Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
22.04.2003. Atlantic Monthly stöbert in Hitlers vergessener Bibliothek. Wenn Großbritannien nicht länger ein Pudel sein will, dann sollte es das Bett nicht länger mit einem Elefanten teilen, meint Rodric Braithwaite in Prospect. Outlook India begutachtet Schulen mit Swimmingpools. Die NYT Book Review schwärmt von den poetischen Einsichten einer neuen Chopin-Biografie. In der London Review of Books beschwert sich Edward Said über die Arroganz der USA.

The Atlantic (USA), 22.04.2003

Die Titelgeschichte über den Niedergang des saudischen Herrscherhauses ist leider, leider den Leser der Printausgabe vorbehalten.

Timothy W. Ryback hat in der Raritätensammlung der Library of Congress eine fast vergessene Sammlung wiederentdeckt: Hitlers Bibliothek, die die 101. Luftlandedivision 1945 in einer Berchtesgardener Salzmine gefunden hatte. Seit fünfzig Jahren lagern dort - selbst von Hitlers Biografen unbeachtet - handsignierte Ernst-Jünger-Ausgaben, Germanen-Handbücher und vegetarische Kochbücher: "Bücher schienen bei praktisch jeder Gelegenheit das bevorzugte Geschenk für Hitler gewesen zu sein. Seine Bibliothek enthält Bücher mit Widmungen zu Weihnachten, zum Geburtstag oder andere Feste. Ein Buch mit dem Titel "Tod und Unsterblichkeit in der Weltsicht indogermanischer Denker" ist Hitler von SS-Führer Heinrich Himmler zum 'Julfest 1938' gewidmet worden. Ich entdeckte auch Bücher, die ihm die Filmemacherin Leni Riefenstahl geschenkt hatte - zwei über die Olympischen Spiele in Berlin und die seltene achtbändige Erstausgabe von Johann Gottlieb Fichtes Gesammelten Werken. Die beiden ersten Bücher überraschen nicht, der Fichte irgendwie schon."

Bernard Lewis weist in seinen Überlegungen zu Religion und Zivilisation darauf hin, dass der Islam als Religion vom Islam als Zivilisation unterschieden werden sollte, wenn man den "Clash of civilization" diskutieren will: "Wir sprechen auch bei nicht-religiöser Kunst immer von einer islamischen, auch wenn wir Kunstwerke meinen, die einfach nur in der islamischen Welt hergestellt wurden. Wir sprechen von Islamischer Wissenschaft und meinen Physik, Chemie, Mathematik, Biologie und den übrigen Errungenschaften der muslimischen Zivilisation. Wenn wir von christlicher Wissenschaft sprechen, meinen wir dabei schon etwas anderes."

Weitere Artikel: Zu lesen ist ein letzter Text des im Irakkrieg getöteten Reporters Michael Kelly. In seinem "Letter from Kuwait" schreibt er über falsche Freunde und falschen Frieden. Christopher Hitchens hat im Werk von Evelyn Waugh (mehr hier)eine bemerkenswerte Entdeckung gemacht: Reaktionäre können mutig sein und Snobs wunderbare Prosa schreiben.

Geoffrey Wheatcroft hat bei neuerlicher Lektüre des "Bildnis des Dorian Gray" in einer bisher vernachlässigten Figur Oscar Wilde erkannt und zwar in Lord Henry Wotton! Sandra Tsing Loh fragt sich, warum die Kindererziehung trotz all der auf den Markt geworfenen Experten-Literatur nicht einfacher werden will (wahrscheinlich genau deswegen). Zu lesen ist auch die Kurzgeschichte "A Good Country" von Geeta Sharma Jensen und zwei Gedichte: "A Morris Dance" von Mary Jo Salter sowie "Amateur Iconography" von A. E. Stallings.

