Magazinrundschau

Meine Kassen, meine Lieben

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
20.10.2009. In Sinn und Form erinnert sich Fritz Mierau an seine Reise nach Koktebel. Die London Review of Books liest ein Überlebens-Manual für Kassiererinnen. Im Nouvel Obs fragt Yasmina Reza nach der Legitimation der Polanski-Richter. In der New York Review of Books hat Timothy Garton Ash eine Aufgabe für einen brillanten jungen Historiker. Die Blätter berichten über die Blogosphäre in Afrika. Der New Statesman glaubt nicht, dass de Gaulle Nepal regieren könnte. In Nepszabadsag plädiert Andras Gerö für die Monarchie in Ungarn. In Eurozine bewältigt Arne Ruth die schwedische Vergangenheit im Vergleich zur schweizerischen.

Sinn und Form (Deutschland), 07.10.2009

Der Slawist und Übersetzer Fritz Mierau erzählt, wie er im Sommer 1965 auf die Krim reiste um einen Ort zu suchen, von dem er nicht genau wusste, wo er lag oder wie er aussah. An einer Bucht, unmittelbar am Meer fand er ihn. Hier ein Auszug: "Die russische Geistesgeschichte kennt den Ort als Koktebel und den Mann, der ihn berühmt machte, 'fand', gar 'erfand', als den Dichter und Maler Maximilian Woloschin. (...) Nach Jahren in St.Petersburg, Moskau und Paris hatte er sich lange vor dem Ersten Weltkrieg hier angesiedelt, am alten Karawanenweg von Asien nach Europa seine eigene Karawanserei bauen lassen und dabei tischlernd selbst mit Hand angelegt: Koktebel erschien ihm als der Ort, der ihm und dem er bestimmt war. Tatsächlich ist Woloschins Leben in Koktebel einem Anschmiegen an das Wirken der Elementarkräfte verglichen worden. Ossip Mandelstam erzählt, wie ihm ein Zimmermann Woloschins Grab zeigte, das hoch in den Bergen des Karadag über dem linken Ufer der Iphigenie-Bucht liegt. Als sie Woloschins sterbliche Überreste an den Ort trugen, den der Dichter im Testament bestimmt hatte, seien alle von der weiten Rundsicht überrascht gewesen, die sich ihnen von da über Meer, Berge und Steppe eröffnete. Allein Maximilian Alexandrowitsch habe den Blick für diesen Ort besessen."

Auszüge lesen darf man außerdem aus einem Text von John Carey über John Donne und aus einem Gespräch, das Ralph Schock mit Christoph Hein führte. Nur im Print: Texte von Hans Magnus Enzensberger, Michail Ryklin, Giwi Margwelaschwili, Emine Sevgi Özdemir u.a.
Archiv: Sinn und Form

London Review of Books (UK), 22.10.2009

Rachel Bowlby liest das Buch "Checkout: A Life on the Tills", in dem Anna Sam darüber schreibt, was es heißt, diejenige zu sein, die an der Kasse des Supermarkts sitzt. Die Autorin berichtet aus langjähriger eigener Erfahrung: "Sam hat acht Jahre lang an der Kasse eines großen Supermarkts in Rennes gearbeitet. Sie schreibt ihr Buch in der Art eines Überlebens-Manuals für den angehenden Kassenarbeiter. Kein Drumrum - kein Plot, keine Liebesgeschichte. (Was sollte man nicht sagen, wenn man beim Einstellungsgespräch gefragt wird, warum man diesen Job machen will? 'Weil meine Mutter schon an der Kasse gearbeitet hat'; 'Weil ich immer davon geträumt habe, in einem Supermarkt zu arbeiten') Nur die kleinen Vorfälle und Frustrationen des Alltags, erzählt in einer Serie von winzigen, thematisch geordneten Kapiteln. Am Anfang erhält man ein paar Tage Anleitung, aber nach einem Monat hat man sich ans Piepen, an die Erschöpfung gewöhnt. Man wird zur Maschine; oder, liebevoller gesagt, 'es ist, als würdest du eins mit der Kasse' - 'Mes caisses, mes amours.'"

