Heute in den Feuilletons

Die kochen mit Bouillon

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2010. Die Diskussion um den Mordanschlag an Kurt Westergaard geht weiter. Der Tagesspiegel kritisiert die SZ, welche Westergaards Zeichnung wegen mangelnder Qualität für nicht verteidigenswert befand.  Der Zeichner war selbst schuld, denn er ist mindestens so verblendet wie sein Attentäter, meint die Südwestpresse. Die Dänen sind eben ein Volk ohne Religion, findet Nancy Graham Holm im Guardian. In Telepolis wird mitgeteilt, welche Autorenrechte in diesem Jahr gemeinfrei wurden: unter anderem die von Sigmund Freud und Joseph Roth. Die NZZ fürchtet ein städtebauliches Desaster am Ground Zero

Tagesspiegel, 05.01.2010

Es gibt ja nicht den "einen" Islam, behaupten muslimische Funktionäre und kritikophobe Unterstützer in westlichen Medien, vor allem nach Mordanschlägen und Entführungen. Oder jedenfalls: Es kommt immer auf den Diskussionszusammenhang an, erläutert der in Kopenhagen und München lebende Autor Hamed Abdel-Samad in einem Kommentar zu dem Attentat auf Kurt Westergaard: "Wenn Muslime selbst vom Islam reden, im Zusammenhang etwa mit der Einführung von Islamunterricht an europäischen Schulen oder der Beantragung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, dürfen sie von einem einzigen Islam reden. Wenn Muslime von der 'Religion des Friedens' sprechen, sagen sie nicht, welchen Islam sie meinen. Wenn aber Islamkritik auftaucht, kommt ein Taschenspielertrick, um die Kritik abzuwürgen: Von welchem Islam reden Sie überhaupt?"

Peter von Becker findet den gestrigen Artikel des SZ-Feuilletonchefs Andrian Kreye, der Kurt Westergaards Mohammed-Karikatur wegen mangelnden künstlerischen Werts für nicht verteidigenswert erklärte, "doppelt absurd: Weil die Kunst- und Meinungsfreiheit der UN-Menschenrechte ebenso wie ihre Garantie in demokratischen Verfassungen gerade keine Vergleich oder Unterschiede kennt. Sie gilt für Dumme und Kluge, Großköpfe und Kleinhirne gleichermaßen. Und wo diese Freiheit mit den Rechten anderer kollidiert, ist der Konflikt auf dem Rechtsweg zu lösen - nicht durch Lynchjustiz."

Weitere Medien, 05.01.2010

Der chinesische Autor und Dissident Liu Xiaobo geht in Berufung, meldet die New York Times mit AP und zitiert Lius Anwalt Shang Baojun: "Wir strengen uns an, seine Unschuld zu verteidigen, aber wir haben keine Ahnung, ob das erfolgreich sein wird." Liu ist Mitautor der Charta 08 und wegen seiner Forderungen nach einer Demokratisierung Chinas zu elf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Der Guardian berichtet zugleich von einer Protestaktion des PEN American Center in New York, bei der Autoren wie Don DeLillo und Edward Albee aus den Werken Lius lasen (von einer ähnlichen Aktion in Deutschland ist bisher nichts bekannt geworden.)

Die Reihe bestürzender Kommentare zum Mordanschlag auf Kurt Westergaard in angeblich liberalen Medien lässt sich beliebig verlängern. In der "Comment is Free"-Section des Guardian beschuldigt Nancy Graham Holm die Dänen, ein religionsloses Volk zu sein: "Publishing Kurt Westergaard's cartoons was an aggressive act born of Denmark's reluctance to respect religious belief."

In der SüdwestPresse schreibt Eugen Röttinger: "Westergaard wollte bewusst provozieren. Und er provoziert, fern jeder Verantwortung unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit, munter weiter: Für ihn sponsort pauschal der Islam den Terror. Er ist mindestens so verblendet wie sein Attentäter."

