Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.04.2004. In der SZ fragt Arthur Schlesinger nach den Folgen des Irak-Kriegs für die amerikanische Politik. Die FAZ haut Angelika Beer eine alte armenische Tischplatte auf den Schädel. Die NZZ fragt: Wie schweizerisch ist die schweizerische Germanistik? Für die taz besucht Gabriele Goettle eine Wundberaterin.

Welt, 26.04.2004

Uwe Wittstock unterhält sich mit Marcel Reich-Ranicki über die polnische Literatur und ihren hohen Stellenwert in der Geschichte des Landes:

"Die Polen haben in politischer Hinsicht von den polnischen Schriftstellern viel mehr erwartet als die Deutschen je von den ihrigen erwarteten. Polen war fast 150 Jahre lang nicht nur geteilt, sondern unter den Nachbarländern (darunter Preußen) aufgeteilt. Es war politisch nicht existent. In dieser Situation wurden die Schriftsteller für die Polen zu den wichtigsten Repräsentanten der Nation. Es gab keine Minister, keine Präsidenten, keine Könige. Die Einzigen, die das Leiden und die Hoffnung der Nation ausdrücken konnten, waren die Schriftsteller. Also haben sie ihre größten Schriftsteller Adam Mickiewicz und Juliusz Slowacki schließlich bestattet wie die Könige: in der königlichen Gruft im Schloss Wawel in Krakau. Diesen beiden großen Romantikern ist im Polnischen eine besondere Berufsbezeichnung vorbehalten. Sie werden 'Wieszcz' genannt, was so viel bedeuten wie 'Die Seher'." Aber eigentlich meint Reich-Ranicki: "Der beste Teil der polnischen Literatur ist aber die Lyrik."

FAZ, 26.04.2004

Am Wochenende gedachten die Armenier in der Paulskirche des Genozids an ihrem Volk. Als Vertreterin des Bundestags war die Grüne Angelika Beer eingeladen. Es war eine Katastrophe, berichtet Michael Jeismann. "Die Grünen galten einmal als Verteidiger verfolgter Minderheiten. Frau Beer blieb nicht einmal bis zum Ende der Veranstaltung. Frau Beer ging vorher. Wäre sie doch gar nicht erst gekommen! Ihre Rede war lamentabel: grammatisch auf dem Niveau von Verona Feldbusch, inhaltlich geradezu selbstzufrieden-infantil. Sie bedauerte das Los der armenischen Kulturgüter in der Türkei und erzählte im gleichen Atemzug, dass sie dort eine alte armenische Tischplatte erstanden hätte, die nun ihr Wohnzimmer ziere, zur moralischen Ermahnung selbstverständlich. Sie sprach davon, dass es nicht um Schuld gehe. Ja, aber worum denn sonst?" Na, um Antiquitäten.

Weitere Artikel: Werner Spies begegnete im Pariser Grand Palais, das sich in der Ausstellung "La grande parade" dem Thema des Jahrmarkts und der Clowns in der Kunst widmet, einer "stupenden Fülle von Maskeraden und Gesten". "G. St." beschwert sich, dass er als deutscher Theaterkritiker keinen Zutritt zur Londoner Premiere des neuen Stücks von Martin Crimp bekam, und dies obwohl das Stück von den Wiener Festwochen koproduziert wurde. Irene Bazinger resümiert die Tagung "Goethe - Schiller - Shakespeare" der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft in Weimar. Jürg Altwegg schreibt zum Tod des französischen Autors Jose Giovanni.

Auf der Medienseite berichtet Matthias Rüb, dass die amerikanische Luftwaffe Bilder von den Särgen amerikanischer Soldaten, die im Irakkrieg gefallen sind, entgegen einem von der Regierung erlassenen Bilderverbot zur Publikation auf einer Website freigab. Franz-Solms Laubach berichtet über widersprüchliche Angaben des Hessischen Rundfunks zur Reform seines Radioprogramms. Und Frank Kaspar empfiehlt eine Dokumentation über Fidel Castro, die heute Abend im Ersten läuft.

