Heute in den Feuilletons

Im Deutschen weniger süffig

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.10.2012. Die NZZ würdigt das Bodybuilding als Bildhauerei am eigenen Leibe. Auf critic.de erfährt man Ungutes über den Zustand der Filmkritik im Internet. Die FAZ erblickt in den Bildwelten der DDR ein willkommenes Korrektiv zum "Kult um die Abstraktion" im Westen. Die SZ fühlt sich im "Homeland" nicht ganz wohl. In der Zeit versuchen Ulrich Beck und Daniel Cohn-Bendit nochmal zu erklären, was sie mit Europa meinen. Außerdem: die schönen Augen und die schöne Badehose von Franz Kafka.

Aus den Blogs, 25.10.2012

Christian Jakubetz hat die Münchner Medientage besucht und ist recht irritiert über das Ausmaß der Bräsigkeit der aktuellen Branchenwürdenträger: "Das ganze Ausmaß der Veränderung ist tatsächlich auch im Jahr 2012 noch nicht wirklich beim Establishment angekommen. In diesem Jahr wurde bisher viel über neue Gesetze gesprochen, die letztlich nur alte Werte reflektieren: Gute Arbeit muss auch weiterhin geschützt und bezahlt werden! Diebstahl ist böse und alles, was nicht dem bisherigen Geschäftsmodell entspricht ist irgendwie Diebstahl."
Stichwörter: Diebstahl

Welt, 25.10.2012

Ulf Poschardt kann es nicht fassen. Die ganze Welt findet Berlin hip, aber die CDU wirkt heutzutage noch genau so provinziell wie zu miefigsten Bonner Zeiten und hat (wie etwa Stuttgart zeigt) den Anschluss an moderne urbane Eliten längst verloren: "Der Partei fehlt geistige und kulturelle Orientierung. Sie verkommt zum Macht- und Verwaltungsapparat. Der rührende Kulturstaatsminister begrüßt dieser Tage die zunehmende Anerkennung von Comics. Das ist verdienstvoll, kommt aber gefühlt vierzig Jahre zu spät, hatten doch selbst die konservativen Deutschlehrer an den wunderbaren bayerischen Gymnasien der Siebzigerjahre die Analyse von Comics in den Lehrplan integriert." Vielleicht findet sich ja im Springer Verlag ein dynamischer Nachfolger?

Weitere Artikel: Jan Küveler geißelt die Heuchelei der Radsportfunktionäre, die ihr einstiges Idol Lance Armstrong abservieren. Im Forumsessay beklagt der Politologe Andreas Umland das Desinteresse der deutschen Öffentlichkeit für die Ukraine.

Besprochen werden der Film "Robot & Frank" (mehr hier) und Markus Imbodens düsteres Bauerndrama "Der Verdingbub" (mehr hier).

TAZ, 25.10.2012

"Auf eine emotionale Spitze", meint Ingo Arend, treibe Dani Karavan sein Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas, das gestern in Berlin eingeweiht wurde. "Um den 'Ort des Nichts' zu schaffen, um den es ihm ging, hätte es Karavan aber besser bei der schwarzen Wasseroberfläche belassen sollen. Hier gewinnt er der Mahnmalsästhetik ein beeindruckendes Moment der Stille und eine kontemplative Qualität zurück. Die täglich wechselnde Feldblume jedoch, Symbol des neuen Lebens, das immer wieder aus den dunklen Fluten steigt, begleitet vom 'Klang einer einsamen Geige … schwebend im Schmerz' - ist ein Tupfer zu viel Erlösung."

Christian Y. Schmidt bekennt in Wahrheit, die Friedenspreisrede Liao Yiwus "entsetzlich" gefunden zu haben. Die Forderung, dass China auseinanderbrechen müsse, sei "nichts weiter als ein Plädoyer für die Rückkehr zur Stammesgesellschaft, in der Fremde nur als Gast geduldet werden. Er dürfte auch bei den Taliban großen Anklang finden. Jedenfalls herrscht überall dort auf der Welt, wo versucht wird, diese 'Utopie' (Liao Yiwu) zu realisieren, Mord- und Totschlag."

Gabriele Lesser würdigt im Nachruf den Fotografen Wilhelm Brasse, der ins KZ Auschwitz kam und dort für die Lagerkartei und für den SS-Arzt Mengele fotografieren musste.