Weitere Artikel: Sehr genau nimmt sich David Runciman die Thesen des Buchs "The Spirit Level" von Richard Wilkinson und Kate Pickett vor, das im Kern behauptet, dass Ungleichheit auch in reichen Ländern die Lebensqualität für alle so sehr senkt, dass ihr Gleichheit in ärmeren Ländern oft noch vorzuziehen ist. Mit Interesse hat Jenny Diski ein Buch über die Geschichte des amerikanischen Umgangs mit der Menstruation gelesen ("The Modern Period: Menstruation in 20th-Century America"). David Bromwich rechnet mit einem immerzu kompromissbereiten Barack Obama ab. Nicolas Pelham beschäftigt sich mit der Tunnel-Wirtschaft von Gaza. William Feaver besucht die Frank-Auerbach-Ausstellung "Recent Pictures".

Espresso (Italien), 15.10.2009

Umberto Eco wälzt gelegentlich exotische antiquarische Kataloge. Die "Kuriosen und Bizarren Bücher" der französischen Libraires Associe sind ihm vor kurzem in die Hände gefallen. Die besten Fundstücke will Eco den Lesern der Bustina nicht vorenthalten. "In der Auswahl der Werke, die sicherlich ernst gemeint waren, habe ich ein Traktat über den Klagelaut der Taube gefunden, geschrieben von Kardinal Bellarmino (ja, der von Galileo), eines über die Verortung des irdischen Paradieses von Huet (der es in der Nähe von Basra platzierte, völlig entgegengesetzt zu einer Tradition die es im Fernen Osten vermutete, dafür wird Bushs Invasion des Irak endlich verständlich) und das Werk von Pierre Sindico über die Unbeweglichkeit der Erde (1878). Außerdem habe ich entdeckt, dass Ricciotto Canudo, den ich nur als ernsthaften Filmtheoretiker (und als Erfinder des Begriffs der 'siebten Kunst') kannte, außerdem ein Kriegsheld war und sich mit der Musikalischen Metaphysik der Kultur beschäftigte. Ebenfalls vorhanden ist eine schöne Sektion über die Ursprachen der Geschichte, von der Sprache Adams (druidisch, sagt John Cleland, 1776), das Baskische als Sprache von Cam, sagt Pedro Nada 1885, und nicht zu schweigen von den künstlichen Sprachen wie der Langue Bleue von Bollack, 1900, dem 'Syllabaire' von Jallais aus dem Jahr 1923, mit einer Anleitung zum Bau einer Lesemaschine, sowie dem Codex Napoleonicus in Versform von einem Anonymus im Jahr 1811."
Archiv: Espresso
Stichwörter: Basra, Eco, Umberto, Irak, Metaphysik

Tygodnik Powszechny (Polen), 18.10.2009

Vom Mai dieses Jahres bis Juli 2010 wird in Polen das "Jahr der Unabhängigen Kultur" gefeiert. "Wenn wir heute über 1989 oder breiter über die 70er und 80er Jahre diskutieren, wird die Kultur meistens vergessen. Dabei war die Untergrundkultur in Volkspolen ein für den Ostblock außergewöhnliches Phänomen, und trug dazu bei, die Räume der Freiheit zu erweitern, und somit 1989 vorzubereiten", sagt der Historiker Lukasz Kaminski.

"Sobocinski hört das Bild. Ja, er hört es - bevor er es sieht. Bevor er auf spektakuläre Weise zum führenden polnischen Kameramann wurde, gehört er zu den bekanntesten polnischen Jazzmusikern". Lukasz Maciejewski feiert den 80. Geburtstag von Witold Sobocinski, der durch Filme mit Andrzej Wajda, Krzysztof Zanussi oder Roman Polanski berühmt wurde. Und es gibt einen autobiografischen Essay von Herta Müller.