Für die letzte Seite besucht Regina Mönch die Gedenkstätte Ravensbrück, die vom Schutt des DDR-Antifaschismus befreit wurde. Dieter Bartetzko gratuliert dem Pariser Olympia, in dem so viele Chanson- und sonstige Stars ihr Debüt feierten, zum Fünfzigsten. Und Felicitas von Lovenberg verfasste eine Huldigung auf die Fischer-Verlegerin Monika Schoeller, die heute die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt bekommt.

Besprochen werden Alban Bergs "Lulu" unter David Alden und Michael Boder in München, Thomas Bernhards "Am Ziel", inszeniert von Jan Bosse in Frankfurt, die Choreografie "Metamorphosen" der Norwegerin Ingun Bjornsgaard an der Komischen Oper Berlin (die letzte eigenständige Choreografie dieser Truppe, von Wiebke Hüster dennoch bös verrissen) und einige Sachbücher.

NZZ, 26.04.2004

Roman Bucheli kommentiert verärgert ein Berufungsverfahren der Universität Zürich, die im Fachbereich neuere deutsche Literatur zwei von fünf Lehrstühlen neu besetzen muss und sich für 12 Kandidaten entschieden hat, "die ihre höhere akademische Ausbildung ausnahmslos außerhalb der Schweiz durchlaufen haben. Wenn von heute Montag bis übermorgen Mittwoch die sechs Männer und sechs Frauen - pikantes Detail: die Männer kommen geschlossen vor den Frauen an die Reihe - mit ihren Vorträgen die Berufungskommission zu beeindrucken versuchen werden, dann wird der hierzulande ausgebildete und geförderte Nachwuchs nur Zaungast sein." Internationalisierung sei ja gut und schön, meint Bucheli, "aber es wäre falsch, zu glauben, man könne der Provinzialisierung entgehen, indem man die Schweizer Germanistik zu einem Ableger der deutschen Literaturwissenschaft verkümmern lässt." (Na, wenn die Schweizer den Ackermann zurücknehmen, stoppen wir vielleicht den Germanisten-Export.)

Markus Jakob stellt das "Forum Barcelona 2004" vor, das am 9. Mai eröffnet wird. Sein Ziel ist es, ein Slum-Viertel mit angrenzender Kläranlage umzubauen: "Das Gelände liegt am Meer, südlich der Mündung des Rio Besos. Diese Ecke der Stadt war bisher eine reine Entsorgungslandschaft: An ein Klärwerk und eine Verbrennungsanlage schließen landeinwärts die Wohnkasernen von La Mina an: Inbegriff des barcelonesischen Elendsviertels. Hier neue Stadträume, Wohn- und Arbeitsquartiere zu planen, hatte nachgerade etwas Utopisches."

Weitere Artikel: Alexandra Stäheli resümiert das Dokumentarfilmfestival "Visions du reel" in Nyon. Paul Jandl berichtet vom Europa-Symposium in Wien. Karl Sigmund schreibt zum Tod des englischen Biologen John Maynard Smith (mehr hier und hier). Martin Walder schreibt zum Tod des Filmregisseurs Jose Giovanni. Besprochen werden die Aufführungen von Bergs "Lulu" an der Staatsoper München und Janaceks "Katja Kabanova" in St. Gallen.

FR, 26.04.2004

Ein "mittelgroßes, unverhofftes Theaterwunder" durfte Peter Michalzik am Schauspiel Frankfurt erleben, in Jan Bosses Inszenierung des Bernhard-Stücks "Am Ziel". Bosse rette Bernhard vor der Klamaukisierung der vergangenen Jahre, "er hat das Stück mit seinen drei großartigen Schauspielern in eine abstrahierende Expressivität geschoben, die alles Klamottige weit hinter sich lässt, darunter ist der Text dann als tatsächlich erschütternde Partitur zum Vorschein gekommen. Bosse hat in der Komödie die Tragödie bloßgelegt, er hat die Bernhardschraube eine Umdrehung weiter angezogen und damit diese Schraube wieder fester in ihrer Mutter verankert."