Besprochen werden der vierte Film des New Yorker Regisseurs Ira Sachs "Keep the Lights on", eine Art "Chronik der schwulen New Yorker Künstlerkolonie", ein Berliner Konzert der australischen Psychedelic Rock-Band Tame Impala, eine DVD-Edition der Deutschen Kinemathek von vier Filmen mit Asta Nielsen und Florian Illies' Buch "1913. Der Sommer des Jahrhunderts", in dem laut Rezensent die Frage nach dem Wirkungsgrad der Kunst auf die Gesellschaft selten "verständlicher beantwortet [wurde] als hier" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 25.10.2012

Als "Bildhauerei am eigenen Leib" betrachtet Jörg Scheller das Bodybuilding, von dessen Schweizer Meisterschaft in Basel er berichtet: "Man hat lange Zeit den Fehler gemacht, Bodybuilding als Sport zu bezeichnen. Tatsächlich ist es etwas anderes, nämlich die vielleicht radikalste künstlerische Bejahung eines neuzeitlichen Gedankens, der zum Leitmotiv der modernen liberalen Demokratien werden sollte: Der Mensch wird nicht, was er ist, er ist, was er wird"

Weiteres: "Ein Theater, das Position bezieht und Statements liefert, ist kein Wohlfühltheater", musste Sieglinde Geisel beim Theaterfestival "Foreign Affairs" der Berliner Festspiele erfahren. Besprochen werden Markus Imhoofs Dokumentarfilm "More Than Honey" ("ein spannendes Bee-Movie", meint Christoph Egger), Jake Schreiers Independent-Film "Robot & Frank" und Bücher, darunter Hansjörg Schertenleibs Roman "Wald aus Glas" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 25.10.2012

Etwas Musik für den Morgen: Im Blog der Onlinevideothek Mubi finden wir einen großartigen Mix mit Soundtracks von Größen wie Henry Mancini, Michel Legrand und Lalo Schifrin.

Ziemlich ernüchtert kam Frédéric Jaeger von critic.de am vergangenen Freitag von der Berliner Podiumsdikussion zwischen (Print-)Filmkritikern und Vertretern der Filmbranche nach Hause. Zum einen fasst er den Abend wesentlich umfassender als die Kollegen aus dem Print (siehe taz, Tagesspiegel, FR) zusammen und kann in anschließenden "sechs Thesen zur Online-Filmpublizistik" auch einiges über die vergossenen Tränen der Filmbranche über schlechte Kritik erzählen: "Die Klagen (...) scheinen geradezu zynisch, wenn man darum weiß, wie Verleiher regelmäßig die Form der Besprechung direkt an Werbebuchungen koppeln. Bei critic.de habe ich mehrfach die Erfahrung gemacht, dass Verleiher mit dem Verweis auf eine negative Kritik keine Werbung gebucht haben. ... Nur leicht verzögert tragen letztere insofern eine Mitschuld am Zustand der unabhängigen Filmkritik, indem sie einen unlauteren Wettbewerb zwischen Publikationen fördern, die sie vor die Wahl stellen: Werbung oder Kritik. Wäre die Lage eine andere, dann hätte möglicherweise das Filmmagazin Schnitt nicht gerade seine Türen schließen müssen." Sehr lesenswert sind im übrigen auch die Kommentare unter dem Artikel.

Auf in die Bibliotheken: Der Lyrikkritiker Michael Braun liest für den Poetenladen Zeitschriften über Lyrik.

(via Peter Glaser) Wir verstehen leider kein Polnisch und können darum auch nicht sagen, was Booklips über diese Fotos schreibt, auf denen Autoren wie Imre Kertesz und William Faulkner in Badekleidung ihrem Freizeitvergnügen nachgehen. Hier lächeln Max Brod und Franz Kafka für die Kamera:



(via Bookslut) Die schönen Augen und die Schüchternheit Kafkas fielen 1912 auch dem Verleger Kurt Wolff auf, den Michael Handelzalts in Haaretz zitiert. Brod hatte Kafka in Wolffs Büro gebracht: "'May Max Brod forgive me for what I am about to say, since I'm the last person who would want to diminish the incalculable service he performed for his friend, both during his lifetime and afterward - but in the very first moment I received an indelible impression: The impresario was presenting the star he had discovered.' What of the 'star'? Wolff continues: 'If the impression was embarrassing, it had to do with Kafka's personality; he was incapable of overcoming the awkwardness of the introduction with a casual gesture or a joke. Oh, how he suffered. Taciturn, ill at ease, frail, vulnerable, intimidated like a schoolboy facing his examiners, he was sure he could never live up to claims voiced so forcefully by his impresario. Why had he ever got himself into this spot; how could he have agreed to be presented to a potential buyer like a piece of merchandise! ... I breathed a sigh of relief when the visit was over, and said good-bye to this man with the most beautiful eyes and the most touching expression, someone who seemed to exist outside the category of age.'"

