Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.02.2006. In der Welt spricht Günter Grass dem Westen ein Recht auf das Recht auf Meinungsäußerung ab. In der NZZ sieht der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban im Karikaturenstreit vor allem eine Machtdemonstration der Islamisten. In der FAZ empfiehlt der katholisch-evangelische Theologe Klaus Berger eine virtuelle Eingemeindung der Muslime. Die taz freut sich über die Rückkehr des Braunbärs in die Alpen. Und die SZ hat herausgefunden: Wenn es beim Flachdach ein Problem gibt, dann ist es eine Neigung.

NZZ, 10.02.2006

Der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban sieht im Karikaturenstreit vor allem eine Machtdemonstration der Islamisten: "In der islamischen Welt dagegen stellen wir eine Rückentwicklung fest. Infolge der fortschreitenden Islamisierung werden in immer mehr Ländern schärfere Blasphemiegesetze eingeführt, die weniger den Islam beschützen als andere Religionen bekämpfen und verdrängen wollen. Mit Terror und Gewalt versuchen fanatisierte Muslime, ihre islamischen Blasphemienormen außerhalb der Grenzen der islamischen Länder zu exportieren und die Menschen mundtot oder auch tot zu machen, Salman Rushdie, Theo van Gogh und nun die dänische Zeitung Jyllands-Posten sind die bekanntesten Beispiele. Das wirft ein düsteres Bild auf die islamische Welt, und schuld daran soll der Islam als Religion sein. Dabei verdrängt man, vor allem unter den Muslimen, dass unter der Herrschaft des Islam eine blühende, offene Zivilisation Jahrhunderte lang gedieh, in der vieles, was unter die heutigen Blasphemiegesetze fällt, zu den öffentlichen Debatten gehörte."

Weiteres: Desiree Antonietti von Steiger berichtet von dem komplizierten Restitutionsfall um die Goudstikker-Gemälde, die die Niederlande jetzt den Erben des jüdische Kunsthändlers Jacques Goudstikker zurückgeben. Besprochen werden eine Ausstellung des Designers Joe Colombo im Vitra-Museum in Weil am Rhein, eine Schau junger Baukünstler im Schweizerischen Architekturmuseum Basel und ein Konzert mit Mahlers Zweiter und dem Sinfonieorchester Basel.

Auf der Filmseite schreibt Susi Koltai zu den Stasi-Enthüllungen um den ungarischen Regisseur Istvan Szabo: "Wenn sich nun die ungarische Öffentlichkeit mit Szabos Stasivergangenheit konfrontiert, demontiert sie eine weitere Vaterfigur. Vielleicht ist die Sehnsucht nach dem absolut Unbefleckten ja auch eine Sehnsucht nach der absoluten Autorität, einem Überbleibsel aus der Zeit des Personenkults im Sozialismus?"

Jürg Zbinden preist Steve Buscemis neuen Film "Lonesome Jim" als echtes Husarenstück in puncto Unbehaglichkeit: "Das Innenleben der Eltern und ihrer Brut erschreckt ebenso wie die Inneneinrichtung des Eigenheims." Besprochen werden Niki Caros Justizdrama "North Country" und Andreas Dresens "zum Heulen komischer" Film "Sommer vorm Balkon".

Auf der Medienseite unterzieht Heribert Seifert die Magazine Cicero und Gazette, die gern den Willen zum anspruchsvollen Journalismus behaupten, einer sehr kritischen Prüfung: "Die versprochene Interpretation, Einordnung und Analyse ist hier vor allem in Form einer radikalen Personalisierung, im Versuch einer größtmöglichen Nähe zu den Akteuren in Politik, Wirtschaft und Kultur und in einem Übermaß an Meinungen zu haben. Seit der Cicero-Mitarbeiter Bruno Schirra mit einer Geschichte über einen islamistischen Terroristen in Konflikt mit dem Innenminister geraten ist, versucht das Magazin sich zwar auch als investigatives Organ darzustellen. Das kann aber nicht überzeugen, da gründlich und finanziell aufwendig recherchierte Geschichten, die das Markenzeichen der Cicero- Vorbilder New Yorker und Atlantic sind, zu selten im Potsdamer Blatt stehen."

Stefan Betschon beklagt Googles Kotau vor der chinesischen Regierung: "Die 'alten Mächte aus Fleisch und Stahl' haben sich inzwischen auch im Reich der Bits und Bytes durchgesetzt."