Besprochen werden weitere Bücher, darunter Cristina Garcias kubanische Emigranten-Saga "Monkey Hunting" und Robert Stones Roman "Bay of Souls".
Archiv: The Atlantic

Spiegel (Deutschland), 19.04.2003

Bundeskanzler Gerhard Schröder verteidigt im Interview seine Reformpläne ("Ich bin sicher: Die SPD in ihrer Gesamtheit weiß, dass - um es mit Hegel auszudrücken - die wirkliche Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit ist.") und erklärt, dass Deutschlands Mithilfe am Wiederaufbau des Irak nur von Edelmut geprägt sein darf. Hier ein Aussschnitt:
Spiegel: Ist das nicht weltfremd? Dass es im Irak auch Geld zu verdienen geben könnte, wird doch schon jetzt thematisiert ...
Schröder: ... was ich, um das klar zu sagen, für reichlich würdelos halte: In einer Phase, in der der Krieg noch nicht einmal ganz beendet ist, über die Frage zu diskutieren, wer welchen Auftragsblock gefüllt bekommt! Das zu entscheiden wird Aufgabe einer provisorischen, besser noch: endgültig etablierten, aus freien Wahlen hervorgegangenen irakischen Regierung sein.
Spiegel: Das glauben Sie doch selber nicht.
Schröder: Es kann gar nicht anders sein, als dass die Dinge so vonstatten gehen ..."

Weitere Artikel: Im Kulturteil wird die Plünderung des irakischen Nationalmuseums beschrieben. Und die Schauspielerin Marie Bäumer verteidigt im Interview ihre Rolle in Oskar Roehlers Beziehungsdrama "Der alte Affe Angst": "Endlich quält da mal was! Wann kommt man denn heutzutage noch aus dem Kino und ist richtig angefasst?"

Nur im Print gibt es ein Interview mit dem Goldman-Sachs-Chef Henry Paulson über die ökonomischen Folgen des Irak-Kriegs. Der Titel ist der neuen Weltordnung gewidmet.

Archiv: Spiegel

Prospect (UK), 01.05.2003

Wieder einmal viel Lesenswertes im Prospect. Für Rodric Braithwaite ist Großbritanniens "special relationship" zu Amerika nur eine "tröstende Kuscheldecke für eine an Einfluss verlierende Macht". Denn Amerika habe nur zu klar gemacht, wie wenig es auf die Briten angewiesen ist. Daher sei es an der Zeit, der Realität ins Auge zu sehen und die eigentliche Frage anzugehen, nämlich die nach Großbritanniens staatlicher Souveränität. Die wäre, entgegen der landläufigen Meinung, in jedem Fall besser in Europa aufgehoben, meint Braithwaite: "Viele Briten befürchten, dass die britische Souveränität innerhalb der EU weiter geschwächt wird, und würden sich ihr gerne entziehen. Die selben Leute befürworten jetzt eine noch engere Beziehung zu Amerika. Doch sie sehen nicht, dass dies die britische Souveränität mindestens genauso sehr beschneiden würde. Mit einem Elefanten im Bett zu liegen mag uns dabei helfen, uns wichtig zu fühlen. Doch die anderen Europäer wiegen so viel wie wir, und unsere Stimme in Brüssel ist entscheidender, als sie in Washington je sein kann. Unsere Partner wissen, dass ein überzeugendes Europa nicht ohne die Briten aufgebaut werden kann. Die Briten können nicht länger den Kontinent ignorieren, dem sie angehören. Aber wir werden nicht so gehört werden, wie wir es verdienen, wenn wir nicht unser Bild in Europa zerstören können, wonach Großbritannien Washingtons Pudel ist - ein Bild, das der Wirklichkeit gefährlich nahe kommt."

Anatol Lieven ruft das liberale Judentum Amerikas auf, Israels Politik und die amerikanisch-israelischen Beziehungen kritisch ins Auge zu fassen: "Es ist Zeit, dass alle wahren Freunde Israels anfangen, sich zu fragen, ob die gegenwärtige israelische Politik, und deren amerikanische Unterstützung, im wirklichen Interesse Israels, des Weltjudentums und der USA sind; oder ob sie den arabischen Hass und den europäischen Ärger aufrechterhalten wollen, die das langfristige Risiko bergen, Israel zu untergraben, Amerika zu verkrüppeln und die liberale Zivilisation zu zerstören, von der das Wohlbefinden einer Mehrheit von Juden letzlich abhängt."