Economist (UK), 16.10.2009

Neue Studien belegen, berichtet der Economist, dass das größte Entwicklungshemmnis für arabische Staaten in ihren in vieler Hinsicht unzureichenden Erziehungssystemen liegt. Das gilt nicht nur für Länder wie Saudi-Arabien, sondern exemplarisch auch für Ägypten: "Ein Viertel der Studenten des Königreichs widmet den größeren Teil seine Ausbildung Islamstudien, mehr als dem Ingenieurswesen, der Medizin und den Naturwissenschaften zusammengenommen. Und trotz Lehrplanänderungen in Saudi-Arabien bleibt das Religionsstudium von der Grundschule bis zur Universität obligatorisch... Arabische Länder geben heute genausoviel oder mehr als der weltweite Durchschnitt für Erziehung aus. Sie haben große Fortschritte darin gemacht, das Analphabetentum zu beseitigen, die Studierendenzahlen zu erhöhen und die Kluft zwischen den Geschlechtern in Bildungsfragen zu schließen. Und doch bleiben die Unterschiede in der Qualität der Bildung zwischen Arabern und Bewohnern anderer Länder auf einem vergleichbaren Entwicklungsniveau erschreckend."
Archiv: Economist

Nouvel Observateur (Frankreich), 16.10.2009

Im Gespräch mit dem Nouvel Obs kritisiert Yasmina Reza die lautstarken Ab-in-den-Knast-Rufe Richtung Roman Polanski, mit dem sie ein gemeinsames Filmprojekt plante: "Ich erinnere daran, dass er nur der Verführung Minderjähriger angeklagt ist. Niemand steht über den Gesetzen, gewiss, aber es ist auch nicht jeder ein Richter, Anwalt oder Zeuge. Die Leute kennen weder die komplexeb und widersprüchlichen Akten des Prozesses noch die Protagonisten der Affäre. Welche Selbstsucht treibt sie zu öffentlicher Vorverurteilung? Was mich entsetzt, ist dieses Gebrüll, das jeder Legitimität entbehrt."

New York Review of Books (USA), 05.11.2009

Timothy Garton Ash hat einen ganzen Stapel Bücher über 1989 in Europa weggelesen. Alles interessante Bücher, die auch alle etwas Neues zum Thema beitragen. Und doch fehlt ihm etwas. "Es ist keine Kritik an diesen Autoren, wenn ich sage, dass ich nach der Lektüre von einem anderen Buch geträumt habe: einer globalen, zusammenschauenden Geschichte über 1989, die noch geschrieben werden müsste." Ash hat auch eine Vorstellung von dem Autor: "Die Zeit ist reif für einen brillanten jungen Historiker - der viele Sprachen spricht; der sich sowohl in die Machthaber wie auch in die sogenannten gewöhnlichen Leute einfühlen kann; ein namhafter Autor; unkündbar angestellt, aber mit nur wenigen Lehrverpflichtungen; finanziell großzügig ausgestattet für seine ausgedehnten Forschungen auf verschiedenen Kontinenten; ein Stachanowist in seinen Arbeitsgewohnheiten; mönchisch im Privatleben - der dieses notwendige, nahezu unmögliche Meisterwerk schreibt: eine Art Wagnersches Gesamtkunstwerk der Zeitgeschichte. Mit Glück könnte es zum 30. Jahrestag 2019 fertig sein."

Brillant findet Stephen Greenblatt Hilary Mantels Roman "Wolf Hall" über eine der unsympathischsten Gestalten der Weltgeschichte: über Thomas Cromwell, den Führer der protestantischen Partei am Hofe Heinrich VIII. Als Referenzgröße fällt Greenblatt höchstens Stalins Oberscherge Beria ein: "Cromwell war ein Meister der machiavellistischen Realpolitik. Er hatte eine besondere Gabe dafür, Menschen in ihr Verderben zu locken, indem er ihnen die Begnadigung durch den König in Aussicht stellte, wie etwa Robert Aske, den Führer der katholischen Pilgrimage of Grace. Man sollte meinen, ein gebrochenes Versprechen hätte ausgereicht, um den Trick zu ruinieren, aber er funktionierte wieder und wieder, so sehr waren die Leute darauf geeicht, dem Wort eines Prinzen zu vertrauen."

Weiteres: James Bamford versucht, eine Schneise durch das Dickicht der Yottabytes von Daten zu schlagen, die der amerikanische Nachrichtendienst NSA bisher weltweit gesammelt hat. Jerome E. Groopman diagnostiziert, was der Medizin von heute fehlt.

