Magazinrundschau

Anders Unsagbares

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
19.04.2016. In der London Review erzählt John Lanchester die Geschichte des Bitcoin. Ernő Marosi denkt in Elet es Irodalom über Prothesen oder Reproduktionen in der Kultur nach. The Atlantic schildert das Schicksal der Sunniten im Irak. Foreign Policy erklärt, wo alle Beschämungsstrategien von NGOs gegen multinationale Konzerne versagen. Warum Callcenter auf den Philippinen ein Glücksfall für Transsexuelle sind, erklärt Buzzfeed.

London Review of Books (UK), 21.04.2016

Uff, dieser Artikel ist anstrengend! Aber getragen von echtem Enthusiasmus und von Kennerschaft. John Lanchester, Autor des Romans "Kapital", erzählt die Geschichte von Bitcoin (und man ahnt dass diese Recherche in einen neuen Roman münden könnte). Der Text ist zum Teil nur für Nerds zu verstehen. Dass Bitcoin, aber auch andere Erfindungen wie die kenianische Handy-Währung M-Pesa das Geld revolutionieren, wird einerseits klar. Anderseits klingt Lanchesters Resümee nach einem epischen Artikel ermüdet: "Für Internetbegriffe ist Bitcoin schon ein ganzes Weilchen präsent. Der Januar war der siebte Geburtstag der Erfindung des Ursprungscodes durch Satoshi Nakamoto (so das Pseudonym des oder der Bitcoin-Gründer, d.Red.). In sieben Jahren sind aus Google, Twitter oder Facebook nicht nur große Firmen, sondern regelrechte Bestandteile des Alltags von Hunderten von Millionen Nutzern geworden. Sie sind sprichwörtlich geworden. M-Pesa ist etwa so alt wie Bitcoin und repräsentiert die Hälfte des kenianischen Wirtschaftsaufkommens. Bitcoin ist weit davon entfernt. Zeit zu entscheiden, was man werden will, wenn man erwachsen ist."

Fast genauso anstrengend, aber ebenso tiefgründig und kennerhaft liest sich Perry Andersons großer Artikel über die Krise Brasiliens. Er zeichnet das deprimierende Panorama einer chaotischen Wirtschaftspolitik, einer korrupten politischen Klasse, die sich aus den Staatstöpfen bedient und Geld an ihre Klienten verteilt und eines apokalyptischen religiösen Treibens evangelikaler Sekten, denen inzwischen 20 Prozent der Bevölkerung anhängen und die noch korrupter sind als die Politiker: "Anders als die amerikanischen Evangelikalen haben die brasilianischen Kirchen kein klares ideologisches Profil, wenn man von Themen wie Abtreibung oder Homoehe absieht... Sie sind vor allem Vehikel, tauschen Voten gegen Gefälligkeiten und unterstützen Kandidaten auf allen denkbaren Tickets: Der evangelikale Anteil im Kongress liegt im Unterhaus bei etwa 18 Prozent unter Abgeordneten von 22 Parteien. Ihre Hauptinteressen liegen darin, Lizenzen für ihre Radio- und Fernsehsender, Steuerbefreiungen für ihre Unternehmen und Land für ihre pharaonischen Tempel zur Zelebration ihrer selbst zu bekommen." Bleibt die Frage, warum Anderson Themen wie Homoehe oder Abtreibung (in Zeiten des Zika-Virus) als nebensächlich betrachtet.