Aus den Blogs, 05.01.2010

Peter Mühlbauer hat sich in Telepolis die Mühe gemacht nachzuschlagen und erzählt, welche Werke welcher Autoren und Künstler in diesem Jahr gemeinfrei werden: "Betroffen sind nicht nur Literaten, Komponisten und Künstler, sondern auch Wissenschaftler. Aus ihren Reihen stammt wahrscheinlich der bedeutendste Einzelbeitrag zu den gemeinfreien Neuzugängen: Das Werk des Arztes Sigmund Freud." Auch Joseph Roths wunderbare Romane und Feuilletons sind jetzt gemeinfrei.

Bernd Zeller antwortet in der Achse des Guten auf den gestrigen SZ-Kommentar Andrian Kreyes zum Mordanschlag auf Kurt Westergaard. "Die Süddeutsche Zeitung begnügt sich nicht mit dem nach jedem islamischen Anschlag, der nichts mit dem Islam zu tun hat, üblichen Vergleich von Antisemitismus und Islamophobie, sie erklärt auch flugs die Mohammed-Karikatur samt Karikaturisten aufgrund karikaturistischer Plumpheit für nicht schützenswert. Die Frage: 'Was zählt mehr? Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit? Oder der Respekt für religiöse Gefühle?' lässt dann auch gleich die Frage nach der Abwägung, ob das Leben des Zeichners auch was zähle, weg."

Beim PEN American Center haben wir ein Video der schütteren, und darum umso rührenderen New Yorker Protestveranstaltung für Liu Xiaobo gefunden:

Welt, 05.01.2010

Im Interview mit Peter Zander erzählt Schauspieler Christoph Waltz, wie famos es in Hollywood ist, wo er gerade mit Michel Gondry "The Green Hornet dreht": "Die Crew ist eine der besten, die es gibt. Aber naja, die kochen auch nur mit Wasser, wie man so schön sagt. Nein, sagen wir so: Die kochen mit Bouillon."
 
Weiteres: Hanns-Georg Rodek meldet im Aufmacher, dass der Propagandafilm "Stolz der Nation", den sich Quentin Tarantino für seine "Inglourious Basterds" ausgedacht hat, ab nächster Woche als zehnminütiger Bonustrack auf der DVD zu sehen sein wird. Katja Ridderbusch stellt den australischen Musiker Dyko vor, den offenbar eine Vorliebe für deutschen Elektropop plagt. Gernot Facius eröffnet den Erinnerungsreigen an den vor 450 Jahren gestorbenen Philipp Melanchthon.

Besprochen werden eine Ausstellung des Schweizer Alpenmalers Caspar Wolf im Düsseldorfer Museum Kunst Palast und eine Schmuckausgabe des Comics "Blankets".

NZZ, 05.01.2010

Andrea Köhler wirft einen Blick auf das "städtebauliche Debakel", zu dem sich Ground zero zu entwickeln droht: "Die Fertigstellung des 'World Trade Center Number 1', vormals hochtrabend 'Freedom Tower' getauft, verzögert sich bis zum Jahr 2018 - einmal abgesehen davon, dass Daniel Libeskinds bis zur Unkenntlichkeit revidierter Entwurf ein typisches Produkt unzähliger Kompromisse ist. Auch Santiago Calatravas U-Bahn-Station, deren kühnes Design aus Kostengründen ebenfalls drastisch verändert wurde, soll erst in acht Jahren eröffnet werden. Nicht einmal das 'September 11 Memorial' wird zum zehnten Jahrestag der Katastrophe fertig sein. Glaubt man dem Bauherrn Larry Silverstein, dessen Gerangel mit den Behörden maßgeblich zu den Verzögerungen beigetragen hat, ist mit der Fertigstellung frühestens im Jahre 2037 zu rechnen." Zügiger wird es mit der neuen Kultur- und Gebetstätte gehen, die die Sufi-Moschee Al Farah aus TriBeCa am Ground zero errichten will.

Weiteres: Roman Hollensteins Text über Dubais neuen Wolkenkratzer, den 828 Meter hohen Burj Khalifa, wurde offenbar ohne die letzten Aktualisierungen ins Blatt gehoben wurde, lobt aber bei allen Vorbehalten die architektonische Qualität.

Auf der Medienseite begutachtet Norbert Neininger-Schwarz all die Newsrooms, zu denen die Verlage ihre Produktionsappparate umgebaut haben.

