Magazinrundschau
Sind wir gute Vorfahren?
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
21.06.2011. Craig Mod sieht die Zukunft des Buchs: Sie ist flüssig. Magyar Narancs wünscht keine Kalorientabelle neben einem in Gänsefett getauchten Langosch. Das New York Magazine besucht Ex-Hüsker-Dü-Frontman Bob Mould. Der Boston Globe stellt seine Uhr auf Mecca-Time. In The Atlantic lehnt Christopher Hitchens den Gandhiismus ab. In der NYT findet er David Mamets Konversion zur politischen Rechten einfach lahm. In der Lettre erklärt Liao Yiwu, wie er seine Reportagen baut.
Craigmod (USA), 20.06.2011
Und noch ein visionärer Essay, wie ihn zur Zeit nur Amerikaner hinkriegen. Craig Mod, ein Büchermacher, legt einen langen Text über die Zukunft des Buchs vor, dessen Thesen vielen nicht gefallen werden. Sein Eingangsstatement: "Das künftige Buch - das digitale Buch - wird kein unwandelbarer Ziegelstein mehr sein. Es ist flüchtig und vernetzt." Darum warnt Craig Mod auch vor der Ausgangsfrage des eigenen Essays: "In der Suche nach Oberflächenanalogien zwischen dem gedruckten und dem digitalen Buch liegt eine gefährliche Verführung. Es gibt einen Impuls zu glauben, dass die Magie des Buchs in seiner Oberfläche liegt. In Wirklichkeit besteht jedes Buch von Interesse aus Beziehungen. Beziehungen zwischen Ideen und Rezipienten. Zwischen Schreiber und Leser - so wie schon seit Vorzeiten."
Jeff Jarvis schrieb in seinem Blog kürzlich ähnliches über den Zeitungsartikel (hier, hier, hier und hier). Und aus dem Archiv gegraben hier noch mal Kevin Kellys Essay von 2006 in der NYT: Scan this book.
Jeff Jarvis schrieb in seinem Blog kürzlich ähnliches über den Zeitungsartikel (hier, hier, hier und hier). Und aus dem Archiv gegraben hier noch mal Kevin Kellys Essay von 2006 in der NYT: Scan this book.
Technium (USA), 18.06.2011
Der großartige Kevin Kelly schreibt in seinem Blog The Technium über ein großartiges Projekt: Dahinter steckt der Programmierer Danny Hillis, der sich 1995 zum Ziel gesetzt hat, in den Bergen von Texas, in großartiger Landschaft, versenkt in einen Berg, den langsamsten Computer der Welt zu bauen: eine mechanische Uhr, 200 Fuß hoch, die zehntausend Jahre lang ticken soll - aber selten: "Ich möchte eine Uhr, die einmal im Jahr tickt. Der Jahrhundertzeiger rückt einmal alle hundert Jahre vor. Der Kuckuck kommt alle tausend Jahre einmal heraus." Jeff Bezos von Amazon finanziert das Projekt, das offiziell von einer Stiftung betrieben wird. Brian Eno hat die Musik fürs Glockenspiel geschrieben: Jedes Jahr kommt, mathematisch generiert, eine andere Melodie. Das ganze funktioniert wie gesagt mechanisch, angetrieben durch den Temperaturunterschied von Tag und Nacht. Und was ist das Ziel der Sache?, fragt Kelly sich selbst: Nun, "wenn die Uhr noch geht, nachdem wir schon lange tot sind, warum sollten wir dann nicht andere Projekte angehen, die künftige Generationen brauchen, um sie zu vollenden? Die größere Frage lautet - in den Worten des Virologen Jonas Salk: 'Sind wir gute Vorfahren?'"
Magyar Narancs (Ungarn), 09.06.2011

