Magazinrundschau - Archiv

The American Scholar

8 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 21.03.2023 - American Scholar

Caitriona Lally hört und riecht Gespenster: Ihr ganzes Leben begleitet die Autorin schon ein Tinnitus, der "im knochigen Amphitheater meines Schädels seine eigenen privaten Symphonien dirigiert", nach einer Covid-Infektion kommt Phantosmie hinzu, die Wahrnehmung von Gerüchen, die gar nicht wirklich da sind. Das ist Beeinträchtigung und Erweiterung der Sinneseindrücke zugleich: "Für mich ist Phantosmie das olfaktorische Äquivalent zu Tinnitus, ich höre Dinge, die nicht existieren und höre Dinge nicht, die existieren, rieche Gerüche, die nicht real sind und rieche reale Gerüche nicht - Geräusche und Gerüche heraufzubeschwören und sie entweder für echt zu halten oder zu wissen, dass sie es nicht sind und sie trotzdem zu hören und riechen und mit ihnen leben zu müssen. Mir gefällt, dass das Wort Phantom in einem medizinischen Kontext verwendet wird um diese Illusionen oder Täuschungen zu beschreiben. In meinen Ohren sind Gespenster, Geister in meiner Nase und klitzekleine Spukgestalten in meinen Augen. Diese nicht existierenden und doch so realen Phänomene haben etwas Schaurigschönes für mich."
Stichwörter: Tinnitus, Phantosmie

Magazinrundschau vom 12.03.2019 - American Scholar

Theodore Gioia macht eine seltsame Beobachtung: In den letzten 25 Jahren wurde klassische Musik zum Markenzeichen des Bösen, des Serienkillers, des Monsters im Hollywoodfilm: "'Du magst Beethoven nicht?' fragt Norman Stansfield in Luc Bessons Film 'Léon: Der Profi' einen zitternden Mann, der er über klassische Ouvertüren verhört, nachdem er zwei seiner Mitbewohner mit einer Schrotflinte abgeschlachtet hat. 'Du bist ein Mozart-Fan?' Die Frage soll das Innenleben eines gestörten Geistes aufzeigen. Der Täter hat die geistige Fähigkeit, musikalische Unterscheidungen zu treffen (Mozart vs. Beethoven), aber keine moralischen. Sein Intellekt - so die Logik dahinter - führt ihn zum Laster, verleitet ihn, die Kunst über die Ethik zu stellen. Das Böse ist ein Nebenprodukt der Intelligenz. Die Implikation ist, dass ästhetische Raffinesse und psychopathische Gewalt derselben Mentalität entspringen, einer dekadenten Hyperintelligenz, die so kultiviert ist, dass sie Mord als ebenso raffiniertes Vergnügen empfindet wie ein Barockcello. Das Abschlachten von Zivilisten und die Würdigung von Vivaldi werden als zwei Formen derselben Psychose ausgestellt".

Magazinrundschau vom 24.09.2013 - American Scholar

Das amerikanische Englisch ist eine "open-source Sprache", meint Ralph Keyes und referiert eine anekdotenreiche Geschichte der amerikanischen Neologismen. Einige haben viel Energie in das Prägen neuer Begriffe gesteckt, das Oxford English Dictionary schreibt zum Beispiel Thomas Jefferson ganze 110 gängig gewordene Wortneuschöpfungen zu. Doch es gibt auch erfolgreiche Neologisten, die ihre Kreation später bereuten: "Die Formulierung 'global warming' wird meist Wallace Broecker, einem Geochemiker der Columbia University, zugeschrieben, der sie 1975 in einem Vortrag gebrauchte. Doch der 81-jährige Autor hunderter Bücher und Artikel war so bestürzt, ausgerechnet für diese Phrase bekannt zu sein, dass er 2010 250 Dollar für denjenigen seiner Studenten auslobte, der eine frühere Verwendung finden würde. Die Prämie ging an David McGee, der einen Leitartikel der Hammond Times aus Indiana entdeckte, in dem vor möglicher 'wide scale global warming' gewarnt wurde. 'Ich war so glücklich, dass David darauf stieß', sagte Broecker, 'weil die Leute denken, dieser Begriff wäre das einzige, was ich in meinem Leben getan habe.'"

