Magazinrundschau

Die Ideen blühen und vermehren sich

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
24.09.2013. Nach dem Eiertanz um ein Eingreifen in Syrien wird sich kein Tyrann mehr vor westlichem Säbelrasseln fürchten, fürchtet der Economist. In der New York Review of Books geißelt Amartya Sen die selektive Abtreibung weiblicher Föten in Indien. Der Guardian führt in die Gullys und auf die Baukräne Londons. Amerikanische Straßengangs adden ihre Feinde neuerdings bei Facebook, berichtet Wired. Elet es Irodalom beklagt die Perpetuierung von Osteuropa-Klischees in den preisgekrönten Werken des aktuellen ungarischen Kinos. Und Lapham's Quarterly denkt über das Phänomen der Henkersmahlzeit nach.

Economist (UK), 21.09.2013

Sehr unzufrieden zeigt sich der Economist mit der jüngsten Wende in der Syrienkrise: "Ein Jahrzehnt nach der Invasion im Irak zeigt sich mit einem Mal, wie signifikant der Einfluss des Westens gesunken ist. ... Das Problem des Westens besteht im lähmenden Erbe Iraks und Afghanistans, das noch verschärft wird durch eine schwache europäische Wirtschaft und die teuflische Blockadepolitik der amerikanischen Parteien. Jeder wusste, dass die Bürger im Westen des Kämpfens müde sind, doch erst als Obama und Cameron sie danach fragten, wurde deutlich, wie müde. Jetzt weiß jeder Tyrann, dass eine von der freien Welt gesetzte rote Linie nichts weiter als eine Drohung darstellt, bei der Legislatur anzufragen, was sie denn davon hält, diese auch wirklich durchzusetzen. Dikatoren fühlen sich darin bestärkt, ihre eigene Bevölkerung zu verstümmeln und zu ermorden." Mehr zu Syrien auch an dieser Stelle.

Außerdem begibt sich der Economist auf die Suche nach unknackbarer Kryptografie und würdigt die Kunst der Kunstfälschung.
Archiv: Economist

London Review of Books (UK), 26.09.2013

David Bromwich geht der lavierenden bis widersprüchlichen Rhetorik der Obama-Regierung in Sachen Syrien auf den Grund. David Runciman kann sich nicht vorstellen, dass sich das britische Parlament mit seiner Entscheidung, der USA bei einer Intervention in Syrien nicht zur Seite zu stehen, allein an der öffentlichen Meinung orientiert hat: "Das Resultat orientierte sich zufällig am Meinungsbild, war davon aber nicht angetrieben."

An andere Stelle äußert Runciman seine Probleme mit Christian Caryls These, dass im Jahr 1979 die Grundlagen für das 21. Jahrhundert geschaffen wurden (er selbst zieht das Jahr 1978 vor). Colin Burrow informiert sich bei Melissa Mohr über die Geschichte des Fluchens. Rosemary Hill spaziert durch die antiken Überreste in der kroatischen Stadt Split. Und Michael Wood sieht Shane Carruths verrätselten neuen Film "Upstream Color" (unsere Berlinale-Kritik).

Stichwörter: Runciman, David

Guardian (UK), 21.09.2013

Robert Macfarlane initiiert uns in die Geheimnisse des Urban Exploring, in jene avancierte Stadterkundung also, die in Londons viktorianischen Untergrund führt, die geschlossenen Zechen des Rhurgebiets oder auf die Dächer von Wolkenkratzern: "Zu den Erfordernissen gehören Klaustrophilie, Schwindelfreiheit, Geschmack am Verfall, Faszination an Infrasturktur, die Bereitschaft, über Zäune zu klettern und Gullydeckel zu öffnen, sowie Kenntnisse über die Zugangsrechte jedweder zu Jurisdiktion. Archiv- und Internet- Knowhow sind ebenfalls nützlich, um an die Skizzen und Blaupausen zu kommen, die einen inspirieren und orientieren. Zum Erkundungsgelände gehören stillgelegte Fabriken und Krankenhäuser, frühere Militäranlagen, Bunker, Brücken und Regenwasserkanäle. Man sollte sich auf dem Gegenwicht eines Krans in 120 Meter Höhe ebenso wohl fühlen wie in der Kanalisation 10 Meter unter dem Asphalt."