Point (Frankreich), 15.10.2009

In seinen Bloc-notes erklärt Bernard-Henri Levy, weshalb er Polanski verteidigt. Heute einen Mann einzusperren, der kein Pädophiler ist und für seine Tat bereits im Gefängnis saß, ihn wie einen Terroristen zu jagen und wie einen "alten Nazi" auszuliefern, entspreche zwar möglicherweise dem Buchstaben des Gesetzes, habe aber mit Gerechtigkeit sicher nichts zu tun. Den "Herren Richtern" schreibt er ins Stammbuch: "Entweder war Polanski ein Monster – dann hätte man ihm keinen Oscar und keinen Cesar zuerkennen dürfen; man hätte ihn jedes Mal bei den Behörden anzeigen müssen, wenn er mit seiner Familie Ferien in seinem Schweizer Haus machte. Aber Sie hatten an seinen Auftritten auf den roten Teppichen sämtlicher Filmfestivals dieser Welt niemals etwas auszusetzen. Und spüren ebenso wie ich die immense Scheinheiligkeit dieses Staatsanwalts, der nach Anerkennung und Ruhm giert, der eines Morgens aufsteht, um ihn wie eine Trophäe der Anprangerung durch weißglühende Wähler auszuliefern – man sollte, genau wie sein Opfer, beten, dass man ihn endlich in Frieden lässt."
Archiv: Point

Blätter f. dt. u. int. Politik (Deutschland), 01.10.2009

Einen sehr interessanten Hintergundartikel über die Blogosphäre in Afrika legt Geraldine de Bastion in den Blättern vor. Trotz magerer Internetdurchdringung spielt das Web 2.0 auch in Afrika eine immer größere Rolle. Ein besonderes Augenmerk legt die Autorin auf Kenia, wo das Netz in den Auseinandersetzungen nach den letzten Jahren seine schlechten (Mordaufrufe per SMS), aber auch seine guten Seiten zeigte: "Das Mobilisierungspotenzial der SMS wurde zeitgleich auch von politischen Bloggern erkannt. Binnen einer Woche nach Ausbruch der Gewalt entwickelten kenianische Blogger eine Technologie, die es ermöglicht, per SMS oder Internet übermittelte Informationen mit Hilfe von GoogleMaps zu kartografieren. Sie nutzten diese Technologie, um die Gewaltausbrüche zu lokalisieren, zu dokumentieren und vor ihnen zu warnen. Die Open-Source-Software wurde Ushahidi genannt, nach dem Swahili-Wort für Bericht oder Zeugnis." Ushahidi, eine "Innovation made in Africa", wird inzwischen auch in vielen anderen Ländern eingesetzt. Um sich einen Überblick über afrikanische Blogs zu verschaffen empfiehlt de Bastion den Aggregator Afrigator.
Stichwörter: Open Source, Kenia

New Statesman (UK), 19.10.2009

Nach einem Jahrzehnt der Gewalt – wie groß sind heute die Chancen für die Demokratie in Nepal, überlegt Isabel Hilton mit Blick auf ein Land, dessen Zukunft in den Händen einer wackeligen Koalition aus 22 von Nepals 24 politischen Parteien liegt. "Demokratie ist in Nepal keine einfache Sache. Viele politische Parteien des Landes, selbst die ziemlich disziplinierten Maoisten, werden von internen Zersplittergruppen geplagt, Abspaltungen sind an der Tagesordnung. Diese Spannungen werden jeden Tag im Parlament ausgetragen, das sich eine Deadline bis zum nächsten Mai gesetzt hat, die Blaupause für Nepals politische Zukunft zu vervollständigen. Um das zu tun, muss es zwischen einem präsidialen oder einem parlamentarischen System wählen und festlegen, auf welchen Grad an Autonomie Nepals mehr als 100 ethnische Gruppen hoffen dürfen. General de Gaulle hat einmal bemerkt, es sei unmöglich, ein Land zu regieren, dass 246 verschiedene Arten von Käse kennt. Nepal, mit seinen 126 Sprachen, stellt eine noch größere Herausforderung dar."