Weitres: Auch Imame, die dazu aufrufen, Frauen zu schlagen, kann man leider nicht einfach ausweisen, seufzt Martina Meister in Times mager. Gerhard Midding verabschiedet den Drehbuchautor und Regisseur Jose Giovanni, der seine Karriere mit einem Raubüberfall begann. Auf der Medienseite berichtet Canan Topcu von der wiedererwachten Dialogbereitschaft armenischer Zeitungen in Istanbul, 90 Jahre nach dem Völkermord.

Im Gegensatz zu Bernhard muss man Georges Feydeaus "Floh im Ohr" als Klamotte inszenieren, meint Anke Dürr. Martin Kusej hat das zum Glück begriffen und bedient gekonnt die Erwartungen am Hamburger Thalia-Theater. Weitere Besprechungen widmen sich politischen Büchern, nämlich Loic Wacquants Untersuchung des Boxens im amerikanischen Ghetto als Selbstversuch "Leben für den Ring", die Neuausgabe von 120 Dokumenten zum "Berliner Antisemitismusstreit" von 1879 bis 1881 in zwei Bänden, sowie Heinz Loquais Analyse der Ursachen des Kosovo-Kriegs (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 26.04.2004

Gabriele Goettle besucht eine Wundberaterin, die an Hand von drei besonders schönen Exemplaren über Tod und Leben und die Wege dazwischen erzählt. Wir beschränken uns in unserem Ausschnitt der 938 Zeilen auf die allgemeinkundige Einleitung. "Faszination für Wunden prägt das gesamte christliche Abendland. Blut und Wunden Christi sind zentrale Metapher, die aber Heil bringen, so die Botschaft, nicht Unheil. Das Hauptmotiv der mittelalterlichen Mystik ist die Versenkung in die Wunden Christi, die Pieta präsentiert die Todeswunden des Sohnes auf dem Schoß der Mutter. Seit dem 13. Jahrhundert trugen offiziell 350 Männer und Frauen die Wundmale Jesu, Franz von Assisi war der Erste in der Kirchengeschichte. Derzeit soll es weltweit rund 25 Stigmatisierte geben. Von diesen Fällen einmal abgesehen, ist die Ursache für eine Wunde in der Regel Gewalteinwirkung, durch Schnitt, Hieb, Stich, Stoß...".

Weitere Artikel: Über die Liebe in Zeiten des Kapitalismus unterhält sich Susanne Lang mit der Soziologin Eva Illouz (zur Person), die glaubt, dass eine starke Wirtschaft die Familie schwächt. "Das ist ja das Dilemma der Konservativen." Christian Füller schimpft über die nörglerischen Bundesländer, die zwar die Bildungshoheit beanspruchen, aber auf der ganzen Linie versagen. Elf Freunde heißt die Fußballzeitung, die alles richtig macht, schwärmt Frank Ketterer auf der Medienseite. Empfehlenswert sind auch Martina Schwikowskis Porträts aus dem neuen Südafrika, etwa von der ersten schwarzen Rennfahrerin des Landes, die jetzt in einer der neuen BMW-Filialen arbeitet und so schöne Sätze sagt wie: "Ich will alles erreichen."

Schließlich Tom.

