Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.06.2004. In der SZ zeigt der Historiker Egon Flaig am Beispiel der Geschichte der Sklaverei einige Vorzüge des westlichen Univeralismus auf. In der FR porträtiert Matthias Hartmann den lettischen Theaterregisseur Alvis Hermanis. In der taz stellt Fatima Mernissi eine marokkanische Internetzeitschrift vor. In der Welt bekennt Herta Müller: "Ich glaube, Sprache gibt es nicht." In der FAZ unterhalten sich vier Intellektuelle über den Westen, die Intellektuellen und den Islam.

FR, 23.06.2004

Lettland hat es besser, seufzt Regisseur Matthias Hartmann. Die haben nämlich erstens kein funktionierendes kapitalistisches System und zweitens den Theaterregisseur Alvis Hermanis: "Alvis Hermanis stößt mit seinen musikalischen und empfindungsreichen Inszenierungen ein Fenster in die Zukunft auf. Die Töne, die durch es hereindringen, sind feiner und poröser als jene, die das Theater oft als ein Lebensgefühl aus dem Datenspeicher herunterlädt. Alvis Hermanis' Bühnenmusiken sind kein Ausdruck ihrer Zeit, sie sind selbst die Zeit, sie sind Kunstwerke. Es gibt niemanden, vor dem Hermanis Angst hat, keinen Markt und kein Termin. Darum beneide ich ihn."

Martin Lüdke wollte zur georgischen Buchmesse. Als er in Tiflis ankam, wurde sie aber leider verschoben. So erzählt er ein bisschen über Land und Leute und erklärt, was die Georgier unter einer "deutschen Tante" verstehen. Stefan Klein berichtet über die Bonner Biennale. In Times Mager meditiert Georg Kühn über Klagenfurt.

Besprochen werden die Ausstellung "Die zehn Gebote" im Dresdner Hygienemuseum und Calixto Bieitos umstrittene Inszenierung von Mozarts "Entführung" an der Komischen Oper Berlin. Eine Meldung verkündet, dass der für das Sponsoring zuständige Berater von DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp die Premiere der "Entführung" "empört" vorzeitig verließ und jetzt dem Konzern empfehlen wird, sein Sponsoring der Komischen Oper einzustellen. Bisschen piefig für einen Weltkonzern, genauso wie die Höhe der Fördersumme: 20.000 Euro im Jahr.

Welt, 23.06.2004

Auf einen höchst frappierenden Gedanken kommt die Schriftstellerin Herta Müller im Gespräch mit Ulrike Ackermann: "Ich glaube, Sprache gibt es nicht. Mir ist es bis heute nicht gelungen zu begreifen, was Sprache ist. Sprache ist für mich immer das, was in einer Situation passiert. Es wird ja nicht jenseits der Handlung, jenseits des Geschehens gesprochen. Sprache ist eine Begleiterscheinung dessen, was passiert. Und das was passiert, bestimmt natürlich das, was gesprochen wird. Die Definition von Jorge Semprun finde ich sehr einleuchtend: 'Heimat ist nicht die Sprache, sondern das, was gesprochen wird'. Und das, was gesprochen wird, wird auch getan."

TAZ, 23.06.2004

Was soll man sich als Tourist in Marokko außer antiken Schlangenbeschwörern noch ansehen? Internetcafes, meint die Schriftstellerin Fatima Mernissi (homepage). Es gibt sogar einen Führer: "Die Experten der Vereinten Nationen, die den düsteren 'Arab Human Development Report' verfasst haben, beschreiben eine arabische Jugend, die von den neuen Technologien abgeschnitten ist, weil sie angeblich keine Fremdsprachen spricht. Sie hatten offensichtlich noch nie eine Ausgabe des Dalil al-Internet vor der Nase, ein Meisterwerk an Pfiffigkeit und Innovation, ausgebrütet von drei Grundschullehrern aus Agadir und einem Universitätsprofessor aus Marrakesch." Die Zeitschrift hat einen enormen Erfolg, "weil sie, so die Zeitungsmacher, auf die drei Hauptinteressen der Jugend eingeht. Vorneweg steht das Bedürfnis, eine für die neuen Technologien geeignete Ausbildung zu erwerben - vor allem der Wunsch, im Selbststudium Fremdsprachen zu erlernen sowie sich Computerkenntnisse anzueignen. An zweiter Stelle steht die Suche nach Arbeit, dicht gefolgt von der nach dem richtigen Ehepartner." Der Text ist ein Auszug aus ihrem neuen Buch "Die Sindbads von Marokko - Eine Reise in Marokkos Zivilgesellschaft". Es erscheint im Oktober auf Italienisch bei Giunti Editore, Florenz.

