Heute in den Feuilletons

Fünf Buchstaben in fünfzig Jahren

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.07.2009. Die Welt verabschiedet ohne Grimm den Grimm. In der NZZ erklärt Otfried Höffe, warum er lieber von "Unterjüngung" als von "Überalterung" spricht. Die Zeit untersucht die deutsche und muslimische Gefühlswelt. Die FR wünscht sich eine Fatwa gegen die NPD. Die SZ beklagt das Studentenbild der Bologna-Reformer.

Welt, 16.07.2009

Matthias Heine blickt auf die lange Editionsgeschichte von Grimms Deutschem Wörterbuch zurück, die ab 2012 nicht fortgeschrieben wird: "Die alte Art, den 'Grimm' zu machen, war eine so aufwendige Angelegenheit, dass das unter heutigen Bedingungen nicht mehr gewünscht ist", zitiert Heine den zuständigen Wissenschaftsdirektor der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und fragt, ob man nicht einfach auch hätte schneller arbeiten können - bisher lag das Aktualisierungstempo bei ungefähr fünf Buchstaben in fünfzig Jahren.

Land unter, ruft Marko Martin aus Manaus. Die Amazonas-Stadt steht unter Wasser und mit ihr natürlich auch das Teatro Amazonas: "Hätte es nicht bereits Hunderte von Blech- und Holzhütten weggespült und die Ärmsten der Armen um ihre Bleibe gebracht, würde nicht die Angst vor Seuchen grassieren und die korrupte städtische Bürokratie nicht erwartungsgemäß wieder einmal ihre Unfähigkeit demonstrieren - das Naturschauspiel wäre durchaus ästhetisch zu goutieren. Die Moritat von schnellem Aufstieg und scheinbar endlosem Fall der Dschungelstadt Manaus, hier wird ihr außerhalb der Bühne des 1896 erbauten Opernhauses gerade eine neue Strophe hinzugefügt."

Weiteres: Eckhard Fuhr sieht gute Chancen auf eine gütliche Einigung im Bayreuther Tarifstreit. Berthold Seewald besichtigt die Ausstellung "Die Gerufenen", die das Zentrum gegen Vertreibung der ausgleichenden DHM-Ausstellung über das Verhältnis von Deutschen und Polen entgegensetzt. Manuel Brug und Kai Lührs-Kaiser wägen Vor- und Nachteile von Koproduktionen im Opernbereich. Florian Stark begutachtet das neue heute-Studio.

Auf der Filmseite erzählt Eberhard von Elterlein die mittlerweile vierzigjährige Geschichte des Berlinale-Forums. Elterlein feiert auch Mario Bechis Film über die Guarani-Kaiowa-Indianer des brasilianischen Regenwalds "Birdwatchers". Cosima Lutz lobt das Debüt der Theaterautorin Gesine Danckwart.

NZZ, 16.07.2009

Otfried Höffe, Philosoph und Präsident der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin, lehnt den Begriff der "Überalterung" ab und will lieber von "Unterjüngung" der Gesellschaft sprechen, von einer misslichen Verteilung der Lebensalter. Wer aber "behauptet, der Anteil der Älteren in unserer Gesellschaft sei gestiegen, macht eine Voraussetzung, die der kritischen Überprüfung nicht standhält. Er geht nämlich davon aus, dass der Beginn des 'Alters' bei einer bestimmten Anzahl von Jahren, etwa bei sechzig, fünfundsechzig oder siebzig Jahren, zu fixieren ist. Den deutlich verbesserten körperlichen und geistigen Zustand der Älteren und ihre zunehmende Lebenserwartung dagegen berücksichtigt er nicht."

Besprochen werden die Ausstellung "Tizian, Tintoretto, Veronese: Rivals in Renaissance Venice" in Boston und Bücher, darunter Judith Butlers Studie "Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen" (mehr hier und in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Auf der Filmseite geht's um die neueste Harry-Potter-Episode und um den Film "Kleine Tricks" des polnischen Regisseurs Andrzej Jakimowski.

Perlentaucher, 16.07.2009

Gestern fand in Frankfurt unter Schirmherrschaft der FAZ eine Tagung zum "Heidelberger Appell" statt, in der nach Läuten der kulturkonservaitven Sturmglocken vor allem die Frage stand, wer wie viel Prozent bekommt, berichtet Thierry Chervel: "Es war die Stunde Roland Reuß', dessen verbliebene Haarpracht den Kahlkopf umkränzt, als sei sie aus Lorbeer geflochten. Das passte zur Feierlichkeit seines Diskurses. Reuß ist Erfinder des Heidelberger Appells. Von 'Hingabe' war die Rede, von 'Sorge', 'Verantwortung' und 'Werkherrschaft'."

