellen eine neue Aufgabe zuzuweisen. Ina Hartwig schreibt zum Tod des österreichischen Schriftstellers Milo Dor. Und in Times Mager beklagt Hans-Jürgen Linke den schlechten Zustand der Stahlkufen von Nikolaus' Schlitten.

Besprochen werden die Ausstellung "blickdicht" mit Fotografien aus der arabischen Welt im Stuttgarter Institut für Auslandsbeziehungen und eine Aufführung von Hans-Werner Henzes "Bassariden" in Amsterdam - Peter Stein inszenierte, Ingo Metzmacher dirigierte, Holger Noltze jedoch ist nicht beeindruckt: "Staunend stehen wir vor den Wundern der Partitur. Verspielt wird aber die Dringlichkeit, die dieses Stück für eine Gegenwart entfalten könnte, die die Rückkehr der Götter nicht mehr nur als fernes Mythenspiel erfährt."

Tagesspiegel, 06.12.2005

Kai Müller und Jörg Wunder berichten über den Kulturkampf gegen französische Hip-Hop-Musiker, die wegen Volksverhetzung verklagt werden. "Von konservativen Politikern wird die Selbstdefinition von Rappern als soziales Gewissen vehement bestritten. 'Diese Musik richtet sich nicht an ein informiertes Publikum, das von den Aussagen abstrahieren kann', warnt der Abgeordnete Francois Grosdidier und macht in einer Strafanzeige Gruppen wie Lunatic, 113, Ministere Amer sowie die Musiker Smala, Fabe, Salif und Monsieur R direkt für die Gewalteskalation verantwortlich. Viele von ihnen sind seit Jahren nicht mehr im Geschäft. Man gewinnt den Eindruck, dass solche Worte den Dünkel, der die Migrantenkinder zu Franzosen zweiter Klasse stempelt, erst wirklich bestätigen. Überdies, bemerkte jüngst die Tageszeitung Le Monde, stammt der brutalste französische Song schon aus dem Jahr 1792: die Marseillaise."

Eberhard Spreng stellt das neue Museum für zeitgenössische Kunst in Paris-Vitry vor, das eine "kulturell selbstbewusste Banlieue" steht.

SZ, 06.12.2005

Wie ein kleiner Junge auf Entdeckerfahrt genießt Manfred Schwarz im Königlichen Museum für Schöne Künste in Brüssel die Panamarenko-Retrospektive. 100 Objekte des bastelnden Künstlers sind zu sehen, der nicht nur fantastische Flugapparate baut. "Auf dem Boden der Halle liegt auch das stählerne, monumentale 'Spitsbergen Duikboot', das er mit einem Dieselmotor versehen hat, der 'bis in alle Ewigkeit läuft, solange er nur genügend Sprit hat'. Schaut man sich dieses U-Boot, dessen Schweißnähte ein exotisches Gräten-Muster ergeben, aus der Nähe an, so meint man, in all den Beulen und Kratzern auf dem Stahlgehäuse die Spuren eines großen Jules-Verne-Abenteuers zu entdecken."

Weitere Artikel: Holger Liebs hat erfahren, dass Peter Schneider seinen schwarzen Kubus nun nach Venedig auch nicht in Berlin aufstellen darf. Morgen am Ambrosiustag startet die gebeutelte Mailänder Scala in eine neue Spielzeit, und Henning Klüver hofft, dass der im Mai bestallte Leiter Stephane Lissner seine Sanierungserfolge fortsetzen kann. Der Künstler und Leiter des Centre Overoth Jürgen Claus plädiert dafür, die Autobahnen zu privatisieren und sie mit Solarkonzentratoren zu säumen. Sonja Zekri meldet, dass das Moskauer Filmmuseum, wegen dessen Immobilie es bisher neun Morde gab, aus Geldmangel seine Pforten schließt. In einer Zwischenzeit zitiert Evelyn Roll aus politischen Weblogs. Lothar Müller schreibt zum Tod des ursprünglich aus Ungarn stammenden serbischen Autors Milo Dor. Christian Schütze präsentiert die neue Zeitschrift "Waldung", die sich auch aus feuilletonistischer Perspektive mit dem Wald beschäftigt.

