Magazinrundschau

Das Kunstwerk im neuen Jahrtausend

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
30.06.2015. Hat die Literatur gerade ihren Duchamp-Moment, fragt The New Republic. Und welchen Einfluss haben Schreibtechnologien auf die Literatur, fragt Le Monde. Buzzfeed erklärt, warum die Vergewaltigungen von Frauen unter den Roten Khmer nie bestraft wurden: Sie waren als Eheschließungen getarnt. Boko Haram ist nicht das einzige Problem Nigerias, notiert die NYRB. H7O skizziert die Stellung der Literatur in der Ukraine. Die Reformideen der 60er Jahre gewinnen, freut sich das New York Magazine.

New Republic (USA), 22.06.2015

Ben Lerner, Michel Houellebecq, Sheila Heti, Siri Hustvedt, Orhan Pamuk - immer mehr Autoren beschäftigen sich mit Kunst, stellt Shaj Mathew fest. Mehr noch, sie betrachten ihre Bücher selbst als Konzeptkunst. Hat die Literatur gerade ihren Duchamp-Moment? Als Beispiel nimmt Mathew den neuen Roman von Enrique Vila-Matas, "The Illogic of Kassel", der die Erfahrungen des spanischen Autors auf der Documenta 2013 beschreibt, als er - wie ein lebendes Kunstwerk - in einem chinesischen Restaurant sitzen und schreiben sollte. "In "The Illogic of Kassel" wiederholt Vila-Matas immer wieder einen Satz, den einst Mallarmé zu Manet gesagt hat: "Malen Sie nicht den Gegenstand, sondern die Wirkung, die er hat." Mit anderen Worten, die Wirkung, die Kunst hat, ist jetzt wichtiger als die Leinwand. Es überrascht nicht, dass dieser Satz im Roman so oft wiederholt wird: Vila Matas malt in seinem Roman nämlich sehr deutlich die Wirkung aus, die Kunst hat. Der Leser hat uneingeschränkten Zugang zu seinem reichen Innenleben - all seine Ängste, Ansichten und Erfahrungen beim Betrachten der Installationen auf der Documenta. Tatsächlich verlangt Vila-Matas einen aktiven Leser, so wie die Installationen der Konzeptkunst auf der Documentea eine Beteiligung des Betrachters fordern, um eine Bedeutung zu erlangen. ... Mit konkurrierenden Interpretationen zu ringen, die eigenen Assoziationen, Gefühle, Theorien verarbeiten, das ist das Kunstwerk im neuen Jahrtausend."
Archiv: New Republic

Le Monde (Frankreich), 30.06.2015

Mit Gewinn liest Hubert Guillaud für Le Monde Thierry Crouzets als Ebook publizierten Essay "La mécanique du texte", der sich mit dem Einfluss der Schreibtechnologien auf literarische Formen befasst: "In großen Linien breitet Crouzet diese mechanische Geschichte der Literatur aus, auch die stürmische Geschichte der Beziehung der Autoren zu den Computern: Für ihn beginnt das Genre des Thrillers mit der Textverarbeitung neu zu blühen, die das nicht chronologische Schreiben begünstigt, während der klassische Krimi, der mit der Schreibmaschine verfasst wurde, geradeaus voranschritt, mit einer Hauptperson und einer linearen Geschichte. Die meisten heutigen populären Romane könnten Satz für Satz getwittert werden, ohne dass ein Satz gekürzt werden müsste, betont er noch. Zeichen einer grundlegenden Tendenz, für die Twitter eher das Symptom als die Ursache wäre."
Archiv: Le Monde

Buzzfeed (USA), 23.06.2015

Das Ausmaß der sexuellen Gewalt, die gefangenen kambodschanischen Frauen unter dem Regime der Roten Khmer systematisch angetan wurde, ist noch kaum bekannt. Hinzu kommt die Demütigung, dass diese Gewalt kaum anerkannt, geahndet und aufgearbeitet wurde, wie Jina Moore auf Buzzfeed berichtet: Überhaupt erst seit wenigen Jahren werden diese Verbrechen auf Initiative der deutschen Anwältin Silke Studzinsky verfolgt. Verborgen blieben diese Verbrechen in Kambodscha "vor allem, weil sie im Nachhinein falsch eingeschätzt wurden- nicht als Vergewaltigung, sondern als Eheschließung. ... In den Gerichten war sexuelle Gewalt aus zwei Gründen unsichtbar: Die Roten Khmer untersagten Vergewaltigungen per Gesetz, was unter den Ermittlern zu der Annahme führte, dass Geschichten wie die der Überlebenden Chan eine von der Regierung bestrafte Ausnahme darstellten und keineswegs eine gezielte Maßnahme, um Schrecken zu verbreiten. Und die Roten Khmer - sowie die Historiker, die später darüber schreiben sollten - machten nie sonderlich deutlich, was es mit den "arrangierten Eheschließungen" im Sinne der Partei auf sich hatte. Studzinsky aber, die sich bereits in der Vergangenheit mit solchen Angelegenheiten befasst hat, durchschaute, dass das wahre Verbrechen hinter bürokratischer Sprache verborgen wurde."
Archiv: Buzzfeed