Besprochen werden Moritz von Uslars "Lulu" am Schauspielhaus Bonn und Erich Hackls Buch "Anprobieren eines Vaters" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

SZ, 23.06.2004

Im Aufmacher blickt der Historiker Egon Flaig auf die Geschichte der Sklaverei im Westen und in der islamischen Welt: "Die Europäer importierten binnen 350 Jahren über 11 Millionen Versklavte nach Amerika; der Import in die moslemische Welt betrug allein von 650 bis 1600 etwa 7,2 Millionen; andere schätzen die Gesamtzahl auf 14 Millionen, wieder andere auf rund 11,5 Millionen." Heute wird die Zahl der Menschen, die unter sklavenähnlichen Bedingungen leben, auf 20 Millionen geschätzt, besonders brutal ist die Sklavenjagd im Sudan. So will Flaig festgehalten wissen: "Es war der europäische Kolonialismus, der den Sklavenhandel fast gänzlich zum Erliegen brachte. Nur weil der Abolitionismus innerhalb der westlichen Kultur enorme Anstrengungen unternahm und schließlich obsiegte, ist die Sklaverei überhaupt zu einem menschenrechtlichen Thema geworden. Denn weder im Koran, noch in der Bibel, noch in der Tora, noch in sonst einem heiligen Buch ist die Sklaverei ein Verbrechen; einzig ein an modernen westlichen Werten orientierter Universalismus macht sie dazu. Wer die Sklaverei anklagt, ohne den politischen Universalismus westlicher Prägung zu akzeptieren, heuchelt."

Weitere Artikel: Jürgen Königsdorf kann es noch immer nicht ganz glauben, dass Sebastian Baumgarten, dieser "schlacksige Spätfrühstückertyp", die "neue Lichtgestalt der deutschen Operszene, der Erbe der Berghaus, der Konwitschny seiner Generation" ist. Henning Klüver begrüßt die Gründung eines Europäischen Kulturzentrums in Genua. Jürgen Otten berichtet vom 32. Istanbuler Musikfestival. Alexander Menden meldet: das neue Konzept der Bonner Biennale funktioniert. Und Johannes Willms hat bei einem Europa-Kolloquium der Friedrich-Ebert-Stiftung in Paris keine europäischen Funken verspürt.

Alexander Kissler bringt uns in der causa Gerhard Besier auf den neuesten Stand: In einer offenen Erklärung wird vom Direktor des Hannah-Arendt-Instituts der Rücktritt oder die Rückgabe des Namens gefordert, unterzeichnet von den Hannah-Arendt-Preisträgern Daniel Cohn-Bendit und Freimut Duve, dem Direktor des New Yorker Hannah-Arendt-Center , Jerome Kohn, der Leiterin des Hannah-Arendt-Zentrums der Universität Oldenburg, Antonia Grunenberg und der Herausgeberin der Werke, Marie Luise Knott. Peter Jahn, Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst erinnert an den Beginn der sowjetischen Operation "Bagration" vor sechzig Jahren, in deren Folge die Wehrmacht ihre größte Niederlage erlitt.

Besprochen werden Brian Wilsons neues Album "Gettin' In Over My Head" (das Karl Bruckmaier einen echten Schlag versetzt hat: " Und während man noch laut und betont sarkastisch lacht und keckert über diesen Wahnsinn, kommt 'Fairy Tale' auf einen zu wie Amors Pfeil, wie Tells Geschoss, wie Mike Tysons Rechte und trifft einen in Herz, Hirn und Fresse, acht, neun, aus.") und Bücher, darunter John Horne und Alan Kramers Werk "Die deutschen Kriegsgräuel 1914", Antonio Lobo Antunes' Roman "Was wird ich tun, wenn alles brennt" und Andre Acimans Essays "Hauptstädte der Erinnerung" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr). 

NZZ, 23.06.2004

Sieglinde Geisel gratuliert dem Grimmschen Wörterbuch zum Hundertfünfzigsten. Joachim Güntner resümiert den Streit um Günter Nookes Konzept für eine veränderte Förderung der deutschen Gedenkstätten, dem eine Relativierung der Nazi-Verbrechen vorgeworfen wird. Paul Müller schreibt zum Tod des Kunsthistorikers George Mauner. Besprechungen gelten der Bonner Biennale mit amerikanischem Theater und einigen Büchern, darunter der bisher nur auf englisch erschienen Biografie Tschiang Kai-scheks von Jonathan Fenby "Chiang Kai-shek - China's Generalissimo and the Nation He Lost" und Alfred Kerrs Novelle "Der Dichter und die Meerschweinchen".

Berliner Zeitung, 23.06.2004

Philosoph Slavoj Zizek erkennt in den Ereignissen von Abu Ghraib nicht nur einfach "ein Beispiel für die Arroganz der Amerikaner gegenüber einem Volk der Dritten Welt. Sondern indem die irakischen Gefangenen der erniedrigenden Folter unterzogen wurden, erhielten sie tatsächlich eine Initiation in die amerikanische Kultur, bekamen sie ihre obszöne Unterseite zu spüren, die die notwendige Ergänzung zu den öffentlich vertretenen Werten von Menschenwürde, Demokratie und Freiheit darstellt." Sein Beweis: Francis Ford Coppolas "Apocalypse Now". "In der Figur des Kurtz wird der Freud'sche Urvater - das obszöne, keinem symbolischen Gesetz unterworfene Genießen des Vaters, der absolute Herr und Meister, der es wagt, sich dem Realen des grauenerregenden Genießens unmittelbar zu stellen -, nicht als Überbleibsel einer barbarischen Vergangenheit präsentiert, sondern als notwendiges Ergebnis der modernen westlichen Macht." Naja, und so weiter.