Besprochen werden Bücher, darunter John Burnsides Roman "Glister", Ulrich Bechers neuaufgelegter Roman "Murmeljagd" und Kurt Aeblis Prosaband "Der Unvorbereitete" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 05.01.2010

Jan Wagner porträtiert den amerikanischen Dichter Walt Whitman, dessen "Grasblätter" von Jürgen Brocan in einer "immensen übersetzerischen Leistung" neu ins Deutsche übertragen wurden. Die "Grassblätter" wurden erstmals 1855 veröffentlicht und zeichneten sich, so Wagner, durch einen radikaldemokratischen Ansatz, eine unbefangene Körperlichkeit und programmatische Subjektivität aus. "Dass sich ein solches Projekt auch in formaler Hinsicht neue Wege bahnen musste, versteht sich fast von selbst. Nicht nur verzichtet Whitman auf allen 'romantischen Plunder', wie er es nennt, er bricht auch mit den Konventionen von Rhythmus, Strophe und Reim, dem gesamten europäischen Erbe also, ja er geht noch einen Schritt weiter: In einem Essay spricht er sich dafür aus, die herkömmlichen Grenzen zwischen Prosa und Lyrik niederzureißen - und setzt dies als Erster konsequent in die Praxis um. Die 'Grasblätter' sind in Langzeilen verfasst, in einem freirhythmischen vers libre, der nicht auf Binnenreime und erst recht nicht auf Musikalität verzichtet, sich aber gleichzeitig der gesprochenen Alltagssprache annähert."

Weitere Artikel: Sebastian Moll berichtet über die Eröffnung eines riesigen City Centers in Las Vegas. Hans-Klaus Jungheinrich feiert die neu aufgelegten Schönberg-Einspielungen des Pianisten Eduard Steuermann (hier Steuermanns Arrangement von Schönbergs "Verklärter Nacht" für Klaviertrio zum Hören). Auf der Medienseite erklären Casper von Veltheim und Fred Krueger von der Firma Minds and Machines, warum wir im Netz neue Top-Level-Domains wie .berlin und .nyc brauchen.

TAZ, 05.01.2010

Französische Künstler zieht es nach Berlin, berichtet Simone Jung, die sich gleichzeitig mit Boris Groys fragt, ob das deutlich leichtere Leben hier denn auch zu Qualität führt. Micha Brumlik denkt anlässlich des Schweizer Minarettentscheids mit Alain Badiou, Jacques Derrida, Jean-Luc Nancy und Jacques Ranciere über "Demokratie" nach.

Besprochen werden eine Ausstellung zu den Kulturkämpfen in Wien von 1919 bis 1934 im Wien Museum, die Ausstellung "Nicht einfach, die Welt in 90 Tagen zu retten" im Berliner Kunstraum Tanas und Karl Marx' "Das Kapital" als Hörbuch (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

FAZ, 05.01.2010

Der irische Autor John Banville kommentiert die jüngsten, mit landesweiter Bestürzung aufgenommenen Enthüllungen um Kindesmissbrauch in der Familie des Sinn-Fein-Chefs Gerry Adams. Sein Bruder wie sein Vater haben offenbar Kinder sexuell missbraucht (nicht aber er selbst, wie die FAZ-Unterzeile "Die späten Enthüllungen über den Kindesmissbrauch des Sinn-Fein-Chefs Gerry Adams stürzen ganz Irland in eine Gewissenskrise" behauptet). Unwissend war Adams allerdings nicht: "Seit mehr als zwanzig Jahren wusste Gerry Adams von diesen Beschuldigungen - und schwieg die ganze Zeit, während sein Bruder, eine prominente Sinn-Fein-Figur, als Sozialarbeiter in einem Jugendprojekt in Dundalk in der Republik Irland tätig war." Banville verschweigt nicht den wesentlichen Anteil der Katholischen Kirche an den jetzt aufgedeckten massiven Praktiken von Kindesmissbrauch - offengelegt im Murphy-Bericht.