Weitere Artikel: Bruce Clark hat sich in Birmingham umgehört, wie die britischen Muslime auf den von ihrer Regierung mitgeführten Irak-Krieg reagieren und interessante Dialogmöglichkeiten zwischen Christentum und Islam aufgetan. Aus Pakistan berichtet Pervez Hoodbhoy über die dortigen Reaktionen auf den Irak-Krieg und über den wachsenden islamistischen Einfluss. Schließlich hofft David Herman auf ein neues Leben für Kunst-Sendungen im britischen Fernsehen.
Archiv: Prospect

Outlook India (Indien), 28.04.2003

Der Krieg ist vom Titel verschwunden, doch Sanjay Suri fragt noch mal nach: Massenvernichtungswaffen im Irak? Amerikaner und Briten, berichtet er, haben zwar weder welche gefunden, noch sind sie damit attackiert worden, sie haben aber nach Ansicht von Menschenrechtsgruppen selbst illegaleWaffensysteme verwendet und gegen die Genfer Konvention verstoßen. Wird sie jemand dafür zur Verantwortung ziehen? Nein, natürlich nicht.

Die Ausgabe macht mit einem ausführlichen Rundgang über den "großen indischen Schulbasar" auf: Noch nie, schreibt Soma Wadhwa, haben Eltern so viel Geld für die Bildung ihrer Kinder ausgegeben, und noch nie hatten sie so viel Auswahl. Wie Pilze schießen überall Schulen aus dem Boden, die mit Exklusivität, erstklassiger Ausstattung und internationalem Prestige werben. Schulen sind zu einem lohnenswerten Geschäft geworden. "Die Booms von Immobilien, Informationstechnologie und Biotechnologie sind vorbei. Jetzt haben wir einen Schulboom", sagt einer, der damit gutes Geld verdient. Die Frage ist nur: Ist die Ausbildung von derselben Qualität wie die Swimmingpools, Cricketplätze und Mediencenter, für die wohlhabende Eltern enorme Gebühren zahlen? Und: Was haben jene 110 Millionen indischen Kinder von der florierenden Schulindustrie, die nie eine von innen gesehen haben?

Weitere Artikel: Saba Naqvi Bhaumik stellt zwei Politikerinnen der Hindu-Partei BJP vor, die einiges gemeinsam haben: Beide sind Spitzenkandidatinnen in ihren Bundesstaaten und beide mussten sich gegenWiderstände männlicher Politiker der eigenen Partei durchsetzen. Der Unterschied: Die eine ist eine waschechte Prinzessin, die andere entstammt einer unteren Kaste und hat nur sechs Jahre lang die Schule besucht.

Namrata Joshi hat sich "The Hero", den teuersten indischen Film allerZeiten angeschaut, in dem besiegte pakistanische Schurken den Weg eines stolzen indischen Patrioten pflastern. Ein Flop wird es wahrscheinlich trotzdem werden. Und B. Raman hat ein Buch über eine offenbar so abenteuerliche wie geheime Hochgebirgsexpedition gelesen: CIA und indischer Geheimdienst versuchten 1962, im Himalaya ein Anlage zur Überwachung chinesischer atomarer Aktivitäten zu installieren, die von einem Nukleargenerator betrieben wurde.
Archiv: Outlook India

New York Times (USA), 20.04.2003

Simon Winchester hat einer der größten Naturkatastrophen der Menschheitsgeschichte ein Buch gewidmet, das es laut Richard Ellis' Lobeshymne mit dem Ereignis an Größe durchaus aufnehmen kann. Der Bericht über den Ausbruch des Vulkans "Krakatoa" (erstes Kapitel) im vorvergangenen Jahrhundert (ein etwas bunter, aber umfangreicher Überblick über die Geschehnisse hier) sei nicht nur "spannend, verständlich und literarisch" geschrieben, sondern auch "sorgfältig recherchiert und wissenschaftlich genau", mit einem Wort einfach brillant, schwärmt der Rezensent. "Als die Erde aufbrach, kam kaltes Meerwasser mit der Magma in Berührung, der Dampf explodierte mit katastrophaler Gewalt, und sechs Kubikmeilen Gestein und Asche wurden mehr als 20 Meilen in die Stratosphäre geschleudert", fasst Ellis zusammen. Gigantische Tsunamis "rasten in alle Richtungen davon, überschwemmten die Küsten von Java und Sumatra, begruben mehr als 300 Städte und Dörfer unter sich und töteten mehr als 36.000 Menschen". Kurz: "Eines der besten Bücher, das je über Geschichte und Bedeutung eines Naturdesasters geschrieben wurde."

