Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.06.2004. In der taz erklärt Jan Philipp Reemtsma , warum die Ablehnung der Folter keine Frage der Moral, sondern vielmehr der Sittlichkeit sei. In der FAZ ruft Frank Schirrmacher eine epochale Wende aus: Schauspieler, die Nazis spielen, werden immer jünger. In der Welt zeigt sich Erika Steinbach festlich erregt über Horst Köhlers Liebe zu Deutschland und fordert eine Reparatur unserer "massiven Selbstwertdefekte". In der FR äußert Richard Wagner Zweifel an der Agora-Fähigkeit unserer Fußgängerzonen.

TAZ, 22.06.2004

In der Rubrik "Der lange Text" äußert sich heute Jan Philipp Reemtsma (mehr) zur Debatte über Folter in Deutschland, die es nach seiner Auffassung eigentlich nicht geben sollte. Trotzdem will er noch einmal klargestellt wissen: "Der gravierendste Fehler, der in der gegenwärtigen Diskussion unterläuft, ist der, die Frage nach dem Verbot der Folter für eine moralische Frage zu halten... Aber das Verbot der Folter gehört nicht in den Bereich der Moralität, sondern in den der Sittlichkeit. Es geht nicht um Regeln für das Verhalten Einzelner und ihr Verhalten im Einzelfall, sondern um die Verfassung des Gemeinwesens. Es geht dabei nicht um die Frage, wie jemand in dieser oder jener Situation handeln soll oder nicht, sondern darum, welche Normen gelten sollen, damit wir die sein können, die wir sein wollen."

In der tazzwei beobachtet Michael Streck den Medienrummel um Bill Clintons "epische" Biografie "My Life" und erklärt, weshalb sie nicht nur die alten Lager spaltet, sondern auch dem derzeitigen Präsidentschaftskandidaten John Kerry die Show stehlen könnte. Auf den Kulturseiten würdigt Jörg Becker den Schauspieler Peter Lorre anlässlich seines hundertsten Geburtstags und stellt dabei auch einige Beiträge - von Elfriede Jelinek und Georg Seeßlen - aus einem gerade erschienenen Buch über Lorre vor: "Peter Lorre - Ein Fremder im Paradies". Und auf der Wahrheitsseite erklärt uns der Schriftsteller Wolfgang Bortlik (mehr) die Schweizer Witzstruktur, beziehungsweise die diebischen Thurgauer, die großmäuligen Zürcher, die geizigen Basler und die beschränkten Fribourger.

Besprochen werden eine Ausstellung im Kunsthaus Dresden mit Arbeiten zum "Atomkrieg" und Franz Doblers Feuilletons "Sterne und Straßen". Kurzbesprechungen widmen sich schließlich Büchern von Thomas Medicus, Axel Marquardt, Thomas Glavinic und Tobias Hülswitt (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und hier Tom.

FAZ, 22.06.2004

Sechzig Jahre nach Kriegsende tritt die Beschäftigung der Deutschen mit Hitler "in eine neue Phase" ein, verkündet der begeisterungsfähige Feuilletonchef der FAZ, Frank Schirrmacher. "Im September 2004 und im Frühjahr 2005 werden zwei spektakuläre Filmproduktionen das Personal des Dritten Reichs inszenieren": Oliver Hirschbiegel, der die letzten Tage in der Reichskanzlei zeigt (mit Bruno Ganz als Adolf Hitler, mehr hier) und Heinrich Breloers halbdokumentarischer Film über Albert Speer (mit Sebastian Koch als Speer und Tobias Moretti als Hitler, mehr hier). Beide Filme "sind - so verschieden die Zugangsweisen auch sein mögen - die wichtigsten Geschichtsprojekte seit Jahren. Die Verantwortung ist immens. Die Chance besteht darin, den vergifteten Bildern und Inszenierungen der Nazis die eigene Interpretation entgegenzustellen. Es ist der Zugriff einer neuen Generation, die plötzlich erkennt, dass die Täter des Dritten Reichs jünger waren, als die Angehörigen dieser Generation heute sind: Die Schauspieler der beiden Filme sind heute in dem Alter, in dem die Täter des Dritten Reichs gewesen waren, als es unterging - fast alle noch längst keine fünfzig Jahre alt."

Weitere Artikel: Die Katholiken wagen ihre Symbole nur noch nebulös anzudeuten, klagt Stefan Klöckner, Spezialist für Gregorianik und Liturgie, nachdem er die Abschlussmesse des Ulmer Katholikentages im Fernsehen gesehen hat. Sonia Gandhi konnte die Wahlen in Indien gewinnen, weil sie um die Stimmen der Jungen kämpfte, die sonst niemanden interessieren, meint Martin Kämpchen - und das in einem Land, in dem 54 Prozent der Bevölkerung unter 25 Jahre alt sind. "Strahlendes Theater" hat Erna Lackner bei den Wiener Festwochen gesehen.