Nepszabadsag (Ungarn), 17.04.2016

Für die im rumänischen Siebenbürgen lebende ungarische Publizistin und Literaturkritikerin Boróka Parászka sind Menschen- und Minderheitenrechte voneinander untrennbar, wodurch aus ihrer Sicht die gegenwärtige ungarische Regierung beim Schutz der in den Nachbarländern lebenden Ungarn unglaubwürdig ist. Im Interview mit Levente Szőcs meint Parászka: "Seit einem Jahr habe ich die rumänisch-ungarische Grenze nicht übertreten und solange Ungarns flüchtlingsfeindliche Politik sowie die Mauer an der rumänisch-ungarischen Grenze bleiben, werde ich es auch nicht. (...) Menschen sind - Menschen. Als Angehörige einer Minderheit kenne ich es so und werde mich auch daran halten, dass niemand aufgrund von Rasse, sexueller Orientierung, ethnischer Zugehörigkeit oder religiöser Überzeugung unterschieden und diskriminiert werden darf. Wo Menschenrechte aber nicht gelten, dort wird es früher oder später auch überflüssig sein über Minderheitenrechte zu sprechen - die zwei können nicht voneinander getrennt werden."
Archiv: Nepszabadsag

The Atlantic (USA), 01.05.2016

Im Irakkrieg leiden alle. Aber die Sunniten hat es besonders hart getroffen. Eingeklemmt zwischen der schitischen irakischen Führung und der sunnitischen Isis werden viele von beiden Seiten attackiert. Anand Gopal beschreibt das in einer Reportage am Beispiel der Familie von Falah Sabar. Sie waren vor Isis, die sie der Kollaboration mit der Regierung bezichtigten, aus der irakisch-sunnitischen Provinz Anbar durch die Wüste nach Bagdad geflohen, wo die schiitische Mehrheit sie mit Misstrauen beäugte. Bis eines Tages die Männer der Familie von einer Miliz abgeholt und auf einem Schulhof buchstäblich abgeknallt wurden. Sieben starben, nur der Vater überlebte schwer verletzt. "Die Erinnerung an diese Nacht und an seine Söhne hat sich in Falahs physisches Sein eingegraben. Bei unserem Treffen betrat er humpelnd den Raum gestützt von seinem Cousin und Neffen. Er kann langsam wieder etwas sprechen, aber nur mit Schwierigkeiten, deshalb beantwortet er meine Fragen größtenteils mit Pantomime oder schriftlichen Antworten. Er hält den Kopf gesenkt, die Handballen gegen die Schläfen gepresst. 'Mein Gehirn', sagt er, 'mein Gehirn läuft aus.' Es gibt keine genauen Zahlen darüber, wie viele Sunniten von Anti-Isis-Kräften in den letzten zwei Jahren getötet wurden. Die überwältigende Präsenz irakischer Sicherheitskräfte und schiitischer Milizen in dem regierungskontrollierten Gebieten macht es riskant, diese Frage zu untersuchen. Doch ein Netzwerk von unter dem Radar arbeitenden NGOs und Menschenrechtsaktivisten haben Fälle dokumentiert. Sie behaupten, dass - in bestimmten Gebieten zumindest - Anti-Isis-Kräfte so viele Sunniten getötet haben könnten wie Isis."
Archiv: The Atlantic

Hospodarske noviny (Tschechien), 18.04.2016

Der tschechische Außenminister bedachte wohl nicht, welche Emotionen er aufwirbeln würde, als er letzte Woche vorschlug, den internationalen Namen seines Landes innerhalb der UNO von Czech Republic in Czechia umzuwandeln. Diverse Befürchtungen wurden laut, man würde von nun an mit Tschetschenien (Chechnya), verwechselt. Außerdem sind wieder einmal die Mähren nicht richtig inbegriffen, da "Čechy" etymologisch eigentlich nur Böhmen umfasst. (In Deutschland hat sich nach der Teilung der Tschechoslowakei ja der Begriff "Tschechien" durchgesetzt, da die Bezeichung "Tschechei" durch Hitlers Gebrauch belastet war - deren tschechische Entsprechung, "Česko", hat sich gleichwohl im tschechischen Alltagsgebrauch längst durchgesetzt.) Filip Rožánek kommentiert die Aufregung: "Bei einem Land, das sich 23 Jahre lang seiner Identität nicht sicher ist, ist es letztlich völlig egal, wie es heißt. Wir haben keine wirklichen Probleme, also schaffen wir uns welche und vergeuden Zeit damit, tiefe historische Gräbenkämpfe darüber zu führen. Beunruhigend ist, dass wir es nicht schaffen, ebenso leidenschaftlich darüber zu streiten, was uns am Horizont von fünf oder zehn Jahren erwartet und was wir dafür tun, nicht abseits zu stehen."