New York Review of Books (USA), 09.07.2015

Wer wissen will, wie Boko Haram entstanden ist, die islamistische Terrorgruppe, die Nordnigeria tyrannisiert, dem empfiehlt Joshua Hammer ein Buch des Lagos-Korrespondenten der Agence France Presse, Mike Smith: "Boko Haram: Inside Nigeria"s Unholy War". Ob der neue Präsident Nigerias, Muhammadu Buhari, Boko Haram besiegen kann und das Land in eine bessere Zukunft führen kann? Hammer, der selbst seit vielen Jahren Afrika-Korrespondent ist, bleibt skeptisch. Denn die Probleme Nigerias, als zehntgrößter Erdölproduzent der Welt eigentlich stinkreich, sind gewaltig: "In den ersten vierzig Jahren [seit der Unabhängigkeit 1960] saugte eine Serie von Militärdiktaturen Milliarden Dollar aus den Ölverkäufen ab und schuf so eine Kultur der Korruption, die die Gesellschaft durchdrang. Die Zivilisten, die Nigeria seit 1999 regieren, erwiesen sich als genauso unehrlich. ... Letztes Jahr beschuldigte Lamido Sanusi, damals Chef der nigerianischen Zentralbank, Nigerias National Petroleum Corporation - die Agentur, die das Öl des Landes kauft, verkauft, reguliert und produziert - in einem Jahr, zwischen 2012 und 2013, Erlöse aus dem Öl in Höhe von 18,5 Milliarden Dollar abgezweigt zu haben. "Es ist ein einziger Betrug", sagte Sanusi (mehr im Guardian). Wochen später wurde Sanusi gefeuert, was eine Welle von Protesten in Nigeria auslöste. Nach Schätzungen sollen die Führer des Landes seit der Unabhängigkeit 400 Milliarden Dollar gestohlen haben."

Außerdem: Richard J. Evans stellt Neuerscheinungen zu den Konzentrationslagern der Nazis vor.

H7O (Tschechien), 24.06.2015

Anlässlich der Brünner Literaturtage erzählt der Übersetzer, Autor und Ukrainist Alexej Sevruk im Gespräch mit Zdeněk Staszek von der ukrainischen Literaturszene: "Autorenlesungen sind in bestimmten Kreisen schwer in Mode. Die Leser und ihre Schriftsteller bilden eine Gemeinschaft, die subkulturelle Züge trägt. Diese Subkultur repräsentiert ein aufgewecktes, interessiertes Segment der Gesellschaft. Es besucht Festivals, Messen, Clubs, Buchhandlungen und öffentliche Säle. Etwas zugespitzt sagt man, dass der Majdan von Lesern gemacht wurde, im Unterschied zur passiven Mehrheit, die die Geschehnisse auf dem Kiewer Platz der Unabhängigkeit im Fernsehen verfolgt hat. Andererseits gibt es in der Ukraine immer noch das Sprichwort: "Wer viel liest, der viel sündigt", und die einfachen Leute begegnen Lesern mit Misstrauen. So eine hermetische Gesellschaft mit subkulturellen Zügen ist verdächtig - was ziehen die sich da vor der Welt zurück und vollführen irgendwelche geheimen Rituale? Die Ausfälle gegen Intellektuelle (von links und rechts) erinnern an mittelalterliche Hexereibezichtigungen."
Archiv: H7O