Voll des Lobes ist auch Angeline Goreau über Benita Eislers (Audio-Interview) Chopin-Biografie. "Chopins Funeral" (erstes Kapitel) legt besonderen Wert auf die Schilderung der mysteriösen Freundschaft zwischen dem "sexuellen Outlaw" George Sand und dem kränkelnden, eher diskreten Komponisten. "Wie die beiden schließlich zusammenkamen, bleibt teilweise ein Geheimnis", schreibt eine begeisterte Goreau, aber "Benita Eisler erschüttert die Sicherheiten früherer Biografien und entwirrt die Geschichte". Auch in Bezug auf die spätere, noch unverständlichere Entfremdung der beiden komme die Autorin näher daran, "das ganze spektakuläre Verhängnis zu erklären als irgendein anderer Biograf, den ich kenne." Eisler gelinge dies mit "poetischer Einsicht und in bewundernswerter Kürze, indem sie ihre analytischen Fähigkeiten mit literarischer Begabung kombiniert".

Im Close Reader betrachtet Judith Shulevitz diesmal Helen Keller (Seite mit biografischen Daten, Fotos, Reden und Schriften hier) und ihre Autobiografie, wo es manche Unstimmigkeiten gibt, und erforscht davon ausgehend die Grenzen von Wahrnehmung und Erinnerung. "Vielleicht sind wir alle so: Kreaturen der Sprache, und nicht ihre Herren. Vieles was wir aus eigener Erfahrung zu wissen glauben, haben wir wahrscheinlich aus Büchern oder Zeitungen, von Freunden oder Geliebten, und haben es nie selbst draußen in der Welt überprüft."

Weitere Besprechungen: Steven Brills "After", in der er die inneramerikanische Reaktion auf den 11. September beschreibt, lobt Robert Stone als eine "intelligente Beschreibung der Stärken und Schwächen der kommerziellen Demokratie im 21. Jahrhundert, wenn sie unter Druck gerät". Giles Foden begrüßt die späte Übersetzung von Uwe Timms Roman "Morenga", der den blutig niedergeschlagenen Herero-Aufstand im kolonialen Deutsch-Südwest-Afrika zum Hintergrund hat. Timms Buch sei zwar stellenweise schwer zu verstehen, meint Foden, aber genau das "scheint der Punkt zu sein" bei einem Thema wie dem Genozid.
Archiv: New York Times

Economist (UK), 18.04.2003

Bestimmendes Thema in dieser Ausgabe: der Wiederaufbau im Irak.

Der Economist warnt davor, die Schwierigkeit eines Wiederaufbaus im Irak zu unterschätzen. Denn um auf Akzeptanz bei den Irakis zu stoßen, so der Hauptaugenmerk des Artikels, müsse die Neustrukturierung nicht nur politischer, sondern unbedingt auch wirtschaftlicher Natur sein, wobei insbesondere die Ölpolitik eine zentrale Rolle spiele.

Ein zweiter Artikel beschäftigt sich mit anderen Aspekten des Wiederaufbaus, etwa wie man mit den Apparatschiks des alten Regimes umgehen sollte, auf die man größtenteils nicht verzichten könne. In der Zeitgeschichte findet der Economist Anregungen zu verschiedenen Spielarten der "De-Saddamisierung": "Entweder man zieht einen dicken schwarzen Strich unter die Geschichte", wie es Polen und andere ex-kommunistische Staaten getan haben, die von einer Verfolgung der kommunistischen Führer abgesehen haben. Oder man schafft lokale Körperschaften, die über die Sünden der alten Ordnung verhandeln: Südafrikas "Wahrheits- und Versöhnungskommission" zum Beispiel. Oder aber der Sieger richtet - wie es bei den Nürnberger Kriegverbrecher-Prozessen der Fall war".

Weitere Artikel: Wie der Vater, so der Sohn? Wird George Bush junior seinem Vater nicht nur ins Weiße Haus und in den Golfkrieg folgen, sondern auch in die Wahlniederlage? Außerdem fragt sich der Economist, ob Frankreich aus der diplomatischen Isolation herausfinden wird, und welche Wege sich dazu anbieten. Zu lesen ist auch ein Nachruf auf Abdul Majid al-Khoei, einen der Hoffnungsträger für den neuen Irak. Schließlich erfahren wir Wunderliches über das Übersetzerteam, dem England die King James Bibel verdankt. Der Economist hat's in Adam Nicholsons "God's Secretaries: The Making of the King James Bible" gelesen.