Boston Globe (USA), 19.06.2011
In Mekka steht seit einem Jahr der höchste Uhrenturm der Welt mit der größten Uhr (mehr in den Stadtnachrichten Wangen). Dort schlägt jetzt die Mecca-Time - das heißt, es soll Mittag sein, wenn die Sonne über den heiligen Stätten im Zenith steht, was die Mittagszeit gegenüber dem geltenden Stundenrhythmus der Greenwich Mean Time um 21 Minuten verschieben würde. Für Adam Barrows ist die arabische Diskussion Anlass daran zu erinnern, dass die GMT zu Beginn keineswegs unumstritten war und sich erst nach dem Ersten Weltkrieg durchsetzte. Vorher war etwa in Dublin 25 Minuten nach London Mittag, und auch die Franzosen sträubten sich: "Das Greenwich Observatorium wurde als Mittelpunkt der globalen Zeit Ziel politischer Proteste und sogar terroristischer Akte. 1894, am zehnten Jahrestag der Washingtoner Konferenz, die die Vereinheitlichung der Zeit beschlossen hatte, ließ ein französischer Anarchist namens Martial Bourdin eine Bombe im Park hochgehe und sprengte sich gleich selbst mit in die Luft."
El Gatopardo (Mexiko), 19.06.2011

Economist (UK), 16.06.2011

Al Ahram Weekly (Ägypten), 16.06.2011

Prospect (UK), 25.05.2011
Erstmals überhaupt widmet die Tate in London der kurzlebigen britischen Kunstbewegung der Vortizisten eine große Ausstellung. Richard Cork hat sie besucht und erläutert ein paar Kontexte: "Die Bewegung war inspiriert von der Erfindungskraft und Energie, die Großbritannien zum Schmeltziegel der industriellen Revolution gemacht hatten. Die Vortizisten stellten die Welt des Maschinenzeitalters in den Kern ihrer Arbeiten. Wie die Futuristen glaubten sie, dass eine neue Kunst in einem noch jungen Jahrhundert die dramatischen Veränderungen ihrer Zeit spiegeln sollte. Anders als die Futuristen betrachteten sie die moderne Existenz nicht mit jubilatorischem Enthusiasmus. Ein typisches vortizistisches Gemädle wie Wyndham Lewis' 'The Crowd' zeichnet sich aus durch eine klare, schnittscharfe Lebendigkeit und heitere Farben. Jedoch blickt es mit sehr kritischem Blick auf die neuen Fähigkeiten der mechanischen Welt. Entmenschlichung ist ein zentrales Thema."
MicroMega (Italien), 16.06.2011

New York Magazine (USA), 19.06.2011

Außerdem: Michael Idov schreibt einen Song mit Miranda July.
Elet es Irodalom (Ungarn), 17.06.2011

Seit 1993 führt das Budapester Institut für Gesellschaftsforschung Tarki Untersuchungen zur Migrationsbereitschaft aus. Jetzt ist die Bereitschaft in der ungarischen Bevölkerung, das Land für eine kürzere oder längere Zeit zu verlassen, innerhalb eines Jahres von 13 auf 17 Prozent gestiegen. Endre Sik, Soziologe und Leiter der Forschungsreihe, findet das gar nicht so schlimm, weil die Angst vor Migration gerade im Misstrauen gegenüber allem Fremden und Neuen begründet liegt, "das für uns so typisch ist und das verhindert, dass die ungarische Kultur ein bisschen offener wird und besser in die Nachbarschaft, in Europa und die Welt integriert wird. Das kann einer Regierung zwar kurzfristig einige Probleme bereiten, weil mehr Menschen das Land verlassen, langfristig tut es den Ungarn aber gut, weil wir offener werden und über mehr Ressourcen verfügen werden."
The Atlantic (USA), 20.06.2011

Außerdem: Bruce Barcott stellt den Kanadier Guy Cramer vor, dessen Camouflage-Muster die Armeen der halben Welt bedecken. Jonathan A. Knee erklärt der Filmindustrie, warum der Filmstreamdienst Netflix so unglaublich erfolgreich ist. Und Armanda Ripley stellt den Mann vor, der die Pisa-Fragen erfand: den deutschen Mathematiker Andreas Schleicher.
Lettre International (Deutschland), 20.06.2011