Der Autor Will Self ekelt sich vor dem Leichenfeld London, das mit Hühnerknochen übersät ist auf die man ständig drauftritt. Nachdem er das festgestellt hat, marschiert er ins nächste Kentucky Fried Chicken: "Ich bestelle männlich zwei Hühnerstücke mit Pommes und einem kleinen Eimer Sprite. Ich bekomme zwei Hühnerbrüste - zumindest glaube ich, dass es Hühnerbrüste waren; sie könnten genauso gut die alten Arschbacken eines indonesischen Kinderarbeiters sein."
Archiv: New Statesman

Nepszabadsag (Ungarn), 17.10.2009

In diesem Oktober wird die aktuelle - ursprünglich nur als temporär vorgesehene - ungarische Verfassung zwanzig Jahre alt. Zeit, so der Historiker und Leiter des Budapester Habsburg-Instituts Andras Gerö, über bestimmte Anpassungen an die inzwischen veränderten Umstände nachzudenken. Auch verliert seiner Ansicht nach der Staatspräsident mehr und mehr an Autorität, weil er vom Parlament gewählt wird und daher kaum noch die gesamte Nation verkörpere. Um dieses Autoritätsdefizit zu beheben, schlägt Gerö eine Monarchie für Ungarn vor: "Ich bin der Meinung, dass die Monarchie fähig ist, innerhalb einer politischen Gemeinschaft jene Autorität zu schaffen, die neben der demokratischen Funktion und der politischen Kritik der Exekutive auch das Kriterium garantiert, das die Verfassung heute mit dem Staatspräsidenten verbindet, nämlich die politische, aber eben nicht parteipolitische Verkörperung der nationalen Einheit. Dies ist natürlich nur möglich, wenn der Monarch herrscht, aber nicht regiert, wenn also seine Rolle symbolisch ist. Der Vorteil eines Monarchen gegenüber eines Staatspräsidenten ist, dass er der Erbschaftsfolge unterliegt, weshalb seine Legitimität nicht von parteipolitischen Verhältnissen abhängt. Wahrscheinlich würde er auch den Staatshaushalt nicht höher belasten als ein Staatspräsident."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Monarchie, Monarchien

Eurozine (Österreich), 19.10.2009

Die Holocaust- und Gulagforschung zeichnet ein schiefes Bild von den Opfern, meint der amerikanische Historiker Timothy Snyder. In Auschwitz, Symbol für den Holocaust, wurden vor allem westeuropäische Juden ermordet. Doch die meisten Opfer in den deutschen Lagern - etwa zwei Drittel - waren polnische und sowjetische Juden, die in Treblinka, Belzec und Sobibor im besetzten Polen ermordet wurden. Diese Opfer spielen im heutigen Andenken an den Holocaust nur eine marginale Rolle, so Snyder. Ebenso wie andere osteuropäische Opfer. "Wenn irgendein Land im heutigen Europa fehl am Platz zu sein scheint, dann Weißrussland unter der Diktatur von Alexander Lukaschenko. Aber wenn Lukaschenko es vorzieht, die sowjetischen killing fields in seinem Land zu ignorieren - er will eine Autobahn über die Todesgräben von Kuropaty bauen - erinnert er sich in gewisser Weise besser an die europäische Geschichte als seine Kritiker. Indem sie sowjetische Kriegsgefangene verhungern ließen, Juden erschossen erschossen und vergasten, und Zivilisten im Kampf gegen die Partisanen töteten, machten die deutschen Truppen Weißrussland zwischen 1941 und 1944 zum tödlichsten Ort der Welt."

"Um echte Universalität in das europäische Projekt einzubauen, sind länderübergreifende Provokationen unerlässlich", verkündet der Journalist Arne Ruth, der die Erinnerungen der Schweiz und Schwedens an ihre Rolle im Zweiten Weltkrieg vergleicht. Die Schweizer kommen dabei deutlich besser weg als die Schweden, muss man sagen. Was seine Hauptthese angeht, erläutert er sie an einem Beispiel, das er 1997 als Chefredakteur von Schwedens auflagenstärkster Morgenzeitung Dagens Nyheter erlebte: Die Zeitung hatte eine investigative Reportage veröffentlich, "die wenig Aufsehen erregte: über die Zwangssterilisation von etwa 60.000 Schwedinnen, die meisten arme Frauen, zwischen den 1930ern und den Mitt-1970ern. Es gab eine akademische Dissertation zu dem Thema, die höflich übergangen worden war. Nachdem wir die Geschichte als erste Zeitung veröffentlicht hatten - recherchiert und geschrieben von dem in Polen geborenen Maciej Zaremba - dauerte es eine Woche, bis das Thema in den schwedischen Medien Schlagzeilen machte. Mehrere Tage hielten alle still. Inzwischen wurde Schweden von Journalisten aus der ganzen Welt überschwemmt, darunter gefeierte amerikanische Anchormen. Ein später veröffentlichter Bericht des schwedischen Außenministeriums stellte fest, dass die Geschichte zwei Drittel aller internationalen Berichte über Schweden in diesem Jahr dominierte. Der verantwortliche schwedische Minister wurde mit der Frage nach einer Kompensation für die Opfer auf CNN konfrontiert. Schwedische Medien, meine Zeitung eingeschlossen, hatte diese Frage bis dahin noch gar nicht berührt; angesichts des internationalen Publikums musste sich der Minister entschuldigen."
Archiv: Eurozine