Nur im Print zu lesen: Amerikas Ambitionen im Mittleren Osten und wie die Kultur des Irak gerettet werden kann.
Archiv: Economist

Times Literary Supplement (UK), 19.04.2003

Am 23. April ist es wieder soweit: Shakespeares Geburtstag (und Todestag) wird gefeiert. Michael Caine ruft sich genüsslich verschiedene Veranstaltungen in Erinnerung - etwa David Garricks Shakespeare-Fete 1769 ("song, dance and horse-racing, an ode in praise of 'the god of our idolatry', and James Boswell dressed as a Corsican") - aber auch dieses Jahr wird grandios, verspricht Caine: "Outbreaks of morris dancing and the National Anthem are guaranteed, as is a procession of Elizabethan dresses, academic gowns, school uniforms, the national regalia of foreign dignitaries and the panoply of the civic burghers. The band of the Royal Engineers usually march at the head of this procession but this year they are busy liberating Iraq, so their understudies, the band of the West Midlands Police, are on."

Weitere Artikel: Jonathan Bate applaudiert einem Buch von Brian Vickers, der Shakespeare als Ko-Autor so berühmter Schriftsteller wie George Wilkins ("Pericles"), Thomas Middleton ("Timon of Athens"), George Peele ("Titus Andronicus"), John Fletcher ("Henry VIII.", "The Two Noble Kinsmen") vorstellt. Besprochen werden weiter ein Buch von N. T. Wright über die Wiederauferstehung Jesus und Norman Porters Buch über die Möglichkeiten einer Versöhnung in Nordirland.

London Review of Books (UK), 17.04.2003

Edward Said findet es schier unglaublich, wie unkritisch sich amerikanische Regierungspolitiker die zurechtgesponnene Idee einiger selbsternannter Spezialisten zueigen gemacht haben, die Irakis würden sich dem amerikanischen Angriff nicht widersetzen, sondern ihn sogar uneingeschränkt als Befreiung begrüßen. In der Tat gehe die amerikanische Regierung davon aus, "dass die Landkarte des Mittleren Ostens neu gezeichnet werden kann, so dass sich ein 'Domino-Effekt' in Gang setzt, der in der ganzen Region Israel-freundliche Demokratien hervorbringt". Doch das Erschreckendste an diesen Wunschbildern sei die allem zugrundeliegende Annahme, "dass amerikanische Macht grundsätzlich gütig und altruistisch" handele, was angesichts der Tatsachen geradezu unverschämt sei: "Dies ist der rücksichtsloseste Krieg der modernen Zeit. Hier geht es um die Arroganz einer in Weltlichkeit ungeschulten Weltmacht, die weder an Kompetenz noch an Erfahrung gebunden ist, achtlos gegenüber jeglicher historischen oder menschlichen Komplexität, reuelos in ihrer Gewalt und der Grausamkeit ihrer Technologie."

Weitere Artikel: Wenn auch Deborah Cadbury in ihrer Studie ("The Lost King") über den mysteriösen Tod des jungen Thronfolgers während der französischen Revolution ein allzu "moralisch zurückgebliebenes" Bild dieser Revolution zeigt, findet Hilary Mantel dieses "wissenschaftliche Puzzle-Buch" doch irgendwie faszinierend. Für Nicholas Penny ist Roberto Longhis Wiederentdeckung des italienischen Malers Piero della Francesca einer der wichtigsten Beiträge zur Kunstkritik im 20. Jahrhundert. In Short Cuts erklärt John Sturrock, warum "bullshit" ein Wort ist, das den Zeitgeist spiegelt. Und Peter Campbell hat auf der Ausstellung V&A Art Deco in London gelernt, "dass der richtige Stil gute Zeiten besser machen kann".

Nur im Print zu lesen: Hugh Miles hat sich den Krieg auf Al-Dschasira angesehen.