Weitere Medien, 16.07.2009

(via 3 quarks daily) In The New Left Review schreibt Fredric Jameson über Alexander Kluges Filmessay über Karl Marx: "Many important intellectuals have - as it were, posthumously - endorsed Marxism: one thinks of Derrida's 'Spectres of Marx' and of Deleuze's unrealized 'Grandeur de Marx', along with any number of more contemporary witnesses to the world crisis ('we are all socialists now', etc.). Is Kluge?s new film a recommitment of that kind? Is he still a Marxist? Was he ever one? And what would 'being a Marxist' mean today? The Anglo-American reader may even wonder how the Germans in general now relate to their great national classic, with rumours of hundreds of 'Capital' reading groups springing up under the auspices of the student wing of the Linkspartei."

Zeit, 16.07.2009

Im Politikteil suchen Christian Denso, Martin Spiewak, Michael Thumann und Bernd Ulrich nach einer Antwort auf die Frage, warum die deutsche Gesellschaft und vor allem die Medien auf den Mord an der Ägypterin Marwa al-Sherbini im Dresdner Landgericht erst reagierten, als das muslimische Ausland sie mit Protesten hochschreckte. "'Es war keine böse Absicht, sondern eher Gleichgültigkeit und Ignoranz', meint Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime. Noch fehlt uns Sensibilität für die muslimische Gefühlswelt. Noch immer hat man das Gefühl, dass die deutsche Gesellschaft mit dem Rücken zu ihren Migranten lebt, dasss sie ihnen zu wenig gibt und zu wenig von ihnen verlangt. Noch immer sind hier 'wir' und da 'sie' - die Identifikation und die selbstverständliche Solidarität fehlen, und das ist es, was die Muslime in der trägen öffentlichen Reaktion auf die Mordtat von Dresden gespürt haben mögen."

Im Wissenteil berichtet Martin Spiewak von "Absagen hochkarätiger [ausländischer] Forscher, die aus Gründen der Sicherheit nicht in einem Labor in Dresden oder Leipzig arbeiten wollen".

Außerdem: Eine Augenzeugin erzählt, wie sie in die Auseinandersetzungen zwischen Uiguren und Han-Chinesen geriet. Amir Azimi, Leiter des BBC Persian TV, beschreibt im Interview die schwierige Arbeit des Senders während der Demonstrationen im Iran (einen guten Bericht darüber gab es auch in Spiegel online). Und der CDU-Politiker Eckart von Klaeden antwortet auf Martin Walsers Brief an die Kanzlerin in der letzten Ausgabe der Zeit.

Im März hatte Roland Kirbach im Zeit-Dossier beschrieben, wie wie deutsche Gemeinden ihre Infrastruktur nach Amerika verscherbeln (hier nachzulesen). Heute legt er nach und stellt fest: kein Staatsanwalt ermittelt, und die Städte haben mit den Banken auch noch um die Zinsen gewettet.

Im Feuilleton nimmt Christine Lemke-Matwey die durch ein Knötchen auf den Stimmbändern erzwungene Pause des Tenors Rolando Villazon zum Anlass, die gnadenlose Ausbeutung von Opernsängern zu beschreiben. Abgedruckt ist eine Rede von Gregor Gysi über die Kunst der Rede. Angela Köckritz fürchtet in der Leitglosse um das kulturelle Erbe der Minderheiten in China. Reiner Luyken besucht das wiedereröffnete irakische Nationalmuseum in Bagdad. Hanno Rauterberg würdigt 90 Jahre Bauhaus. Harald Martenstein durfte ein Wochenende lang in Oskar Schlemmers Haus in Dessau wohnen und verarbeitet diese Erfahrung unter der Überschrift "Ein ungemütliches Angeberhaus". Der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert E. Norton widerspricht der These des Stefan-George-Biografen Thomas Karlauf, George habe Claus Schenk Graf von Stauffenberg zum Attentat auf Hitler ermutigt: "Als Stauffenberg seinen unvorstellbar mutigen und einsamen Versuch unternahm, hat er sich von zentralen Idealen und Werten Georges losgesagt. Stauffenberg hat die Achtung, die man ihm jetzt zuerkennt, auf schwerste Weise verdient. Dafür verdient aber Stefan George keine." Jürgen Habermas gratuliert dem Philosophen Axel Honneth zum Sechzigsten. In einem kurzen Interview äußert der in Gießen lehrende Historiker Dirk van Laak Kritik am Solar-Großprojekt Desertec. Wolfgang Schreiber stellt die französische Sopranistin Sandrine Piau vor.