London Review of Books (UK), 02.07.2015

Im Krieg um Syrien und Irak mischen so viele innere und äußere Akteure mit, dass die Region in einen dreißigjährigen Krieg versinken könnte, ganz so wie Mitteleuropa im 17. Jahrhundert, fürchtet Patrick Cockburn, der bei seiner Reise durch die Region auch mit Kämpfern des Islamischen Staats gesprochen hat. Zum Beispiel über die Freiwilligen aus Europa: "Faraj sagt, dass er vielen Kämpfer aus Großbritannien, Frankreich und der Türkei begegnet ist, von denen einige gut Arabisch sprachen. Beeindruckt haben sie ihn nicht: "Ich kenne viele aus den Golfstaaten, Europa und Australien, sie kämpfen für Waffen, Ruhm, Frauen und Geld." Als er Freiwillige aus Europa fragte, warum sie in Syrien seien, sagten sie ihm, dass ihr Leben zu Hause mies oder einfach langweilig sei. Viele fanden auch "spirituelle Erfüllung im Islam", doch Faraj meint, dass es sich bei denen oft um Konvertiten handelte, die wenig vom Islam und den lokalen Gebräuchen wüssten. Die ausländischen Kämpfer, sagt er, werden vor allem für Selbstmordattentate und Propaganda benutzt, "für die Kämpfe brauchen wir die Einheimischen"."

Weiteres: August Kleinzahler huldigt John Berryman, der mit dreißig wie alle großen amerikanischen Nachkriegsdichter so heftig zu dichten wie zu trinken begann. Ian Penman schreibt über Frank Sinatra, der das Ende des Tages nicht ertragen konnte.

Guardian (UK), 26.06.2015

Am 1. Januar 2016 werden Paris und seine Vororteverwaltungstechnisch zur Métropole du Grand Paris zusammengeschlossen, doch die große Mauer zwischen der Stadt und ihren Banlieues, der Périphérique, dieses Bollwerk gegen Preußen und Proletarier, wird sich nicht so schnell abtragen lassen, fürchtet Justinien Tribillon: "Die Trennung von Paris und seinen Vororten reicht tiefer zurück als bis zum Bau der Autobahn in den siebziger Jahren. Um die Bedeutung zu verstehen, muss man zu Napoleons Sturz zurückgehen. Im März 1814 wurde Napoleon in der Schlacht bei Paris geschlagen und die preußischen Truppen stürmten die Stadt. In der Folge beschlossen König Louis-Philippe und der französische Premierminster Adolphe Thiers Paris in eine Festung umzubilden und die Stadt vor jedem weiteren Eindringen zu schützen. Sie veranlassten in den vierziger Jahren den Bau der Stadtbefestigung - womit sie einen eher mittelalterlichen Ansatz der Stadtplanung verfolgten ... Die Zerstörung der Festungsanlagen wurde 1882 geplant, doch erst 1919 begonnen und 1929 abgeschlosssen. Zum Vergleich: Berlin hat seine letzten Festungen 1740 zerstört, London 1760." (Die Karte zeigt rot das innerstädtische Paris mit seinen zwanzig Arrondissements, das mit über hundert Kommunen der engeren Banlieue zusammengelegt werden soll.)

Sam Leith stöhnt über die Verflachung der Sachbücher, die große Publikumsverlage fast nur noch im Gewand großer Ideen druckten, meist von Malcolm Gladwell, Daniel Kahneman oder Nicholas Carr: "Es sind Bücher, über die man redet: Sie sind leicht nachzumachen, die Inhaltsangaben tendieren zum Kategorischen und können bei jedem Abendessen in einem Satz zusammengefasst werden oder in einem Artikel mit 900 Wörtern; sie stützen sich - modisch, aber vage - auf ein poptheoretisches oder neurowissenschaftliches Gerüst. In ihren Titel beantworten sie eine große Frage oder tun zumindest so; oder sie haben einen Hauch von Selbsthilfe oder Ratgeber. Sie bieten uns Dinge gern in Form von Listen an. Und sie sind - sagte ich das schon? - leicht nachzumachen. Weil sie selbst auch schon nachgemacht sind. Von William Carlos Williams "Ideen nur in Dingen" bewegen wir uns zu einem "Dinge nur in Ideen"."

Schon jetzt einen Klassiker nennt Robin Yassin-Kassab Kamel Daouds gerade auf Englisch erschienenen Roman "Mersault, contre-enquête", die Fortschreibung von Camus" "Der Fremde" aus algerischer Perspektive.
Archiv: Guardian