Magazinrundschau vom 08.01.2013 - American Scholar

Ziemlich komisch liest sich, was William Deresiewicz über sein Leben als Jude in Portland erzählt, wohin er aus New York verzogen ist. Zum Beispiel sprach ihn neulich im Supermarkt ein Mann an: "Sie sind Jude, oder?" Normalerweise, so Deresiewicz, kann es sich bei solchen Fragenden nur um Ultraorthodoxe oder "Jews for Jesus" handeln, die einen Juden zum rechten Glauben bringen wollen. "Aber es stellte sich heraus, dass er ein ganz normale Portlander war, ungefähr vierzig, mit Vollbart, großem Pullover, unschuldigem Gesicht. Aber seine Augen leuchteten selig... 'Äh, ja', sagte ich. 'Hi', er streckte seine Hand aus, 'ich bin Kevin!' Pause.' Wussten Sie, dass heute Purim ist?' Ich drehte mich zum Gemüseregal, zu überrascht um zu antworten. Purim? Woher wusste dieser Goy, dass Purim war? 'Nein?', sagte er, 'Sie fühlen sich Ihrem Erbe wohl nicht so verbunden?' … 'Dabei strahlen Sie es aus', sagte mein Verfolger weiter. 'Es ist eine große Tradition, Sie sollten stolz darauf sein!'" Als Jude in Portland, so William Deresiewicz, ist man ungefähr so alltäglich wie ein Einhorn. Und so wird man offenbar auch behandelt.
Stichwörter: Portland

Magazinrundschau vom 30.09.2008 - American Scholar

Der chinesisch-amerikanische Schriftsteller Ha Jin beschreibt die überaus cleveren Methoden der chinesischen Zensurbehörde, unerwünschte Bücher, Filme etc. ohne großes Aufsehen aus dem Weg zu räumen. Dazu gehört unter anderem die Trennung der Elite von der restlichen Bevölkerung. "Nach Tiananmen hat die Kommunistische Partei eine relativ konziliante Haltung gegenüber Intellektuellen entwickelt, die laut, erfinderisch und lästig sein können. Im Ganzen gesehen ist es der Partei gelungen, die Intellektuellen zu kaufen; sie leben sehr viel besser als die Menschen auf einer niedrigeren sozialen Skala. Indem die Partei Jiao und Zhang [ein Professor und eine Autorin, die gegen die Zensurbehörde protestiert hatten] nicht sehr hart bestrafte, konnte sie es vermeiden, den Zorn der Elite auf sich zu ziehen. Solange Chinas Hirne sich nicht mit den rebellierenden Massen verbünden, ist das Land leicht zu kontrollieren."

Bruce Falconer stellt den "bösesten Mann der Welt" vor, den deutschen Evangelikalen Paul Schaefer, der in Chile die Colonia Dignidad gegründet hatte. William Lychack schickt einen Brief aus Burma. Abgedruckt ist eine Rede, die Leonard Bernstein vor 22 Jahren in Havard hielt: "Truth in a Time of War". Klingt irgendwie aktuell.

Magazinrundschau vom 01.07.2008 - American Scholar

Als William Deresiewicz, Englischprofessor in Yale, in seiner Küche stand und nicht wusste, wie er sich mit seinem Klempner unterhalten sollte, ahnte er, dass mit seiner Erziehung etwas falsch gelaufen war: "Der erste Nachteil einer Elite-Erziehung, lernte ich an diesem Tag in meiner Küche, ist, dass sie dich unfähig macht, mit Leuten zu reden, die nicht so sind wie du. Eliteschulen rühmen sich ihrer Vielfalt, aber diese Vielfalt ist fast vollkommen eine Sache von Ethnizität und Rasse. Was Klasse angeht, sind diese Schulen größtenteils - und zunehmend - homogen. Besuchen Sie einen Elite-Campus unserer großen Nation und erschauern Sie bei dem herzerwärmenden Anblick von Kindern weißer Geschäftsleute und Experten, die neben Kindern schwarzer, asiatischer und lateinamerikanischer Geschäftsleute und Experten spielen und studieren. Gleichzeitig, denn diese Schulen kultivieren liberale Einstellungen, versetzen sie ihre Studenten in die paradoxe Situation, im Namen der Arbeiterklasse zu handeln, während sie doch unfähig sind, eine simple Konversation mit einem Arbeiter zu führen. Schauen Sie sich die zwei letzten Präsidentschaftsbewerber der Demokraten an, Al Gore und John Kerry: beide waren in Harvard und Yale, beide sind ernste, anständige, intelligente Männer, und beide sind vollkommen unfähig, mit dem größten Teil des Wahlvolks zu kommunizieren."