Besprochen werden der neue Harry-Potter-Film, Marco Bechis' Film "Birdwatchers", Anselm Kiefers Inszenierung von Jörg Widmanns Oper "Am Anfang" in Paris, Zoran Solomuns Film "Super Art Market" ("ein stiller Enthüllungsfilm über den Irrsinn des Kunstbusiness", lobt Kito Nedo und Bücher, darunter Monika Marons "Bitterfelder Bogen (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 16.07.2009

In Times mager wünscht sich Natalie Soondrum, in Deutschland würde sich jemand ein Beispiel an dem iranischen Ayatollah Montaseri nehmen und eine Fatwa gegen die NPD aussprechen: "Würde nur auch hier im Westen, in Deutschland, eine ähnlich respektable Person aufstehen und noch einmal unsere Werte in einer so kultivierten Sprache und Form verkünden wie Montaseri die seinen in der Fatwa. Würde nur jemand aufstehen und aufschreien gegen die Partei, die der Mörder aus Dresden bewundert und noch einmal entschieden versichern, dass deren Werte die einer Unkultur sind."

Oh, super! Während hierzulande das Internet nur im Zusammenhang mit Kinderpornografie, Urheberrechtsverletzungen und Onlinesucht diskutiert wird (bei uns kommt man halt nur groß raus, wenn man was verhindert), haben einige israelische und palästinensische Programmierer beschlossen, gemeinsam Google Konkurrenz zu machen und ein Internetprojekt für Cloud Computing gestartet, G.ho.st. Inge Günther erzählt auf der Medienseite der FR, wie es dazu kam. Eine kurze technische Beschreibung findet man bei meedia.de.

Besprochen werden die von Erika Steinbach initiierte Ausstellung "Die Gerufenen" über deutsches Leben in Mittel- und Osteuropa im Berliner Kronprinzenpalais ("unterkomplex", meint Harry Nutt), Daniele Thompsons "köstliche" Filmkomödie "Affären a la Carte", Marco Bechis' Film "Birdwatchers", John Maddens Film "Killshot" und Kaushik Sunder Rajans Buch "Biokapitalismus" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Jürgen Otten sah beim Theaterfestival Athen Nicholas Hytners "klassisch-pathetische" Inszenierung von Racines "Phädra" und ist hin und weg von Helen Mirrens Spiel: "Man verfällt ihr, in jeder Sekunde." Hier eine Szene:


TAZ, 16.07.2009

Katrin Bettina Müller berichtet vom Theaterfestival in Athen und Epidaurus. In den antiken Theatern sieht manch internationaler Star sehr klein aus, findet sie. Nicholas Hytners Inszenierung der "Phädra" mit Helen Mirren erschien ihr "museal und hölzern. Als ob der Regisseur Nicholas Hytner versucht hätte, mit Racines Text (in klar artikuliertem Oxford-Englisch) zugleich das deklamatorische Gestenrepertoire der Klassik wieder zu rekonstruieren, werden Arme zum Himmel erhoben, Handflächen geöffnet, Kniefälle geübt." Ganz anders dagegen Johan Simons Inszenierung von Horvaths "Kasimir und Karoline": "... während die Achterbahn faucht, die Spielautomaten rattern und ein wenig nationalsozialistische Propaganda sich vor die Zukunft schiebt, schwitzen die Figuren ihre Ängste aus, als hätten sie ihr Bier nur drei Häuser weiter getrunken. Die historische Kulisse der steinernen Bögen und Türme des Odeon bildet hier keine respektheischende Figur der Beeindruckung, sondern fügt sich in die durchlässige Raumstruktur, die der Berliner Bühnenbildner Bert Neumann aus Wellblechwänden, Gerüsten, Leuchtzeichen und glitzernden Buchstaben gebaut hat, wie ein zusätzliches Fragment in die ewige Baustelle Stadt ein."

Weitere Artikel: Stefan Reinecke führt durch die Ausstellung "Die Gerufenen. Deutsches Leben in Mittel- und Osteuropa" im Berliner Kronprinzenpalais, ein Projekt des Zentrums gegen Vertreibungen. Benjamin Weber informiert über den Umzug der Magazine Musikexpress und Rolling Stone von München nach Berlin, ihr Herausgeber wird Ulf Poschardt.

Besprochen werden John Maddens Thriller "Killshot" mit Mickey Rourke, Gesine Danckwarts Spielfilmdebüt "Umdeinleben", in dem sechs Frauen in zersplitterten Monologen ihr Leben betrachten, und das Hörbuch "Marx & Engels intim" mit Briefen von Marx und Engels, gelesen von Harry Rowohlt und Gregor Gysi.