Mark Siemons berichtet, dass sich in China nun doch die Stimmen von Intellektuellen mehren, die sich offen kritisch zum Urteil gegen Liu Xiaobo äußern: "'Das ist schwer zu verstehen, ich fühle mich sehr verletzt', sagt der Filmregisseur Jia Zhangke ('Still Life'): 'Heißt das, dass von nun an niemand mehr für dieses Land denken darf?'" Umso bemerkenswerter findet Siemons die Offenheit, obwohl "die meisten der Befragten, die sich so freimütig äußern, an staatlichen Institutionen angestellt" sind. "Über die politischen Differenzen hinweg scheint unter vielen Intellektuellen Konsens über die Integrität Lius und die Fatalität des staatlichen Vorgehens zu herrschen. 'Liu ist ein friedlicher und vernünftiger Kritiker, und ihn einzukerkern ist ein Zeichen von Schwäche, das sehr schwer zu akzeptieren ist', sagt der Literaturwissenschaftler und Lu-Xun-Forscher Qian Liqun von der Peking-Universität." (Alle Links in der Perlentaucher-Blogrundschau von Silvester.)

Weitere Artikel: In der Glosse plädiert Dirk Schümer für ganzjähriges Weihnachten. Jan Brachmann trifft den Pianisten Alexej Lubimow in Moskau. Lorenzo Bellettini gewährt Einblicke in die unveröffentlichte - und, wie er findet, exemplarische - Korrespondenz zwischen Arthur Schnitzler und Felix Salten. Arnold Bartetzky beklagt die ästhetische Umweltverschmutzung, die die Außendämmung zuvor schöner Altbauten (nicht nur) in Hamburg bedeutet.

Besprochen werden die Ausstellung "Tim Burton and the Lurid Beauty of Monsters" im New Yorker Museum of Modern Art, die Ausstellung "Daniel Buren - 'Modulation. Arbeiten in situ'" im Nürnberger Neuen Museum und Bücher, darunter Samuel Webers Überlegungen "Zeit ist Geld" zu "Kredit und Krise" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 05.01.2010

Burkhard Müller ist nicht allzu beeindruckt von Bauten wie dem Burj Dubai, der mit Rücksicht auf den wohltätigen Zwischenfinanzierer aus dem konservativen Abu Dhabi jetzt Burj Khalifa heißt: "Sie wollen gar keine Häuser mehr sein, eher so etwas wie Mondraketen: auf den Zweck fixiert, in maximale, noch nie erreichte Höhen aufzuschießen, und zu diesem Zweck selbst nur noch ein Mittel."

Die amerikanische Publizistin Marcia Pally untersucht die religiösen Kräfteverhältnisse in ihrem Land und kommt zu dem Ergebnis, dass die gemäßigten Evangelikalen wesentlich stärker sind als die religiöse Rechte: "Obama könnte der Nutznießer sein. Wo mehr Gläubige Positionen aus der Mitte oder dem progressiven Lager einnehmen, wird zum ersten Mal, seit in den sechziger Jahren die Allianz zwischen Republikanern und Religiösen begann, eine Zusammenarbeit mit den Demokraten möglich."

Weitere Artikel: Als "verrücktes Kinostück" bespricht Fritz Göttler Terry Gilliams Film "Das Kabinett des Dr. Parnassus" (mehr hier), dessen Dreharbeiten wegen des Todes von Heath Ledger unterbrochen werden mussten - Ledgers Freunde Colin Farrell, Jude Law und Johnny Depp übernahmen den Part dann. Gemeldet wird, dass James Camerons "Avatar" inzwischen eine Millarde Dollar eingespielt hat. Jörg Königsdorf stellt den Organisten Cameron Carpenter vor, der sich mit Liegestützen und Dauerlauf auf seine Konzerte vorbereitet und zum Liszt (oder Gary Glitter?) der Orgel werden möchte. Jens Bisky besucht das renovierte Schloss Schönhausen (mehr hier), das einstige Gästehaus der DDR, in Berlin. Wolfgang Schreiber empfiehlt dringend einen Liederzyklus des fast vergessenen Othmar Schoeck (1886-1957), der jetzt vom Rosamunde Quartett und dem "glühend expressiven" Christian Gerhaher eingespielt wurde.

Besprochen werden die Ausstellung "Mit Napoleon in Ägypten - Die Zeichnungen des Jean-Baptiste Lepere" in Köln und Bücher, darunter Kurt Kreilers Biografie des elisabethanischen Aristokraten Edward de Vere (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).