Auf der Medienseite persifliert Hans Hoff bitterböse den Moderator Johannes B. Kerner, den er beim ZDF-Jahresrückblick "Menschen 2005" erlebt hat. "Im Modus 'Schicksalversteher' ist es empfehlenswert, wenn man die Kerner-Puppe mit Erzählungen von schrecklichen Ereignissen wie einem Tsunami füttert. Automatisch wechselt das ZDF-Modell dann in die Position 'schwere Betroffenheit', schafft aber geschmeidig den Dreh zum fröhlichen Kochen oder zu Veronas Hochzeit des Jahres."

Besprochen werden Hans Werner Henzes Euripides-Oper "Die Bassariden" in Amsterdam mit einem "gelassen klangsinnlich dirigierenden" Ingo Metzmacher, eine Schau über den Historiker Theodor Mommsen in der Berliner Akademie der Wissenschaften, die gewaltige aber "nicht richtig erhellende" Ausstellung "Lichtkunst aus Kunstlicht" im Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, Kief Davidsons und Richard Ladkanis Dokumentarfilm "The Devil's Miner", Elfriede Jelineks "Das Werk" in einer Strichfassung unter der Regie von Jan Ritsema am Stuttgarter Staatsschauspiel, und als Buch Ursula Schulzes Neuübersetzung des Nibelungenlieds (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 06.12.2005

Der Schriftsteller Viktor Jerofejew besucht die nordsibirische Stadt Norilsk, wo Zehntausende von Gulag-Häftlingen durch Zwangsarbeit ums Leben gebracht wurden: "Im Jahr 1935 traf die erste Häftlingsladung mit 1200 Mann in der neugegründeten Siedlung Norilsk ein. Es heißt, sie seien nahezu alle gestorben wie die Fliegen. Der Ort befand sich bis 1953 unter der Leitung des NKWD. Das wichtigste Gebäude der alten Stadt, die hauptsächlich aus Häftlingsbaracken bestand, war das sogenannte Fiese Haus, das Hauptquartier der Tschekisten, das bis heute einen gediegenen, einladenden und geradezu koketten Eindruck macht." (Gerne würden wir übrigens eine Reaktion Jerofejews zu Sonja Margolinas neulich vorgebrachtem Rassismus-Vorwurf lesen.)

Weitere Artikel: Jürgen Kaube kommentiert die Meldung, dass die Bodenseeregion lieber doch nicht ins Unesco-Welterbe aufgenommen werden will. Regina Mönch begrüßt die Veröffentlichung eines Dehio-Kunstführers über die Region Schlesien im heutigen Polen - der Führer wurde von deutschen und polnischen Kunsthistorikern gemeinsam erarbeitet. Ernst Horst berichtet von einer Festveranstaltung des Deutschen Museums zu hundert Jahren Relativitätstheorie. Anton Thuswaldner schreibt zum Tod des Schriftstellers Milo Dor. Und Jakob Strobel y Serra sagt dem Weltraumtourismus für Millionäre eine große Zukunft voraus: "Der Widerstand der chronisch klammen Raumfahrtbehörden gegen solche Feriengäste an Bord bröckelt längst, zu verlockend ist die Aussicht auf ein paar Millionen extra." Außerdem stellen FAZ-Redakteure auf zwei Seiten ihre Lieblingsbücher des Jahres vor.

Auf der Medienseite berichten Michael Hanfeld und Thomas Purschke über die zögernden Reaktionen des NDR auf die Stasi-Enthüllungen über den ARD-Sportchef Hagen Boßdorf.

Auf der letzten Seite schreibt Christian Schwägerl eine Hommage auf den Forschungsstandort Berlin: "Fünfzigtausend Menschen sind an Wissenschaftszentren beschäftigt, hundertvierzigtausend Studenten an drei Universitäten und den Fachhochschulen eingeschrieben. Die Hochschulen, siebzig Institute der großen Wissenschaftsorganisationen sowie Hunderte Technologiefirmen bilden den größten Wissenschafts-Ballungsraum Deutschlands. Acht von achtzig Max-Planck-Instituten und zwanzig von vierundachtzig Leibniz-Instituten liegen im Großraum Berlin." Außerdem bedauert Kerstin Holm die Schließung des Moskauer Filmmuseums, das kommerziellen Interessen weichen muss. Und Jürgen Kaube porträtiert den Philosophen und Erforscher von Tierseelen, Dominik Perler, einen der Leibniz-Preisträger des Jahres.

Besprochen werden Hans-Werner Henzes Oper "Die Bassariden" unter Ingo Metzmacher und Peter Stein in Amsterdam, die Ausstellung "Barock im Vatikan" in Bonn und eine neue Choreografie John Neumeiers in Hamburg.