Buzzfeed (USA), 16.04.2016

Nachdem lange Zeit Indien das Zentrum der globalen Callcenterbranche war, wird diese Position mittlerweile von den Philippinen eingenommen. Für Transgender-Personen ein Glücksfall: Da das Land sie als transsexuell nicht anerkennt, blieben ihnen bislang nur schlecht bezahlte Jobs in Schönheitssalons als Arbeitsstätte, erklärt Meredith Talusan: "Die Callcenter sind sichere Häfen geworden für gender-nichtkonforme Leute, ein Ort, an dem sie mit der Präsentation ihres sozialen Geschlechts und ihrer Identität experimentieren können. Da der Großteil der Arbeit am Telefon stattfindet, sind jene Angestellte, die bei ihrer Geburt als männlich gekennzeichnet wurden, dazu in der Lage, traditionell weibliche Namen oder eine 'weibliche Stimme' anzunehmen oder sogar feminine Kleidung zu tragen, während sie mit den Kunden sprechen. Eine Freiheit, die kaum eine andere Branche des Landes bietet. ... Tatsächlich ist es so, erklärt die Callcenteragentin Angel, dass viele Angestellte aus ihrem Bekanntenkreis, lange bevor sie sich als trans outeten, zuerst im Telefongespräch mit den Kunden eine weibliche Persona angenommen hatten."
Archiv: Buzzfeed

New Statesman (UK), 16.04.2016

Wann gäbe es je ein solches Porträt eines wichtigen Politikers in einem deutschen Medium? Peter Wilby erzählt für den (linken) New Statesman die ganze Geschichte des Seumas Milne, mild kritisch, ohne etwas auszulassen. Milne ist heute der Sprecher von Jeremy Corbyn, galt als superlinker, proputinistischer und propalästinensischer Autor des Guardian, kommt aber aus besten Kreisen - sein Vater war Generaldirekor der BBC - und wählte gewissermaßen nur die linke Variante des Konservatismus. Unter Nennung von Oxford- und Cambridge-Colleges erzählt Wilby den Karrierestart Milnus' so: "Es waren nicht linke Connections, die Milne den Weg in eine Fleet-Street-Karriere eröffneten. Wie ein Paradebeispiel des britischen Establishments in Aktion hört sich an, was mir eine gut platzierte Quelle erzählte: Vater Alasdair Milne (Winchester und New College, Oxford) empfahl seinen Sohn Seumas (Winchester and Balliol) dem Kollegen Andrew Knight (Ampleforth und Balliol), damals Chefredakteur des Economist."
Archiv: New Statesman

Chronicle (USA), 01.04.2016

Der Diskurs der Diversität, der heute an amerikanischen (und nicht nur amerikanischen) Universitäten gepflegt wird, ist im Grunde nur eine Wiederkehr als Farce von konservativen Identitätsvorstellungen. Aber nun regiert er in seiner neuen und modischen Form besonders an geisteswissenschaftlichen Instituten. Und Russell Jacoby mokiert sich im Chronicle of Higher Education über ein Papier konservativer Soziologen, die sich diesen Diskurs zueigen machen, um als Minderheit zugelassen zu werden: "Konservative springen auf den Diversitätszug. Sie bekämpfen die Diversitätler mit Diversität. Sie haben die Diversity-Kategorien um eine Box bereichert. Diversität soll sich nun auch auf Politik ausdehnen. Zu den benachteiligten Minderheiten gehören die Konservativen selbst. Taktisch ein brillanter, aber auch beängstigender Zug."
Archiv: Chronicle