Magyar Narancs (Ungarn), 30.06.2015

Der Kurator László Jakab Orsós ist Direktor des World Voices Festivals, des größten Literaturfestivals der USA von PEN America. Mit Gábor Köves sprach er über die Lage der ungarischen Literatur in den USA: "Laszlo Krasznahorkai fand eine Stimme, für die hier in Amerika und in New York großer Bedarf besteht. New York ist die Kultur der Einsamen. Es gibt viele verlorene, gut ausgebildete Seelen. (…) Über Esterházy wird ja gesagt, dass er schwer zu übersetzen sei. Ich denke nicht, dass seine Sprache schwer zu übersetzen wäre, wohl aber, sein Referenz-System in einen anderen Sprachraum zu verrücken. Mit Nádas ist es auch schwer, obwohl er sich in einer universellen Kultur bewegt, doch diese Kultur ist den meisten Amerikanern nicht bekannt oder sie sind nicht bereit, die Arbeit auf sich zu nehmen, die mit dem Lesen seiner detaillierten und brutal ehrlichen Prosa verbunden ist. Spiró wird bald zum ersten Mal auf Englisch erscheinen. Ich bin gespannt, wie er aufgenommen wird."
Archiv: Magyar Narancs

New York Magazine (USA), 29.06.2015

Im aktuellen Heft des New York Magazines vergleicht Jonathan Chait die gegenwärtigen kulturellen und politischen Veränderungen in den USA mit der Hippie-Ära und sieht eine rundherum positive Entwicklung: "Die 1960er bieten eine gute Parallele zu den heutigen Entwicklungen. Damals gab es wie heute eine verstärkte aktivistische Partizipation in der Wirtschaft (Obamacare, stärkere Regulation der Wallstreet und der Treibhausgase) sowie neue Gesetze, Rechte und Haltungen, die sich organisch in der Gesellschaft verbreiten. In kurzer Zeit ist relativ viel passiert." Und trotz der vielen Beispiele für unverhältnismäßigen Waffengebrauch in jüngster Zeit sei selbst die Polizei heute stärkeren Kontrollen unterworfen: "Smartphones und soziale Medien haben diese Veränderungen mit in Gang gebracht. Youtube und Handykameras haben zu Reformen der Ordnungskräfte geführt, Polizisten können für ihr Tun haftbar gemacht werden wie nie zuvor. Alle diese Entwicklungen haben auch einen illiberalen, autoritären Geschmack; political correctness ist die Folge, wenn die Linke die Subkultur bis zu einem Punkt dominiert, wo jeder Widerspruch unmöglich wird. Doch die wesentliche Stoßrichtung der Entwicklung geht dahin, individuelle Freiheit zu erweitern, nicht einzuschränken."

Eurozine (Österreich), 25.06.2015

Nicht allein die Ukraine, ganz Europa befindet sich im Krieg, sagt der Historiker Andrij Portnov im Gespräch mit Ketevan Kantaria, denn Putin ziele auf eine grundlegende Veränderung des internationalen Gefüge. Zugleich ist Portnovs Diagnose mit Blick auf Europa, das den Ukrainern nicht mal Einreisefreiheit biete, und Deutschland, das seine Führungsrolle nicht akzeptiere, pessimistisch: "Viele Menschen sind sich heute bewusst, dass Europa kein reales Angebot für die Ukraine hat. Und das ist ein Problem. Und dann ist da das Problem des Vertrauens. Wenn die Ukraine keine klare Perspektive für eine EU-Mitgliedschaft hat, ist die Frage: Was nun? Was ist die Alternative? Da ist keine Alternative. Ich sehe in den Diskussionen jedenfalls keine Alternative für die Zukunft dieses Landes."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Ukraine, Portnov, Andrij

Bloomberg Businessweek (USA), 23.06.2015

Wohl kaum ein IT-Konzern dürfte derart aggressive Lobbyarbeit leisten und mit derart frecher Nonchalance auftreten wie die Taxi-App Uber im Kampf um neue, wichtige Städte auf der eigenen Service-Landkarte. So zumindest der Eindruck, der entsteht, wenn man Karen Weises Reportage darüber liest, wie Uber mit allen Mitteln um die Stadt Portland gebuhlt hat: "Obwohl Uber sich selbst als frischen Marktaufmischer in Szene setzt, meisterte das Unternehmen die alte Kunst der politischen Einflussnahme rasch. Im Lauf des letzten Jahres baute es eine der größten und erfolgreichsten Lobby-Truppen des Landes auf. Sie ist in fast jedem Landesparlament anwesend. 250 Lobbyisten und 29 Lobby-Firmen sind rund um die Haupstädte der Nation registriert, mindestens ein Drittel mehr als für Wal-Mart arbeiten. Gemeindelobbyisten nicht berücksichtigt. In Portland (...) waren es schlussendlich zehn eingetragene Leute, die im Namen Ubers sprachen. Im Rathaus wurden sie zu einer beständigen Kraft. Etwas in diesem Ausmaß haben sie noch nicht gesehen, berichteten Rathausmitarbeiter."