Welt, 10.02.2006

Die Welt übernimmt im Feuilleton ein Interview mit Günter Grass aus El Pais zum Karikaturenstreit. Der Autor, der zu Zeiten der Rushdie-Affäre noch eine andere Position vertrat, sieht die alleinige Schuld beim Westen und empfiehlt eine Beachtung der islamischen Tabus in unseren Gesellschaften: "Wir haben das Recht verloren, unter dem Recht auf freie Meinungsäußerung Schutz zu suchen. So lang sind die Zeiten der Majestätsbeleidigung noch nicht vorbei, und wir sollten nicht vergessen, dass es Orte gibt, die keine Trennung von Staat und Kirche kennen. Woher nimmt der Westen die Arroganz, bestimmen zu wollen, was man tun darf und was nicht? Ich empfehle wirklich allen, sich die Karikaturen einmal näher anzuschauen: Sie erinnern einen an die berühmte Zeitung der Nazi-Zeit, den 'Stürmer'. Dort wurden antisemitische Karikaturen desselben Stils veröffentlicht."

Im Forum kommentiert auch Zafer Senocak den Karikaturenstreit: Westliche Ignoranz des Islam arbeitet den Islamisten in die Hände, warnt er: "Längst ist es üblich geworden, Praktiken wie Zwangsehen oder Ehrenmorde, die mit der islamischen Religion nicht zu legitimieren sind, unter der Rubrik Islam abzuheften. Damit wird jenen, die eine eindeutige, nach islamischen Vorstellungen nicht zulässige Deutungshoheit über die Quellen der islamischen Religion beanspruchen, Fett aufs Brot geschmiert. Aus Dummheit? Oder weil die Globalisierung und das Zusammenrücken von Menschen unterschiedlicher Kultur und Nationalität auch die Menschen in Europa überfordern?"

Weitere Artikel im Feuilleton: Dokumentiert wird eine Rede Manfred Ostens vom Alexander-von-Humboldt-Stiftung über die Homunculus-Szene in "Faust II". Der Regisseur und Schauspieler Jan Henrik Stahlberg erzählt von den Dreharbeiten zu seinem Film "Bye Bye Berlusconi!" Michael Pilz berichtet von der Grammy-Verleihung. Mathias Kamann spießt Bemerkungen der FAZ zur Figur des neugebackenen Ordinarius für neue Geschichte an der FU Paul Nolte auf. Und Berlinale: Rüdiger Sturm unterhält sich mit dem Produzenten Bill Mechanic über den Film "New World" von Terrence Malick. Holger Kreitling glossiert erste Ereignisse der Berlinale.

Besprochen werden der Thriller "Syriana" mit George Clooney und der Eröffnungsfilm der Berlinale "Snow Cake".

Im Magazin unterhält sich Gerhard Charles Rump mit den Galeristen Harry Lybke und Michael Schulz über den anhaltenden Kunstboom. Schulz äußert wich weiterhin sehr erfreut über seine Geschäftsaussichten: "Zur Zeit ist zunächst einmal das Fundament für einen sich großartig entwickelnden Kunstmarkt gelegt. Allein in Amerika sind mehr als 30 Museen in Bau, und von den interessanten jungen Künstlern stehen keine Arbeiten zur Verfügung."

TAZ, 10.02.2006

Christian Kortmann freut sich über die Rückkehr des Braunbärs in die Alpen: "Die Rückkehr des Bären ist nicht nur eine tolle Sache für Touristen und Bilderjäger, sondern ein erfreuliches Phänomen für das allgemeine Lebensgefühl. Denn das Wissen um die Existenz der Bären verleiht der Wirklichkeit eine wohl tuende Lebendigkeit. Es gibt das wilde und gefährliche Leben da draußen also noch!" Jochen Schmidt fragt am Rande, ob es weniger traurig sei zu sterben, "wenn man alles gelesen hat". Besprochen werden das neue Album der "Band für Teetrinker" Belle & Sebastian.

Auf der Medienseite berichtet Cigdem Akyol von der neuen Allianz von Bild und Hürryet im Karikaturenstreit. Die beiden Zentralorgane haben gemeinsam - das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen - zu gutem Willen, gesundem Menschenverstand und maßvollem Verhalten aufgerufen.