Außerdem: Antonio Tabucchi schreibt über "diese Krankheit bzw. das Gefühl, nicht mit der Zeit synchron zu sein" (Auszug), Florian Coulmas schreibt über das Erdbeben in Japan (Auszug) und Andrea Camilleri denkt über den Homo berlusconensis nach (Auszug).
New York Times (USA), 19.06.2011
Als aufregendes Debüt preist Stacey D'Erasmo Eleanor Hendersons ambitionierten Roman "Ten Thousand Saint" über eine Gruppe unambitionierter Menschen, die es in den Achtzigern von Vermont in die Straight-Edge-Szene des New Yorker East Village verschlägt. Das eigene Leben und die Kultband, Exzess und Entsagung fügen sich bei Henderson zum großen dunklen Ganzen: "Auf den annähernd 400 Seiten hält sich Henderson nicht zurück. Sie schreibt wie der Teufel, holt das Letzte aus jedem einzlenen Moment, jeder Szene, Perspektive oder flüchtigen Impression, aus jedem Impuls, jedem Verlangen und allen emotionalen Trümmerstücken. Sie ist nie ironisch oder unbeeindruckt; ihr bevorzugter Modus ist die Wut, hingebungsvoll und elegisch."
"Nicht jeder, der seinen Glauben verliert, kommt zu Verstand", lernt Christopher Hitchens aus David Mamets Buch "On the Dismantling of American Culture", in dem der Drehbuchautor seine Konversion zur politischen Rechte niederschreibt: "Ich habe keine Schwierigkeiten nachzuvollziehen, warum einstige Liberale und Radikale an den Frömmigkeiten der Linken verzweifeln. Ich habe in Berkeley und an der New School gelehrt und ich weiß, was Mamet meint, wenn er die trübe Atmosphäre der Campus-Korrektheit beschreibt. Wenn er das Schweigen der Feministinnen über Bill Clintons schmieriges Sexualleben attackiert oder wenn er zeigt, wie finster es ist, das Wort 'Zar' als positiven Begriff für einen politische Problemlöser zu verwenden, dann hat er ohne Frage recht. Aber wenn er schreibt: 'Das Leck von BP war schlecht... Das Leck von Wikileaks, bei dem Tausende von geheimen Dokumenten an die Öffentlichkeit gelante, war gut. Warum?' - dann ist das einfach nur lahm."
Weiteres: Offenbar mit Erleichterung hat der amerikanische Schriftsteller Toure die Malcolm-X-Biografie von Manning Marable gelesen: "Der Kaiser bleibt bekleidet." George Johnson erfährt in David Kaisers "How the Hippies Saved Physics", was die Naturwissenschaften den Gegenkulturen verdanken.
"Nicht jeder, der seinen Glauben verliert, kommt zu Verstand", lernt Christopher Hitchens aus David Mamets Buch "On the Dismantling of American Culture", in dem der Drehbuchautor seine Konversion zur politischen Rechte niederschreibt: "Ich habe keine Schwierigkeiten nachzuvollziehen, warum einstige Liberale und Radikale an den Frömmigkeiten der Linken verzweifeln. Ich habe in Berkeley und an der New School gelehrt und ich weiß, was Mamet meint, wenn er die trübe Atmosphäre der Campus-Korrektheit beschreibt. Wenn er das Schweigen der Feministinnen über Bill Clintons schmieriges Sexualleben attackiert oder wenn er zeigt, wie finster es ist, das Wort 'Zar' als positiven Begriff für einen politische Problemlöser zu verwenden, dann hat er ohne Frage recht. Aber wenn er schreibt: 'Das Leck von BP war schlecht... Das Leck von Wikileaks, bei dem Tausende von geheimen Dokumenten an die Öffentlichkeit gelante, war gut. Warum?' - dann ist das einfach nur lahm."
Weiteres: Offenbar mit Erleichterung hat der amerikanische Schriftsteller Toure die Malcolm-X-Biografie von Manning Marable gelesen: "Der Kaiser bleibt bekleidet." George Johnson erfährt in David Kaisers "How the Hippies Saved Physics", was die Naturwissenschaften den Gegenkulturen verdanken.
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