Magazinrundschau vom 27.03.2007 - American Scholar

Der Artikel von Michael McDonald über Peter Handkes Verteidigung von Milosevic (mehr hier) ist jetzt online. Und er hat bereits heftige Gegenreaktionen ausgelöst. Etwa von Michael Roloff, "Handkes erstem Übersetzer ins Amerikanische": "McDonalds Artikel ist nur die vorerst letzte Fortsetzung der immer selben Karikatur von Handkes politischer Position zu Jugoslawien, die auf das Werk eines Autors einprügelt, der missverstanden wird... Da McDonald unfähig ist, richtig zu lesen, überrascht der Missbrauch der Sprache nicht", schreibt Roloff auf der Website handke-discussion.blogspot.com. Und das ist nur der Anfang! Da sind die deutschen Feuilletons glatt baff.

Magazinrundschau vom 13.03.2007 - American Scholar

Peter Handke ist der "stärkste, erfinderischste Schriftsteller" in der deutschen Literatur seit Günter Grass. Aber soll man ihm deshalb seine Bewunderung für Milosevic verzeihen? Nein, findet Michael McDonald in einem Essay (leider nicht online) und zitiert leicht bitter Günter Grass, der fand, Genie sei keine Entschuldigung für gefährlichen Unsinn. Aber vielleicht ist Handke ja auch gar kein Genie? Denn der Wahrheit, so McDonald, kommt seine romantische Auffassung vom Schreiben auch nicht nahe. "Indem er sich mit chirurgischer Präzision auf physische Details des Lebens konzentriert, kann Handke ein entsetzliches Bild der mechanischen Dumpfheit alltäglicher Routine zeichnen. Aber beschreibt er damit das wirkliche Leben? Literatur ist viele Dinge, aber sie wäre unsere Aufmerksamkeit nicht wert, wenn sie nicht etwas mit menschlicher Psychologie zu tun hätte - der Handke eindeutig zu entkommen wünscht. Literatur, die ausschließlich von den äußeren Formen des Lebens handelt, wird repetitiv und trivial - was oft genug auf Handkes Schreiben zutrifft. Sein Ansehen als Schriftsteller wird kaum überleben, außer in Lehrbüchern. Wer liest (außerhalb eines Studierzimmers) Robbe-Grillet und andere nouveaux romanciers, von denen Handke so viel gelernt hat."

Vielleicht würde Handke darauf antworten: 2+2=5. Und auf den Artikel von Robert Orsi verweisen. Orsi ist Katholik - und Empiriker. Und weil er beides ist, sehnt er sich nach einem radikalen, einem "reichen" Empirismus des sichtbaren und unsichtbaren Realen. Das unsichtbare Reale, das sind zum Beispiel die blutigen Tränen einer Madonnen-Statue - peinliche Vorstellung für jeden Protestanten. "Die Herausforderung ist es, weiter zu gehen als bis zu einem 'dies war real in ihrer Vorstellung', um das Reale - ob es der Heilige Geist bei einem Treffen der Pfingstgemeinde oder die Erscheinung der Heiligen Jungfrau oder die Vision des Paradieses, so bezwingend, dass man dafür tötet - zu beschreiben, wie es seine Präsenz, seine Existenz und Macht in Raum und Zeit findet, wie es so real werden kann wie ein Gewehr, Steine oder Brot, und wie dann das Reale im Gegenzug als Agent seiner selbst in der Geschichte handeln kann. Ein reicher Empirismus erlaubt es uns, die Bedingungen solcher Kreativität in der Kultur zu erforschen, in der 2+2=5 ist, im guten wie im schlechten, was bedeutet, dass die Summe von 2+2 ebenso Grausamkeit und Gewalt, kulturelle Auflösung wie auch kulturelle Erneuerung sein kann."