Auf der letzten Seite porträtiert Günter Platzdasch den Eherechtler Dieter Schwab, dem die Universität Jena kürzlich die Ehrendoktorwürde verliehen hat. Luxemburg verliert seinen guten Ruf als Klimaschützer, seit es den Tanktourismus der Deutschen fördert. Jetzt muss es sogar Kohlendioxydzertifikate zukaufen, berichtet Hans-Jochen Luhmann. Paul Ingendaay schwärmt vom Festival alter Musik in Aranjuez.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien von Jim Dine in Köln, Rossinis "La Cenerentola" an der Oper Frankfurt, eine Ausstellung illuminierter Handschriften und früher Drucke zu Seneca in der Florentiner Biblioteca Medicea und Calixto Bieitos Inszenierung von Mozarts "Entführung aus dem Serail" an der Komischen Oper Berlin (erschütternd, aber es gab, schreibt Eleonore Büning, "auch tröstliche Fensteröffnungen in dieser hermetisch geschlossenen Inszenierung für den ulkigen Augenblick und jene kleinen Dinge, die auch noch im finstersten, falschesten Leben zum Lachen sind: Pedrillo, der seinen Herrn, der vor Sehnsucht gerade gesanglich verglüht, verkleidungshalber in lange Lederstiefel eintütet.")

NZZ, 22.06.2004

Markus Bauer erinnert in einem kundigen Artikel an den Impresario Abraham Goldfaden, der zu einem Begründer des jiddischen Theaters in Osteuropa wurde. Ihm gilt ein Festival (das allerdings schon eine Weile zurückliegt) in der ostrumänischen Stadt Iasi: "Das von Goldfaden begründete jiddische Theater erlebte bis zu den Vernichtungsfeldzügen im Zweiten Weltkrieg eine hohe künstlerische Blüte, die unter anderem Kafka zu seiner berühmten 'Conference' für die Truppe des Schauspielers Löwy veranlasste... Bis heute hat Rumänien eine der wenigen ununterbrochen aktiven jiddischen Bühnen aufzuweisen, das Bukarester Teatrul Evreiesc de Stat, dessen Gründung auf Goldfadens ersten Auftritt 1876 in der Hauptstadt zurückgeht und das auf dem Festival in Iasi mit Dürrenmatts 'Oper einer Privatbank' vertreten war."

Weitere Artikel: Das dienstägliche "Lesezeichen" widmet Barbara Villiger Heilig Helene Lenoirs Roman "Unter meinem Dach". Markus Jakob resümiert das "Sonar"-Festival in Barcelona. Besprochen werden Konzerte Alfred und Adrian Brendels bei der Schubertiade Schwarzenberg und Mozarts "Entführung aus dem Serail" in der Komischen Oper Berlin in der Inszenierung Calixto Bieitos (der Marianne Zelger-Vogt "schonungslose Realistik und unüberbietbare Brutalität" attestiert).

FR, 22.06.2004

Auf der Medienseite untersucht Richard Wagner das Phänomen, wie die Medien uns tagtäglich vorgaukeln, unsere Meinung sei wirklich gefragt. "Die Fußgängerzone ist an die Stelle der Polis getreten. In der Fußgängerzone ist man geschäftlich unterwegs, man lässt sich beiläufig auf eine Umfrage ein. Das Plebiszitäre erweckt den Anschein, dass man sich für die Meinung des Einzelnen interessiert, dass diese berücksichtigt wird. Umfragen sollen legitimieren. Was aber legitimieren sie noch?"

Der Kulturteil gibt sich heute dagegen eher schlank. Für Times mager hat Elke Buhr Berichte und Rezensionen der Biografie von Bill Clinton gesichtet und - tja, was? - gefunden? "Die New York Times, die auch die 800 Seiten gelesen hat, die nicht von Monica Lewinsky handeln, findet Clintons Buch übrigens schlampig, selbstgefällig und oft zum Schielen dumm" (nachzulesen hier).

Besprochen werden eine Inszenierung von Rossinis "La Cenerentola" durch Keith Warner an der Oper Frankfurt und Christiane Paulhofers Inszenierung des "Lulu"-Updates von Moritz vom Uslar am Bochumer Schauspielhaus. Im Rahmen der Besprechung werden übrigens - in Anspielung auf Uslars Heimspiele im Magazin der Süddeutschen - 10 (fiktive) Fragen an den Autor gestellt, "auch wenn wir mehr Zeit hätten".