Guardian (UK), 17.10.2009

Schwungvoll verteidigt Booker-Preis-Gewinnerin Hilary Mantel das Genre Historischer Roman gegen die Kritik, es sei schon von Natur aus "eskapistisch. Als wäre die Vergangenheit eine gefederte Zufluchtsstätte, ein von Streitigkeiten und lautstarken Debatten abgeschirmtes Nest, ihre Ereignisse überzogen von einem pinkfarbenen Schimmer. Aber so sehen moderne Autoren - jedenfalls in der Regel - den Gegenstand ihrer Beschreibung nicht. Wenn überhaupt, dann trifft genau das Gegenteil zu. Die Beschreibung vergangener Ereignisse bringt einen auf gegen Ereignisse und Mentalitäten, die, sollten Sie vorhaben, sie zu beschreiben, sie an die Grenze dessen bringen, was Ihre Leser aushalten. Die Gefahr, der sie begegnen müssen, ist nicht die grübchenbewehrte Schüchternheit der Vergangenheit, es ist ihre Obszönität."

Außerdem: Nicholas Wroe unterhält sich mit dem Dichter und Herausgeber der Literaturzeitschrift Arete, Craig Raine.
Archiv: Guardian

Elet es Irodalom (Ungarn), 09.10.2009

Seit 13 Jahren untersucht der Jurist und Soziologe Bela Revesz die Dokumente der ungarischen Staatssicherheit. Bela Kurcz fragte ihn, ob Ungarns größte Oppositionspartei Fidesz ihre Ankündigung, nach einem Wahlsieg im kommenden Jahr alle Akten zu öffnen, wird durchsetzen können - schließlich halte Ungarns Staatsschutz immer noch 27 Prozent der Akten zurück. Revesz verweist auf Habermas, der betonte, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine gesellschaftliche Angelegenheit sei und deshalb öffentlich geführt werden müsse: "Die grundsätzliche Frage ist allerdings, was die Gemeinschaft mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit anfangen will und kann... Aber am wichtigsten ist meiner Ansicht nach, dass diese Problematik endlich befreit wird: Einerseits aus den Fängen einer hysterischen Politik, der von ihren kurzfristigen Interessen geleiteten Politiker sowie der Medien, die diesen entgegenkommen, und andererseits aus dem Käfig des einseitigen Interesses der Fachleute."
Stichwörter: Fidesz, Staatssicherheit

New York Times (USA), 18.10.2009

Daniel J. Goldhagen hat eine Art weltgeschichtliche Betrachtung über Genozide und Verbrechen an der Menschheit (Auszug) geschrieben, die für ihn, anders als etwa bei Hannah Arendt, durchaus als eine Methode rationaler Politik gesehen werden und ihre Quelle häufig in Nationalismen finden, schreibt James Traub. Genozide verhindern könnte man laut Goldhagen besser ohne die UNO als mit ihr: "Er überschüttet die UNO mit Verachtung. Gründungsprinzipien wie Souveränität und die Nichteinmischung dienten als Schutzschild für Führer im Sudan und anderen Ländern, die ihre eigenen Bevölkerungen abschlachten, wie er zurecht bemerkt. Er würde die UNO auflösen und statt dessen eine Organisation vonDemokratien zu schaffen, welche Interventionen koordinieren. Er fragt sich allerdings nicht, wieviele Mitglieder eine solche Organisation hätte."

Außerdem in der Sunday Book Review: August Kleinzahler bespricht Robin D.G. Kelleys große und offenbar sehr lesenswerte Biografie über Thelonious Monk (Auszug).
Archiv: New York Times