Nouvel Observateur (Frankreich), 17.04.2003

In dieser Woche einmal keine relevanten Debatten, dafür interessante Publikationen. Sehr differenziert besprochen wird der von Jean-Claude Schmitt herausgegebene und mit einem einordnenden Essay versehene Band "La Conversion d?Hermann le juif. Autobiographie, histoire et fiction" (Seuil). Darin wird die teils historisch belegte, teils fiktionale Geschichte von Judas erzählt, dem Sohn eines jüdischen Kölner Priesters, der im zwölften Jahrhundert zum Christentum konvertierte, und die Geschichte dieser Konversion in autobiografischen Skizzen festhielt. "Diese Pseudo-Autobiografie", urteilt der Rezensent, "vermag uns nichts über die persönlichen Erfahrungen eines Juden mit dem Christentum in der betreffenden Zeit zu sagen, dagegen aber viel über die Art und Weise, in der die Kirche das Judentum wahrnahm."

Vorgestellt wird außerdem ein Band mit Gesprächen zwischen dem Mittelalterexperten Jacques Le Goff (mehr hier und hier) und dem Historiker Jean-Maurice de Montremy. In "A la recherche du Moyen Age" (Editions Louis Audibert) erläutert Le Goff einmal mehr seine These, wonach das Mittelalter eben nicht die "finstere, verlorenen Epoche zwischen Antike und Renaissance " gewesen sei, sondern "die Hoffnung". Und wir lesen eine - ziemlich voraussetzungsreiche - Rezension von "Le Neveu de Lacan" (Verdier), einer Art "Abrechnung" des Psychoanalytikers Jacques-Alain Miller, Schwiegersohn von Jacques Lacan und Herausgeber seiner "Seminaires", mit den "neuen Reaktionären" (nouveaux reacs).

In der Abteilung Arts et Spectacles gibt es schließlich noch die Besprechung des Films "Baghdad on/off" des irakischen Exil-Regisseurs Saad Salman. Salmans Film dokumentiert seine Reise von Paris in Richtung seiner alten Heimat im Herbst 2002, um ans Sterbebett seiner Mutter zu gelangen.

Express (Frankreich), 17.04.2003

Die Erfolgsstory des Verlagshauses POL erzählt Olivier Le Naire. Paul Otchakovsky-Laurence, hat es geschafft, seinen nun über 20 Jahre alten Verlag, geschickt in der französischen Verlagslandschaft zu positionieren. Zum Durchbruch verhalf ihm Marguerite Duras' Roman "La Douleur". Mittlerweile zählen Stars zu den stets verlagstreuen Autoren, wie Olivier Le Naire berichtet. Darunter Marie Darrieussecq, Camille Laurens, Emmanuel Carrere, Rene Belletto und Martin Winckler (mehr erfahren Sie hier). Dennoch möchte der Verlagsleiter das Haus nicht erweitern, aber nur aus dem einen Grund: Noch mehr könne er beim besten Willen nicht lesen!

Weitere Artikel in der Bücherschau: Philippe Alexandre bespricht die Erinnerungen des Journalisten Jacques Duquesne an seine Kindheit während des Zweiten Weltkriegs, die er in der Normandie verbrachte. Aus der Sicht des Kindes erschien ihm der Krieg manchmal wie ein großes Spiel, ein Spiel, das allerdings allein den Erwachsenen vorbehalten blieb. Die Autobiografie hat eine erschütternde Aktualität vor dem Hintergrund des Irak-Kriegs, hebt Philippe Alexandre anerkennend hervor.

Außerdem geht es in der heutigen Ausgabe um die französische Justiz, die französische Kirche und das französische Bildungssystem: Die größten Skandale der französischen Jusitzgeschichte enthüllt Philippe Bilger in seinem Buch "Un avocat general s?est echappe". Warum die Kirche in Frankreich immer weniger gesellschaftlichen Einfluss hat, erklärt die Soziologin Daniele Hervieu-Leger in einer Studie, die von Weltuntergangsstimmung zeugt: "Catholicisme, La fin d?un monde" lautet ihr Titel. Schließlich widmet sich ein umfasssendes Werk des französischen Bildungsministers Luc Ferry dem maroden Bildungssystem in Frankreich.

Und: Einer der ersten Tänzer der Opera National de Paris, Nicolas Le Riche, hat einen Traum: Einmal zusammen mit Pina Bausch arbeiten.
Archiv: Express