Welt, 22.06.2004

In der Welt hält die festliche Erregung über Horst Köhlers Bekenntnis seiner Liebe zu Deutschland an. Heute meldet sich in dieser Sache Erika Steinbach zu Wort, die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen und Streiterin für ein Zentrum gegen Vertreibungen. Sie nimmt allerdings nicht bezug auf die sehr harsche Polemik gegen dieses Projekt aus Polen und Tschechien, sondern beklagt die "massiven Selbstwertdefekte" der Deutschen und fährt fort: "So nötig es für uns Deutsche ist, sich mit dem finsteren Teil der eigenen Geschichte auseinander zu setzen und sich der Verantwortung dafür nicht zu entziehen, so nötig ist es ebenso, die faszinierenden positiven Seiten unseres Volkes wieder zu entdecken und den Mut zu gewinnen, stolz zu sein."

SZ, 22.06.2004

Als "klassischen Underdog", aber auch als eine Figur, ohne die "ein Tony Blair oder ein Gerhard Schröder nicht denkbar gewesen wären", zeichnet Stefan Kornelius Bill Clinton, dessen Biografie "My Life" heute in den USA erscheint. "Bill Clinton ist ein Besessener. Er ist besessen von der Figur Bill Clinton. Mit ihrer Wirkung nach außen, ihrer manipulativen Kraft, der schmeichelnden, einlullenden rhetorischen Gewalt... Eine zweifellos selbstsichere, aber sicher auch verzweifelte Persönlichkeit. Gerade erfährt die Welt von seiner psychotherapeutischen Suche nach seinem Ich. Aber da gibt es keinen neuen Clinton. Da ist immer der kleine Junge aus Hope, der mit sich und seiner Welt ringt, am liebsten in aller Öffentlichkeit."

Weiteres: Gottfried Knapp zeichnet anlässlich der heutigen "Himmelfahrt" von Kreuz und Turmknauf, die der Dresdner Frauenkirche zu ihrer endgültigen Höhe verhelfen, noch einmal die Geschichte dieses beispiellosen Wiederaufbaus nach. Sonja Zekri informiert darüber, dass sich der Zentralrat der Juden künftig zur Flick-Collection nicht mehr äußern wolle. Man habe "nie gefordert, dass die Bilder nicht gezeigt werden" sollten, und wolle auch "der Sammlung nicht den Koscher-Stempel aufdrücken". Über das "Princeton des Ostens", das Collegium Budapest und seine Projekte berichtet Tim. B. Müller. In einer Glosse huldigt "zig" der Umfrage als "Schutzwall wider die schlimme Heimat- und Identitätslosigkeit" und findet, dass man in diesem Zusammenhang die neueste Umfrage von Reader's Digest zur Beliebtheit der einzelnen Völker "nicht genug rühmen" könne. Andreas Bernard gratuliert dem Germanisten Gerhard Neumann zum siebzigsten Geburtstag. Außerdem erfahren wir, dass der Schriftsteller Jonathan Franzen laut Selbstauskunft täglich gleich zweimal aufsteht.

Julia Encke berichtet von einer Bochumer Podiumsdiskussion über das Leben im Osten, auf der sich die Diskutanten Inge Viett (mehr) und Ingo Schulze (mehr) "sehr nett" gefunden hätten. Adrienne Braun resümiert ein Symposium an der Stuttgarter Akademie Schloss Solitude über "Die Stunde der Wahrheit - Eine Typologie des Auftritts". Tobias Timm berichtet über eine Tagung im Berliner Haus der Kulturen der Welt, auf der über die "Festivalisierung der Metropolen" diskutiert wurde. Marcus Jauer informiert über eine zeitlich begrenzte kulturelle Zwischennutzung des Palasts der Republik, und auch in der Kolumne Zwischenzeit geht es um die "potthässliche Schwäre im Berliner Stadtbild".

Besprochen werden eine Ausstellung über Ihre Kaiserliche Hoheit Maria Pawlowna, eine Enkelin Katharina II., in der Stiftung Weimarer Klassik, eine Ausstellung neuer Arbeiten von Olafur Eliasson im Kunstmuseum Wolfsburg, Peter Konwitschnys Inszenierung des "Fliegenden Holländer" am Moskauer Bolschoi-Theater, ein Konzert des Pianisten Jewgenij Kissin in der Münchner Philharmonie und Bücher, darunter der Roman "Hilfsverben des Herzens" des Ungarn Peter Esterhazy, Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, eine Abhandlung über das Zeitalter Leopolds I. (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).