Hier Tom.

FAZ, 16.07.2009

Wolfgang Günter Lerch versucht zu ermessen, was es für das Regime im Iran bedeutet, dass Großajatollah Ali Hussein Montaseri die Niederschlagung der Proteste scharf verurteilt: "Vieles wird nun davon abhängen, ob Montazeri unter den hohen Klerikern Mitstreiter gewinnt oder auf Dauer doch isoliert bleibt. Bedeutsam ist, dass die meisten wichtigen Ajatollahs dem 'Wahlsieger' Mahmud Ahmadineschad bis heute nicht gratuliert haben. Und Chamenei ist weiter geschwächt worden. In jedem Fall trägt Montazeris Fatwa dazu bei, die durch die Sicherheitskräfte bedrängte Opposition in ihrem Widerstand zu ermutigen, oder wie der Kandidat Mehdi Karrubi es ausdrückte: 'Unter der Asche lodert die Glut weiter.'"

Weitere Artikel: Der Jurist Christoph Möllers nennt drei Gründe, die ihm das Karlsruher Urteil zum europäischen Integrationsprozess eher bedenklich erscheinen lassen. Nur staunen kann Jordan Mejias über den postmortalen Image-Wandel des Michael Jackson. In der Glosse denkt Edo Reents über die Sache, aber auch den Begriff des "Fremdschämens" nach. Niklas Maak schreibt zum Tod des Künstlers Dash Snow, der im Alter von 27 Jahren an einer Überdosis Heroin starb. Auf der Kino-Seite weist Andreas Kilb auf die Reihe "Operation Walküre" im Berliner Zeughaus-Kino hin.

Im Politik-Teil erklärt Jasper von Altenbockum, wie die Chicagoer Schule der Soziologie, die Zeitungskrise und die Internetbegeisterung miteinander zusammenhängen.

Besprochen werden zwei Jean-Dubuffet-Ausstellungen in München (eine in der HypoKunsthalle, eine im Literaturhaus), Konzerte beim Colmar-Festival, bei denen die Pianistin Lise de la Salle Wolfgang Sandner sehr beeindruckt hat, Marco Bechis' Film "Birdwatchers" (außerdem gibt es auf der Kinoseite ein Interview mit dem Regisseur) und Bücher, darunter Peter Sprengels Studie über Gerhart Hauptmann und das Dritte Reich mit dem Titel "Der Dichter stand auf hoher Küste" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 16.07.2009

Fast das Schlimmste an den Bologna-Reformen, findet Gustav Seibt, ist das Bild der Studierenden, das aus ihnen spricht: "Nicht nur mangelhaft vorgebildet, sogar unneugierig, studierunwillig müssen junge Menschen sein, denen man so durchgestaltete Studienpläne und -pflichten auferlegt. Anstatt vor allem auf Resultate und Ziele zu schauen, werden die Wege festgelegt, als sei gar niemand imstande, sich selbst zu orientieren. So wie Hartz IV auf Arbeitsscheue und Transferleistungsabgreifer starrt, so wendet sich das bürokratisierte Bologna-Studium an den idealtypischen Bummelstudenten."

Weitere Artikel: Jens-Christian Rabe porträtiert Lady Gaga, die neue kluge Königin des Pop. Holger Liebs macht sich Gedanken über die Wanderlust privater Kunstsammlungen, die langsam zum Kunst-Standortproblem wird. Ein Urteil des Münchner Landgerichts, das auch Heiratsannoncen die vom Urheberrecht geforderte Schöpfungshöhe zuerkennt, glossiert Gerhard Matzig. Constanze von Bullion war dabei, als Erika Steinbach in Berlin eine Ausstellung mit dem Titel "Die Gerufenen" über deutsche Migranten eröffnete. Holger Liebs schreibt zum frühen Tod des New Yorker Künstlers Dash Snow, der an einer Überdosis Heroin gestorben ist.

Besprochen werden Maria Happels Inszenierung einer Bühnenfassung von Heimito von Doderers Roman "Strudlhofstiege" im Wiener Südbahnhotel, eine große "Le Corbusier"-Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau, der Film zum sechsten Buch Potter, Marco Bechis Film "Birdwatchers" (dazu gibt es ein Interview mit dem Regisseur), die französische Komödie "Affären a la carte" mit Dany Boon und Bücher, darunter Sebastian Ullrichs historische Studie "Der Weimar-Komplex" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).