Freitag, 25.10.2012

Christine Käppeler besucht die Spex-Mitbegründerin und heutige Übersetzerin Clara Drechsler, die gerade mit Harald Hellmann Tom Wolfs "Sound" übersetzt hat, ein Roman, der wie eine HipHop-Platte mit mehreren Stimmen konzipiert ist, so Käppeler. Kann man das überhaupt übersetzen? "Nicht übersetzbare Bücher, sagt sie, gibt es nicht. Nur dürfe man nicht erwarten, dass die Anmutung dieselbe bleibt. Was heißt das für Tom Wolf? 'Man stelle sich ein amerikanisches HipHop-Stück vor, ein schöner Flow, eine sonore Stimme mit einem tiefen Bass. Der Sound verbreitet ein ganz anderes Gefühl, wenn das ein 27-jähriger Hamburger rappt. Das eine mag vom anderen inspiriert sein, aber es klingt anders. Schon weil die Wörter im Deutschen weniger süffig ineinanderfließen.'"

Und: Michael Angele mokiert sich über den Jargon der Genderforschung, die in Berlin mit einer aktuellen Vorlesungsreihe brilliert. Eine der Fragen: "Wie wird der Körper durch Geschlechter- und Sexualpolitiken mobilisiert, etwa in Bezug auf Fortpflanzung oder Sexismen?"

FAZ, 25.10.2012

Sehr vorbildlich findet Julia Voss die großen Ausstellungen über Kunst in der DDR, die derzeit in Weimar, Gera und Erfurt zu sehen sind: "Vieles (...) sollte seinen Platz in den großen Kunstsammlungen haben, auch im Westen unserer Republik. Mehr noch: Von der vorbehaltlosen Aufarbeitung der ostdeutschen Kunstgeschichte kann die westdeutsche Kunstgeschichte viel lernen. Wie wurde bei uns Symbolpolitik mit der Moderne betrieben? Welche Ideologie befeuerte den Kult um die Abstraktion? Wer machte im Westen Karriere - und wer fiel aus dem Rahmen?" Auch deshalb keimt in ihr ein Gedanke: Eine vergleichbare Ausstellung für Westdeutschland muss her: "Bildwelten der Bundesrepublik".

Melanie Mühl kann sich mit dem Gedanken, dass offenbar immer mehr Frauen den Wunsch verspüren, das Geschlecht ihres Kindes vorab bestimmen zu können, nicht anfreunden: "Solange die Natur für Fakten sorgt, muss man sich keine Vorwürfe machen und kann zumindest einen Teil der quälenden Gedanken von sich schieben. Nimmt man der Natur diese Aufgabe aber ab, ist das anders."

Weitere Artikel: Eleonore Büning resümiert die Donaueschinger Musiktage (wo man bereits um das zukünftig qua Fusion wegrationalisierte SWR-Orchester trauert). Bert Rebhandl erzählt von den Entdeckungen, die er beim Berliner Festival doku.arts gemacht hat. Oliver Jungen fasst die Kölner Tagung "Dokumentarische Verfahren in der Kunst" zusammen. Thomas Brock informiert über finanzielle Engpässe der Archäologie in Nordrhein-Westfalen.

Besprochen werden Moritz Eggerts Vertonung von Edgar Allan Poes Gedicht "Der Rabe" (Hörproben), der israelische Film "Policeman", die Ausstellung "Erinnerung - Bild - Wort" im Jüdischen Museum in Frankfurt, zwei Ausstellungen im Deutschen Historischen Museum (dem Andreas Kilb gleich noch zum 25jährigen Bestehen gratuliert) und Bücher, darunter ein neuer Band mit Erzählungen von Charles D'Ambrosio (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 25.10.2012

Ziemliches Magengrummeln beschleicht Richard Beck angesichts des sagenhaften Erfolgs der von den "24"-Machern produzierten Showtime-Serie "Homeland", in der sich ihm die Hybris der US-Liberalen zeigt: Diese "wollten etwas Besseres. ... (Diese Serie) entlarvt diesen politischen Narzissmus der Liberalen. 'Homeland' zeigt nämlich, was die Liberalen in ihrem tiefsten Inneren wirklich wollen: die republikanische Paranoia zu ihrer eigenen machen und selbst davon profitieren." In einem Tweet bringt Beck seinen Artikel auf den Punkt. Bereits im Mai konnte man übrigen bei Prospect erfahren, warum die israelische Serie, auf der "Homeland" basiert, besser ist.