FAZ, 23.06.2004

Auf Seite 3 unterhalten sich der Romanist Hans-Ulrich Gumbrecht, der NZZ-Feuilletonchef Martin Meyer und der FAZ-Redakteur Henning Ritter unter Moderation Frank Schirrmachers über die Intellektuellen und die Herausforderung durch den Islamismus. Als einsamer Verteidiger des Westens erweist sich dabei Gumbrecht. Er kritisiert die europäische Selbstreflexivität, "wenn sie selbst die Werte des Liberalismus liberalisiert und relativiert: So werden diese Werte für ein Umkippen in ihr Gegenteil freigegeben." Henning Ritter meint dagegen: "Wir glauben immer noch an die eine Menschheit der Aufklärung und erliegen dabei einem Irrtum." Martin Meyer beklagt unser Verhältnis zum Tod, der "soziokulturell nichts mehr ist, was uns ans Herz geht. Die gläubigen Muslime haben eine ganz andere Vision davon; wenn sie Selbstmordkandidaten aufbieten, dann ist das die Nobilitierung des Todes durch das große Opfer für den Lohn im Jenseits wie möglicherweise im Diesseits". Und Frank Schirrmacher ruft, nach der Skizze eines bin Laden, der im Wüstensand sitzt, mit dem Hirtenstab Punkte auf der Landkarte markiert und würdig mit Sinnesgenossen plaudert: "Dieser Mann hat nicht mehr Instrumente als das, was vor ihm liegt, und er hat damit die Welt revolutioniert. Der Urtraum des Intellektuellen."

Weitere Artikel: Nur eine Meldung, aber interessant: Mäzene werden zu Zensoren, berichtet Eleonore Büning: Daimler Chrysler verlässt den "Freundeskreis" der Komischen Oper Berlin, weil der Konzern mit Calixto Bieitis brutalistischer Inszenierung von Mozarts "Entführung" nicht einverstanden ist. "Bei dem fraglichen Förderbetrag handelt es sich um eine Summe von 20.000 Euro." Dieter Bartetzko berichtet im Aufmacher, dass der äußere Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche vollendet ist, und er begeht etwas skeptisch "eine minuziöse, fast lückenlose Inszenierung des Einst". Richard Kämmerlings mokiert sich in der Leitglosse über die so blendende Stimmung in der deutschen EM-Mannschaft angesichts bisher eher zweifelhafter Leistungen. Andreas Rossmann sieht sich amerikanische Theaterstücke auf der Bonner Biennale an. Jordan Mejias berichtet über die Wiedereröffnung des Noguchi Museums in Queens das dem Oeuvre des Designers und Künstlers Isamu Noguchi gewidmet ist. Und F.P. schreibt zum Tod des Schriftstellers Hanns Cibulka.

Auf der Medienseite weist Verena Lueken auf ein bemerkenswertes, in internationaler Koproduktion gefertigtes Porträt über Osama bin Laden hin, das heute Nacht zur publikumsfreundlichen Zeit von 0 Uhr in der ARD läuft. Michael Hanfeld berichtet, dass der Deutsche Journalistenverband wegen eines Streits gleich zwei Landesverbände ausschließt. Jürg Altwegg verfolgt die Spuckaffäre um die EM-Spieler Alex Frei und Steven Gerrard im Schweizer Fernsehen. Und sup. meldet, dass sich die SZ durch den Verkauf ihres Redaktionssitzes in der Münchner Sendlinger Straße (den sie nunmehr mieten muss) flüssig macht.

Auf der letzen Seite erinnert Karsten Plöger in einem historischen Hintergrund an den Hanover Club, in dem britische und deutsche Studenten sich vor dem Ersten Weltkrieg für eine Verständigung der beiden Länder einsetzten. Birgit Svenson hat sich die erste Inszenierung am Nationaltheater am Sahat al Fateh, am "Platz der Eroberungen" in Bagdad angesehen, ein Stück des Autors Raji Abdulla: Es handelt von dem Schiiten Jawad Sayed Al Amiri, der im Krieg gegen den Iran nicht gegen seine Glaubensgenossen kämpfen wollte und sich zwanzig Jahre lang in einem Erdloch versteckte. Und Wolfgang Sandner porträtiert den Künstler Gabor Török, den Erfinder des Frankfurter Theater- und Veranstaltungshauses Theater 695.

Besprochen werden Takeshi Kitanos neuer Film "Zatoichi" (den Andreas Platthaus als Meisterwerk begrüßt) und das Sonar-Musikfestival in Barcelona.