Auf zwei Berlinale-Seiten preist Dietmar Kammerer James Bennings Filmessay über seine Heimat Milwaukee "One Way Boogie Woogie/27 Years Later". Detlef Kuhlbrodt schreibt über den japanischen "Meister der Hölle", Nobuo Nakagawa, dem das Forum eine Werkschau widmet. Besprochen werden Daniel Burmann Panorama-Beitrag "Derecho de familia" und Jan Henrik Stahlbergs "gutmenschentümelnde" Entführungsfantasie "Bye bye, Berlusconi!".

Auf der Meinungsseite warnt Neal Ascherson, früher Auslandskorrespondent des Observer, im Karikaturenstreit davor, das Recht der Meinungsfreiheit in Anspruch zu nehmen: "Alle Rechte - auch das auf Pressefreiheit - beinhalten zugleich das Recht zu entscheiden, wann wir sie in Anspruch nehmen. Diese Entscheidung kann etwa von Common Sense oder auch von Vorsicht geleitet sein. Ich mag das Recht haben, eine Zigarette neben einem Stapel undichter Benzinfässer wegzuwerfen, aber wahrscheinlich werde ich es nicht tun, und wenn ein Feuer ausbricht, werde ich dafür strafrechtlich belangt."

Und nicht zu vergessen: Tom.

FAZ, 10.02.2006

Der Theologe Klaus Berger favorisiert im Karikaturenstreit die paulinische Lösung und schlägt vor, die Muslime technisch als Mitglieder der eigenen Gemeinde zu behandeln und damit innerchristliche Rücksicht und Zurückhaltung walten lassen. "Im Zweifelsfalle müsst ihr, bevor euer freies Verhalten für Fromme zum Ärgernis wird, auf den Gebrauch eurer Meinung verzichten. Und zwar um den Friedens willen."

Weiteres: Martin Otto möchte die 1971 in Schweden erschienene Integrationsfibel von Tomas Hammar für Baden-Württemberg adaptieren. Doch "manche Regeln wären in der heutigen Zeit wohl in Verbotsform zu fassen". Robert von Lucius registriert in Dänemark eine unerhörte "Selbstzensur" in der Kunstwelt. Jordan Mejias berichtet von den vorsichtigen Reaktionen amerikanischer Politker und Künstler im Karikaturenstreit. Nils Minkmar hat die niederländische Politkerin und Autorin Ayaan Hirsi Ali bei einem Auftritt in Berlin erlebt, auf dem sie gewohnt deutlich für Säkularität und Menschenrechte warb.

Überwachungskameras haben weiter Konjunktur, stellt Milos Vec im Aufmacher fest, auch weil die Akzeptanz in der Bevölkerung steigt. Edo Reents spürt bei den Grammy-Verleihungen eine Sehnsucht nach dem einen Künstler für alle. Heinrich Wefing empört sich über den geplanten Neubau an der Kreuzung Friedrichstraße/Unter den Linden. Matthias Grünzig freut sich über die zukunftssichere Nutzung prominenter Zwickauer Industriebauten. Gerhard Rohde annonciert das zunächst als Biennale angelegte neue Festival für Neue Musik "chiffren" in Kiel. Christian Schwägerl referiert eine Diskussion von Georg Kardinal Sterzinsky und Ursula von der Leyen in der Berliner Katholischen Akademie.

Auf der letzten Seite spricht Swantje Karich mit dem iranischen Dramatiker und Regisseur Ayat Najafi über die acht Bühnen des Teheraner Stadttheaters und die unsichere Zukunft unter Mahmud Ahmadinedschad. "Ich weiß nur, dass die Aufregung, die Iran momentan international auslöst, dazu führt, dass die Regierung keine Zeit hat, sich um die internen Angelegenheiten zu kümmern, wie sie es eigentlich vorhatte." Die Stücke der Kölner Sammler Eleonore und Michael Stoffel gehen überraschenderweise an die Münchner Pinakothek der Moderne, was Catrin Lorch als Paradebeispiel der steigenden Macht der Sammler deutet. Günter Paul fürchtet, dass der Münsteraner Planetologe Thomas Stephan in die USA getrieben werden könnte.

Die Berlinaleseite wartet mit Besprechungen von Marc Evans "superpelzigem" Eröffnungsfilm "Snow Cake" und Ulrich Köhlers Beitrag "Montag kommen die Fenster" auf. Jan-Henrik Stahlberg schreibt außerdem über seinen Beitrag "Bye Bye Berlusconi", der heute abend Premiere hat.