Weiteres: Die Donaueschinger Musiktage waren von erbitterten Protesten gegen die geplante Fusionierung der SWR-Sinfonieorchester in Baden-Baden und Freiburg begleitet, berichtet Wolfgang Schreiber. Rudolf Neumaier kennt die Leser des unter katholischem Deckmäntelchen agierenden, rechtsradikeln Blog kreuz.net: "In jedem deutschen Bistum abonniert mindestens eine bischöfliche Einrichtung den Newsletter der Volksverhetzer". Lothar Müller gratuliert dem Romanisten Jürgen Trabant zum 70. Geburtstag. Außerdem würdigen die SZ-Kritiker Don Siegel, der morgen 100 Jahre alt geworden wäre. Wir erinnern uns mit einem der ikonischsten Momente, die Siegel inszeniert hat, mit:



Besprochen werden eine Ausstellung mit Naturfotografien von Hiroshi Sugimoto im Museum Brandhorst in München (Burcu Dogramaci kann diese Lektion in "Entzeitlichung" nur wärmstens empfehlen), der Film "Robot & Frank" und Bücher, darunter David Smalls Comic "Stiche" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 25.10.2012

Ulrich Beck und Daniel Cohn-Bendit, die Initiatoren des "Manifests für ein Europa von unten", wehren sich gegen die Klage des stellvertretenden Zeit-Chefredakteurs Bernd Ulrich über zuviel Ideologie in der Europa-Debatte. Mit Verweis auf die Artikelreihe "Germany - the accidental empire" des Guardian argumentieren sie, Deutschland sei durch die Euro-Krise nun einmal eine Schlüsselrolle zugefallen, und es sei die Aufgabe von "Merkiavelli", mit dieser Rolle verantwortungsbewusst umzugehen. "Sie, lieber Bernd Ulrich, sind erschrocken über den revolutionären Tonfall - das ist verständlich. Aber die Ereignisse haben diesen Tonfall."

Im Feuilleton nimmt der Literaturwissenschaftler Michel Chaouli die Beschneidungsdebatte wieder auf und plädiert für eine Legalisierung aus ethischer Vernunft, nicht aus schlechtem Gewissen gegenüber den Juden: "Wenn die Beschneidung, wie Merkel sagt, allein als ein dem deutschen Souverän abgetrotztes 'Sonderrecht' der Juden gelten kann, dann reicht ihre Duldung als weiterer Grund dafür, warum die Deutschen den Juden den Holocaust nie verzeihen werden."

Weiteres: Der Havard-Philosoph Michael Sandel tourt um die Welt und spricht darüber, wie die Logik des Marktes unsere moralischen Werte erodiert, berichtet Elisabeth von Thadden. Hier ein Ausschnitt seines Auftritts vor 14.000 Studenten in Seoul. Sein Buch "Was man für Geld nicht kaufen kann" erscheint am 9. November im Ullstein Verlag. Nina Pauer hat anlässlich der Ausstellung zum "Mythos Atelier" in der Staatsgalerie Stuttgart junge Künstler in ihren Ateliers besucht. Franziska Bulban findet heraus, dass uns Lebenshilfe-Apps nicht unbedingt zu besseren Menschen machen. Maxim Biller erzählt von einem Treffen mit Etgar Keret in den Hackeschen Höfen.

Besprochen werden Detlev Bucks Verfilmung von Daniel Kehlmanns Bestseller "Die Vermessung der Welt" ("eine Bilderflut, aber kein Kino", urteilt Thomas E. Schmidt), Luc Bondys Inszenierung von Harold Pinters "Heimkehr" am Pariser Odéon (in der Bruno Ganz "die vielleicht robusteste, vulgär-widerspenstigste Gestalt seiner Bühnenkarriere" spielt, wie Peter Kümmel berichtet), Philipp Stölzls Neuinszenierung von Wagners "Parsifal" zum 100. Geburtstag der Deutschen Oper (bei der irgendwann "selbst der jubiläumswilligste Zuschauer nichts mehr begreift", so Christine Lemke-Matwey), eine Ausstellung mit Werken Jan van Eycks in Beuningen (die den Künstler als "Meister des irrealen Realismus" erkennen lässt, wie Hanno Rauterberg meint) sowie Bücher, darunter Jenny Erpenbecks Roman "Aller Tage Abend" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Zeit im Osten ziehen Martin Machowecz und Stefan Schirmer mit Christian Thielemann, dem Chefdirigenten der Dresdner Staatskapelle, durchs Nachtleben Dresdens. Im Dossier geht es um zwei Jubilare: Zum Kinostart von "Skyfall" wird der 50jährige James Bond gefeiert, unter anderem mit einem ausführlichen Interview mit Produzentin Barbara Broccoli. Außerdem erinnert Benedikt Erenz anlässlich des 100. Geburtstags an Jean Améry, dessen Essay "Die Vielen und ihr Eigentum" abgedruckt ist.