Weiteres: Philip Hensher berichtet, wie entsetzt britische Schriftsteller die Nachricht aufgenommen haben, dass der Booker-Preis jetzt auch amerikanischen Autoren offenstehen soll: "Ich habe wohl noch nie so viele Schriftsteller sagen gehört wie in den letzten zwei oder drei Tage: 'Na, dann können wir ja gleich einpacken.'" Als unterhaltsam und instruktiv empfiehlt Theo Tait Brett Martins Buch "Difficult Men" über amerikanische Serien-Hits.
Archiv: Guardian

Wired (USA), 18.09.2013

Social Media unterwirft auch die Auseinandersetzungen zwischen Straßengangs in den USA ganz neuen Dynamiken, erklärt Ben Austen. Sogenannte "Facebook-Bohrer" - "bohren" ist der dort gängige Slangausdruck für erschießen - mischen Mitglieder verfeindeter Gangs ganz einfach via Smartphone auf - mit weitreichenden Konsequenzen im echten Leben. "Üblicherweise verbinden wir kriminelle Aktivitäten mit Geheimniskrämerei, mit Verschwörungen, die in Seitengassen und Hinterzimmern geschmiedet werden. Doch so idiotisch es für die Praxis auch anmuten mag, haben die Gangs heute einen Grad von Transparenz entwickelt, der selbst noch den glühendsten Futuristen aus Silicon Valley imponieren könnte. ... Der 'Bohrer' geht auf Facebook und beginnt damit, irgendein gegnerisches Gang-Mitglied, das er kaum kennt, zu beleidigen. Online geht dies wesentlich einfacher als vis-à-vis. Bald erstellt jemand einen Screenshot davon und reicht diesen weiter. Es ist die eine Sache, vor vier oder fünf Typen angeranzt zu werden, doch online sieht es die ganze Nachbarschaft - oder sogar die ganze Stadt. Also muss sich der Adressat verhalten, ganz einfach um Gesicht zu wahren. Und zu diesem Zeitpunkt hat man den Ärger vielleicht schon nicht mehr nur mit dem 'Facebook-Bohrer' ein paar Blocks nebenan, sondern womöglich noch mit üblen Typen im Umkreis von 10 Meilen, die auf den Kommentar geantwortet haben. Was als Online-Provokation begann, endet damit, dass jemand in echt 'gebohrt' wird."

Außerdem: In einem Auszug aus seinem neuen Buch erklärt Clive Thompson die Vorteile dessen, dass online immer mehr Menschen immer mehr für ein Publikum schreiben und sich dabei untereinander vernetzen: Sie reflektieren ihre Ansichten im höheren Maße und "die Ideen blühen und vermehren sich." Marcus Wohlsen erzählt die Erfolgsgeschichte des Cloud-Service Dropbox. David Chang stellt seine Methode des wissenschaftlichen Kochens vor.
Archiv: Wired

New York Review of Books (USA), 10.10.2013

Nach der Gruppenvergewaltigung ist in Indien einiges passiert, um sexuelle Angriffe auf Frauen - auch in der Ehe - schneller und konsequenter zu ahnden, stellt der Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen fest. Beim Frauenhandel, von dem besonders die Armen betroffen sind, hat sich dagegen ebenso wenig getan wie beim Problem des Mädchenmords. Während im Süden und Osten des Landes das Verhältnis (ganz wie in der EU) 935 Mädchen auf 1000 Jungen kommen, sind es im Norden und Westen nur 900, mitunter nur 850 Mädchen auf 1000 Jungen: "Wir müssen fragen, warum die Bildung von Frauen und ihr damit gewachsener Einfluss auf Familienentscheidungen nicht dazu beigetragen hat, die selektive Abtreibung weiblicher Föten zu unterbinden. Gebildete Mütter vernachlässigen in der Regel Mädchen gegenüber Jungen weniger, sobald sie erst einmal geboren sind; aber sie sind genauso erpicht darauf, einen Jungen statt eines Mädchens zu bekommen wie unausgebildete Mütter. Hier müssen wir einen genaueren Blick auf die Familienwerte werfen, der über die Rolle der Frauen und ihren Einfluss auf Familienentscheidungen hinausgeht. Es scheint an jedem Bewusstsein darüber zu mangeln, wie verquer es ist, ein Mädchen gegenüber einem Jungen für minderwertig zu halten, aber auch am Wissen darüber, wie es an Orten aussieht, wo diese Diskriminierung gegen Mädchen nicht stattfindet."

Weiteres: Die Schriftstellerin A.S. Byatt huldigt ihrem Kollegen Sjon, der Island mit seinen Romanen fest auf der literarischen Weltkarte verankert habe. Hugh Eakin und Alisa Roth schildern die katastrophale Situation der syrischen Flüchtlinge, deren Zahl auf mittlerweile zwei Millionen angestiegen ist.