Besprochen werden zudem eine Aufführung von Mozarts Opera seria "La clemenza di Tito" mit einem "auch optisch ansprechenden Ensemble" in der Düsseldorfer Oper, eine Ausstellung mit den "wundersamen" Bildern von Karin Kneffel im Ulmer Museum, und Bücher, darunter eine Sammlung mit Dokumenten, Materialien und Aufsätzen von W. G. Sebald sowie Fritz Kramers "Schriften zur Ethnologie" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 10.02.2006

Der Jurist Horst Meier fragt nach der Rechtsgrundlage für die Entscheidung, Horst Mahler den Reisepass zu entziehen - der rechtsradikale Anwalt wollte nach Teheran zu einer Konferenz von Holocaustleugnern reisen. Der Philosoph Herbert Schnädelbach erklärt in der Reihe "Frankfurter Positionen", wie es in der heutigen Zeit um die Urteilskraft steht. Judith von Sternburg hat sich Wilhelm Genazinos Frankfurter Poetikvorlesungen angehört. In Times mager kommentiert Harry Nutt den Streit um einen Stand der rechten Zeitschrift Junge Freiheit bei der Leizpiger Buchmesse.

Besprochen wird eine Ausstellung des "Materialsurrealisten" Thomas Rentmeister in Dortmund.

SZ, 10.02.2006

Gerhard Matzig stellt noch mal in aller Ausführlichkeit die bayerische Flachdachfrage, obwohl inzwischen auch schon Häuser mit Spitz- und Walmdach geräumt werden mussten. Am Flachdach selbst und an den Architekten kann es nicht liegen, meint er: "Vor allem zwei mögliche Einsturz-Ursachen sind diskutabel: Im Vertrauen auf normgerechten Schneefall und normgerechter Belastung zögerten Supermarktfilialleiter oder kommunale Träger womöglich zu lange, um auf den Verstoß gegen die Norm angemessen zu reagieren. So etwas kostet ja. Und zum anderen könnte die Neigung mitursächlich sein, möglichst viel Stauraum mit möglichst billigen Materialien auf möglichst billige Weise zu schaffen." So liegt es also nicht an einer Flachheit, sondern an einer Neigung!

Holger Liebs beschreibt, warum die Briten Martin Kippenberger, der gerade eine Retrospektive in der Tate Modern hat, so mögen: "Keine Kritik kam ohne Verweis auf die Skulpturenserie 'Martin, ab in die Ecke und schäm dich!' (1989) aus. Kippenbergers Selbstporträts als Eckensteher, zum Teil mit hochrotem Kopf, durchziehen die Schau als running gag - er fertigte sie nach Vorwürfen an, er habe Nazisymbole benutzt."

Weitere Artikel: Johan Schloemann berichtet, dass das Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen abgewickelt und in ein Institut mit neuer Ausrichtung umgewandelt werden soll, Arbeitstitel: "Heterogene Gesellschaften". Dirk Peitz klagt über geschmacklose Popgrammys, Reinhard J. Brembeck kommentiert die Klassikgrammys. Andrian Kreye berichtet über eine UN-Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt und eine Studie zur Entwicklung der Kulturindustrie ("1990 waren die führenden Kulturexporteure noch die USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich. Acht Jahre später wurden 40 Prozent der Kulturgüter von Großbritannien, den USA und, als Neuling auf dem dritten Rang, China exportiert.") Tobias Timm meldet, dass der mexikanische Künstler Gabriel Orozco den Blue-Orange-Kunstpreis erhalten hat. Dorion Weickmann verfolgte eine Tagung über das Gefühl des Neids im Einstein-Forum in Potsdam.

Auf der Berlinale-Seite betrachtet Anke Sterneborg die asiatischen Filme des Festivals. Und Tobias Kniebe sieht Marc Evans' Eröffnungsfilm "Snow Cake" als "hemmungslose Hollywood-Bewerbung". Besprochen werden außerdem Shakespeares "Richard III." am Staatstheater Karlsruhe, Mozarts "Titus" in Frankfurt, Wilhelm Genazinos Frankfurter Poetikvorlesungen und Bücher, darunter Bret Ellis Eastons neuer Roman "Lunar Park".