SZ, 26.04.2004

Was der Irak-Krieg mit den USA gemacht hat, beschreibt der rührige Arthur Schlesinger Jr., ehemals Berater von John F. Kennedy: "Die Auswirkungen des Kriegs auf die Wahlen sind schwer vorherzusagen. In internationalen Krisen versammelt sich Amerika instinktiv um die Flagge und den Präsidenten - zumindest eine Zeit lang. Bisher hielten sich die Proteste gegen den Krieg in Grenzen. Doch Falludscha wird bereits mit der Tet-Offensive von 1968 verglichen, die einen Prozess in Gang brachte, der Lyndon B. Johnson aus dem Weißen Haus vertrieb. Die Auswirkungen des Kriegs hängen davon ab, wie erfolgreich die amerikanischen Besatzer darin sind, den Zerfall des Irak zu stoppen und ein Minimum an Stabilität herzustellen. Sie hängen davon ab, ob es gelingen wird, Osama bin Laden zu finden. Sie hängen von dem möglichen Prozess gegen Saddam Hussein ab. Sie hängen von allen möglichen unvorhersehbaren Variablen ab. Wie Harold Wilson sagte: 'In der Politik ist eine Woche eine sehr lange Zeit.' Sechs Monate sind eine Ewigkeit."

Der Freudentrubel um die EU-Erweiterung ist etwas verfrüht, warnt Slavenka Drakulic (mehr). Die Beitrittsländer hätten noch so einiges zu lernen, Kompromisse zu schließen etwa. "Am schwierigsten jedoch wird für die 'neuen Europäer' die Erfahrung sein, dass sie allein die Verantwortung für ihr eigenes Leben zu tragen haben. Mehrere Generation sind im kommunistischen Europa ohne diese Erfahrung aufgewachsen. Und sie den Bürgern erspart zu haben, mag die gute Seite des Kommunismus gewesen sein: Für jede Schwierigkeit, für jedes Scheitern gab es einen anderen, den man verantwortlich machen konnte."

Weiteres: Patrick Barton informiert uns über die letzte Evolutionsstufe der Mediendemokratie, die Wahl eines Abgeordneten per Fernsehquiz, gesehen in den USA bei American Candidate.
Fritz Göttler sinniert über jetzt publizierte Bilder zurückgesandter toter US-Soldaten und schreibt in einem weiteren Artikel zum Tod des französischen Autors und Filmemachers Jose Giovanni. Ein hohes Maß an Ironiefreiheit attestiert Ijoma Mangold den Protestanten im Allgemeinen und Friedrich Schorlemmer (mehr) im Besonderen. Willi Winkler hegt Sympathie für Patti Smith und ihre neue CD "Trampin", mit der sie in den Krieg gegen George W. Bush zieht. Opportunistisch sei das nicht. "Deshalb hier die Warnung für den jungen Menschen: 'Trampin' ist nicht das beliebte MTV- & Viva-Gehektel, sondern richtige Musik."

Lesenswert ist auch Christoph Schwennickes aufschlussreiche Reportage über die britischen Europagegner, die die Aussicht auf ein Referendum über die Europäische Verfassung siegessicher macht. Und auf der Medienseite registriert "jja", wie Liz Mohn sich als Anhängerin Angela Merkels entpuppt.

Besprochen werden Martin Kusejs vergnügliche Inszenierung von Georges Feydeaus "Floh im Ohr" am Hamburger Thalia Theater ("Die Proben müssen eine Party der Sonderklasse gewesen sein", meint C. Bernd Sucher), David Aldens Version von Alban Bergs "Lulu" an der Bayerischen Staatsoper ("Ausgiebige Ovationen für das gesamte Ensemble" spendet Wolfgang Schreiber), die Abschiedsvorstellung des Berlin-Balletts der Komischen Oper mit dem zweiteiligen Abend "Metamorphose", Eyal Sivans und Audrey Maurions Stasi-Film "Aus Liebe zum Volk", und Bücher, darunter zwei neue Versuche, Weltgeschichte zu schreiben, Erri De Lucas "poetischer" Roman "Ich bin da" und eine Neuauflage von Coco Chanels "wunderbaren" Lebenserinnerungen (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

In den Nachrichten von der Poesie übersetzt Joachim Sartorius Lavinia Greenlaws Kurzgedicht "Das Land des Nachgebens", dessen zweite Strophe so melancholisch wie die erste ist:

"Jetzt ist Sommer.
Dünnhäutige Inseln schweben.
Im Winter gibt es keine Inseln
und nichts so dunkel wie dieses tiefe Wasser."