Elet es Irodalom (Ungarn), 23.09.2013

Drei Produktionen stehen im Wesentlichen für den internationalen Erfolg des ungarischen Films in den letzten Jahren: "Delta" von Kornél Mundruczó (Preis der Kritik in Cannes, 2008), "The Turin Horse" von Béla Tarr (Grand Prix der Jury der Berlinale, 2011), "Just the Wind" von Bence Fliegauf (Grand Prix der Jury, Berlinale, 2012). Sie alle handeln vom Ausgeliefertsein, von der Öde, von unterschiedlichen Formen des sozialen und existentiellen Elends und bestätigen damit die im Westen herrschenden Klischees, kritisiert Miklós Sághy: "Osteuropa wird darin als das Reich der bösen Mächte gezeigt, wo unter der verarmten Oberfläche zerstörerische und ungezügelte böse Mächte am Werk sind... Neben dem 'mystischen Bösen' wird der osteuropäische Raum als arm und unzivilisiert dargestellt, die Protagonisten werden als heruntergekommene Alkoholiker, die Häuser als auseinanderfallende Bruchbuden porträtiert."

Tamás Koltai begrüßt die Entscheidung des Wiener Burgtheaters, die Einladung des kürzlich berufenen neuen Intendanten des Budapester Nationaltheaters, Attila Vidnyánszky, zu einem neuen Theaterfestival abzusagen: "Wenn Vidnyánszky gut informiert oder konsequent wäre, hätte er das Burgtheater gar nicht erst eingeladen, denn es steht gegen alles, wofür das neue Nationaltheater steht, mit seinem rosa Kitschtheater und der Ablehnung von Realismus. Ein Ensemble einzuladen, das die Stücke von Nitsch, Schlingensief, Jelinek, Kušej, Steman usw. spielte und spielt, ist Zynismus. Vidnyánszky redet mit gespaltener Zunge, und hält das Fachpublikum für blöd."

American Scholar (USA), 23.09.2013

Das amerikanische Englisch ist eine "open-source Sprache", meint Ralph Keyes und referiert eine anekdotenreiche Geschichte der amerikanischen Neologismen. Einige haben viel Energie in das Prägen neuer Begriffe gesteckt, das Oxford English Dictionary schreibt zum Beispiel Thomas Jefferson ganze 110 gängig gewordene Wortneuschöpfungen zu. Doch es gibt auch erfolgreiche Neologisten, die ihre Kreation später bereuten: "Die Formulierung 'global warming' wird meist Wallace Broecker, einem Geochemiker der Columbia University, zugeschrieben, der sie 1975 in einem Vortrag gebrauchte. Doch der 81-jährige Autor hunderter Bücher und Artikel war so bestürzt, ausgerechnet für diese Phrase bekannt zu sein, dass er 2010 250 Dollar für denjenigen seiner Studenten auslobte, der eine frühere Verwendung finden würde. Die Prämie ging an David McGee, der einen Leitartikel der Hammond Times aus Indiana entdeckte, in dem vor möglicher 'wide scale global warming' gewarnt wurde. 'Ich war so glücklich, dass David darauf stieß', sagte Broecker, 'weil die Leute denken, dieser Begriff wäre das einzige, was ich in meinem Leben getan habe.'"

Nepszabadsag (Ungarn), 21.09.2013

Der ungarische Wirtschaftswissenschaftler Tibor Frank macht sich in der Wochenendausgabe von Népszabadság Gedanken über die politische Entwicklung seit der Wende und die gegenwärtige Situation: "Unter den OECD-Ländern sind wir gerade die Letzten. Die große Mehrheit der Menschen ist von den Politikern enttäuscht, enttäuscht auch von den letzten 25 Jahren. Innerhalb eines Vierteljahrhunderts ist das Land vom Gulasch-Kommunismus zum Puszta-Kapitalismus mutiert. Zum drittärmsten Land in Europa… Gibt es niemanden in Ungarn, der mit der Entschlossenheit Churchills siegen möchte? 'Sieg um allen Preis, denn ohne Sieg, gibt es kein Überleben.' Genau darum geht es heute in Ungarn. Ums Überleben. Ohne Demokratie gibt es keine Prosperität, ohne Freiheit gibt es kein Brot."