Elet es Irodalom (Ungarn), 15.04.2016

Der Kunsthistoriker und ehemaliger Direktor des Kunsthistorischen Instituts der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA), Ernő Marosi, kritisiert in einem ausführlichen Interview mit Eszter Radai die Pläne der Regierung zur Errichtung eines Museumsviertels im Budapester Stadtgarten sowie die "Rekonstruktion" der Burg nach Plänen, die es so nie gab. Marosi formuliert im Gespräch eine universelle Kritik der gegenwärtigen Kulturpolitik: "Hier erscheint vieles als wichtig, was in einer bürgerlich-demokratischen Kultur - wie beispielsweise der tschechischen, wenigstens seit Jaroslav Hašek - höchstens auf der Ebene der Kneipenwitze erwähnt werden kann. Was aber dort als wertvoll und schützenswert gilt, hat bei uns keine Gültigkeit. Es ist traurig zu sehen, wie lächerlich bei uns mit kulturellen Werten umgegangen wird, als wären diese bloß Genussmittel, irgendwelche Drogen, die darüber hinaus keinerlei Nutzen haben. Lajos Fülep (bekannter Kunsthistoriker und Philosoph, Mentor von Marosi - Anm. d. Red.), lehrte, dass Kunst die Ganzheit der konkreten Bedeutungen von anders Unsagbarem sei. In diesem Satz haben all Worte eine überlegte Bedeutung, doch das 'anders Unsagbare' ist außerordentlich wichtig. Das bedeutet, dass ein Museum nicht ungesühnt geschlossen werden kann, denn damit wird das Gefühl des 'anders Unsagbaren' bei einer Großzahl von Menschen verändert oder entsteht erst gar nicht. Das gilt freilich auch für moralische Werte, die ebenso wenig durch Prothesen oder Reproduktionen ersetzt werden können."

Foreign Policy (USA), 11.04.2016

Die Ausbeutung der Armen durch große Konzerne geht immer weiter. Westliche Konzerne konnten zum Teil durch neue Gesetze und die fürs Image oft verheerende Öffentlichkeitsarbeit von NGOs gezähmt werden. Doch afrikanischen, chinesischen oder russischen Konzernen bedeutet das gar nichts, stellt Michael Hobbes, selbst Mitglied einer NGO, fest. Sie arbeiten einfach mit den lokalen Regierungen zusammen: "All unsere Taktiken, die multinationale Konzerne von der Missachtung der Menschenrechte abhalten sollen - Boykottkampagnen, Beschlüsse von Aktienbesitzern, außerstaatliche Gerichtsprozesse - haben den gleichen fatalen Fehler: Sie zielen darauf, die Konzerne zu beschämen, nicht die Regierungen, die sie unterstützen. Selbst wenn eine Kampagne die Komplizenschaft einer Regierung angreift, kann sie leicht ignoriert werden, weil die Zuckerbrot-und-Peitsche-Taktik in diesem Fall nicht zieht. Aber diese Missbräuche geschehen fast immer unter der leitenden Hand einer Regierung. In Angola ist er staatseigene Ölkonzern Sonangol zugleich Regierungsbehörde und verantwortlich für die Aufsicht im eigenen Sektor. In Madagaskar versuchte die Regierung die Hälfte des bebaubaren Bodens an die südkoreanische Firma Daewoo Logistics zu leasen, ohne auch nur nach Bezahlung dafür zu fragen. Sarah Labowitz [Wissenschaftlerin am Stern Center für Business and Human Rights der New York University] weist darauf hin, dass viele der Bekleidungsfabriken in Bangladesch Politikern gehören, also eben den Leuten, die sie beaufsichtigen sollen."

Außerdem: Elisabeth Braw betrachtet mit Sorge syrische Ärzte in Deutschland.
Archiv: Foreign Policy