Außerdem bespricht Zoltán Ádám die politischen Schriften des Philosophen János Kis, der seit 25 Jahren als unbestrittene geistige Figur des ungarischen Liberalismus gilt: "Die politische Geschichte von 20 demokratischen Jahren durch die Brille des größten liberalen Denkers unserer Zeit: das behandelt dieser Band - darum ging es in den freiesten 20 Jahren in der Geschichte Ungarns. Diese Ära ist vorbei. Unser Glück im Unglück, dass wir diese Zeit auf so hohem Level studieren können."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Liberalismus

The Verge (USA), 12.09.2013

Das Internet hat eine beunruhigende Unkultur von sexistischen Schikanen gegen Frauen hervorgebracht. Ist das der Preis für die Freiheit des Netzes, fragt Greg Sandoval: "Wir wollten ein unbeaufsichtigtes Internet, eine Umgebung für den freien Austausch von Ideen. Auf viele wichtige Arten hat das Internet diese idyllische Vorstellung erfüllt. Individuen haben die Möglichkeit, mit einem so großen Publikum zu kommunizieren, wie es in der Vergangenheit nur Medienzaren und Regierungen konnten. Das Fehlen von Regulatoren bedeutet reibungslose Kommunikation, aber es bedeutet auch, dass diese Kommunikation nicht kontrolliert wird. Und keine Konsequenzen bedeutet im Internet allzu oft: keine Klasse. Das Internetvergnügen wird geschmälert von Teilnehmern, die Rechnungen begleichen, Feinde einschüchtern oder Andersdenkende ruhigstellen wollen."
Archiv: The Verge

Lapham's Quarterly (USA), 24.09.2013

Brent Cunningham untersucht in einem sehr interessanten Essay das Phänomen der Henkersmahlzeit, das in vielen amerikanischen Bundesstaaten bis heute praktiziert wird: "Wenn man, wie Anthelme Brillat-Savarin es formulierte, ist, was man isst, dann ist die Henkersmahlzeit die ultimative Selbstdarstellung. Und es hat einen besonderen Kitzel, wenn diese Darstellung von Leuten wie Timothy McVeigh (Pfefferminz-Schokoladenchip-Eis) oder Ted Bundy (der ein spezielles Menü ablehnte und stattdessen Steak, Eier, Bratkartoffeln, Toast, Milch, Kaffee, Saft, Butter und Marmelade serviert bekam) kommt. Die Mahlzeit vor der Hinrichtung ist je nach Perspektive teilnahmsvoll oder pervers, und sie enthält ein bemerkenswertes Paradox: Sie markiert das Ende des Lebens mit dem Material, das es erhält. Es erscheint gleichzeitig bedeutungsschwanger und abwegig. Wie Barry Lee Fairchild, der 1995 in Arkansas hingerichtet wurde, sich ausdrückte: 'Es ist, als würde man ein Auto auftanken, das keinen Motor hat.'"
Stichwörter: Hinrichtungen

Magyar Narancs (Ungarn), 29.08.2013

Anlässlich seines 80. Geburtstags interviewt Judit Rácz das einstige Wunderkind, den Pianisten und Komponisten Tamás Vásáry, dessen über 3000seitiger autobiografischer Roman in Kürze erscheint: "Ein englisches Sprichwort besagt: 'wenn du etwas willst, erreichst du es auch' - in meinem Leben war das umgekehrt: was ich unbedingt wollte, habe ich nie erreicht, aber ich hatte oft Glück. Zum Beispiel war ich nie bei einem Opernhaus angestellt, was ich immer wollte. Wenn ich allerdings in einem Opernhaus gewesen wäre, hätte ich keinen Fuß auf die Straße gesetzt. All das, was ich in meinem Buch schreibe, wäre mir nicht passiert und ich könnten dem Leser die viele Kämpfe, Erfolge und Enttäuschungen nicht weitergeben."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Autobiografischer Roman

National Geographic (USA), 01.10.2013

Für die elektronischen Geräte, die wir tagtäglich nutzen, werden Mineralien benötigt, deren Bergung in Afrika Gewalt und Ausbeutung mit sich bringt. In seiner Reportage aus dem Kongo kann Jeffrey Gettleman von kleinen Fortschritten auf dem Weg zu einem kontrollierten Rohstoffhandel berichten, landet in der weiterhin äußerst unübersichtlichen Lage allerdings vorübergehend im Gefängnis: "Wir waren verwirrt. Wir wussten, dass Bavi von Rebellen kontrolliert wird. Wir hatten ihre Kindersoldaten mit eigenen Augen gesehen. Warum ließ uns jedoch ein Geheimdienstmitarbeiter verhaften? Sollte die Regierung nicht gegen die Rebellen kämpfen? Nach unserer Freilassung wurden wir von Geheimagenten beschattet, die sogar vor unserem Hotel in ihrem Auto schliefen. 'Ihr seid da in ein Spiel geraten', erklärte uns ein UN-Mitarbeiter mit jahrelanger Erfahrung im Kongo: 'Sie alle teilen sich die illegale Ausbeute. Es ist ein Gedränge, jeder schnappt sich so viel er kann.'"