Magazinrundschau
Die Magazinrundschau
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
01.07.2002. Highlight der Woche: Der New Yorker feiert eine amerikanische Verinigung von Nachrufschreibern. Der Economist analysiert die neue Weltordnung. L'Espresso stöhnt über die ewige Jugend der Achtundsechziger. Outlook India untersucht die Krise des Hinduismus. Die NYT Book Review hat auch nach der Lektüre von Richard Rhodes Studie über die SS-Einsatzgruppen nicht verstanden, wie das Böse entsteht. Die London Review of Books erklärt, warum der iranische Film so gut ist. Im Spiegel resümiert Elke Schmitter die Walser-Debatte: Skandale sind hilfreich. NZZ Folio lanciert die Walzer-Debatte.
New Yorker (USA), 01.07.2002

Außerdem zu lesen ist die Erzählung "Half Gone" von Tim O'Brien. In einem umfänglichen Porträt stellt Anthony Lane anlässlich dessen 100. Geburtstages Max Ophüls und seine Filme vor ("The Master of Ceremonies")
Besprechungen. Daniel Mendelsohn rezensiert das Romandebüt von Arthur Phillip: Thema von "Prague" ist die Reise eines jungen amerikanisch-kanadischen Quartetts durch Osteuropa, kurz nach dem Fall der Mauer. Der Roman handele "weniger von einem Ort als von einer bestimmte Zeit", erklärt Mendelsohn. David Denby bespricht die neuen Filme "Men in Black II" von Barry Sonnenfeld ("neuralizes your brain") und "Sunshine State" von John Sayles ("intelligent"). Peter Schjeldahl widmet sich der Lucian Freud-Retrospektive in der Tate Britain.
Nur in der Printausgabe: Lyrik von Nicholas Christopher und Philip Levine sowie einige (im Internet) teilweise rätselhaft be- und untertitelte Berichte über zwei Trenchcoat-Bankräuber, einen "imperialistischen Yankee" ("das Ungeheuer von New York" George Steinbrenner) und eine "widerwillige Chronistin" des World Trade Center.
Economist (UK), 29.06.2002

Im einleitenden Beitrag des Dossiers prüft Economist-Herausgeber Bill Emmott die Aussichten auf eine von den USA entworfene neue Weltordnung und zieht Parallelen zum Stand der Dinge 1945: "Two immediate things make change a likelier outcome than stasis. One is that the attacks on September 11th, and the fear of more in future on an even more devastating scale, have given the United States a powerful new motive for global activism, while persuading most other countries, whatever their snarls of criticism or resentment, not to stand in its way-at least for the time being. The second is that the actions implied by that motive are likely then to draw America into new acts and new types of engagement, whether it likes it or not."
"Books and Arts" vergleicht zwei einander prima ergänzende Erinnerungs-Bücher westlicher Diplomaten über Russland. Das eine - "The Russia Hand" des Clinton-Beraters Strobe Talbott - eine chronologische, etwas schwerfällige und selbstrechtfertigende Arbeit, das andere - "Across the Moscow River" des ehemaligen britischen Botschafters in Moskau, Rodric Braithwaite - mit einem vergleichsweise umfassenderen, nachdenklicheren und erhellenderen Blick. Während Talbott die Leistungen (und Versäumnisse) der Clinton-Regierung und vor allem des Jelzin-Freunds Bill herausstellt, konzentriert sich Braithwaite auf den Kollaps des russischen Kommunismus und den Machtwechsel im Kreml. "He movingly describes Mr Gorbachev's dilemmas and, with many first-hand anecdotes, analyses the last Soviet leader's talents and flaws with rare insight. His description of how power gradually and then with dizzying speed slipped out of Mr Gorbachev's hands is hard to beat."
Weitere Artikel beschäftigen sich mit der auch nach Giulianis Abgang immer noch blendenden Verbrechensstatistik New Yorks sowie mit der Entdeckung ganz ganz früher Picassos: 70 000 Jahre alter, in Stein geritzter geometrischer Muster, aufgestöbert in einer Höhle in Südafrika. Ein Schlag für alle eurozentrischen Kulturimperialisten!
Nouvel Observateur (Frankreich), 27.06.2002

Außerdem - und unbedingt lesenswert -: ein Interview mit Peter Brook, der für das Festival von Aix-en-Provence in diesem Jahr eine Oper ("Don Giovanni") und ein Theaterstück ("Hamlet") inszeniert hat. Brook erklärt, warum ein Sänger, der eine Rolle bereits fünf Mal gesungen hat oder sich "jeder beliebigen Regie anpasst" gar nicht die Ausdruckskraft haben kann, die er, Brook, verlangt. Sehr schön auch seine Erläuterung über die Gemeinsamkeit von Mozart und Shakespeare: "Das Detail. Im alten Komödiantentheater kann der Ausdruck eines einzigen, großen Gefühls fünf Minuten dauern: der Zorn, die Rache etc. Das macht die Sache schwer. Kein Mensch hat solche Gefühlsregungen so lange. Shakespeare und Mozart... konnten den wahren Moment schaffen, klug, wahrhaftig, in einem einzigen Satz."
Folio (Schweiz), 01.07.2002

Hans Peter Treichler erinnert an die Zeit, als Zürich noch eine Bastion im Kampf wider die Tanzlust war: "Entsprechende Traktate trugen den Titel 'Vom Ballsaal zur Hölle' und stellten den Walzer als Verführungsszene in aller Öffentlichkeit dar. Er mache aus gesitteten Damen schmachtende Opfer: 'Ihr nackter Arm liegt praktisch um seinen Hals, ihr teilweise entblösster, schwellender Busen wogt im Aufruhr gegen seine Brust; er presst sie an sich, bis jede Rundung ihres Körpers erbebt vom amourösen Kontakt; sein heisser Atem, nach starken Spirituosen dünstend, streicht ihr über Haar und Wangen' - kurz, in vielen Fällen entpuppe sich der Walzer als Vorspiel 'zum sündigen Werk der Nacht'." (Wie erregend es sein muss, Calvinist zu sein!)
Reto U. Schneider war in Schweden, wo sich jeden Sommer die besten Lindy-Hopper aus aller Welt treffen: "Lindy-Hop ist der von jungen Schwarzen erfundene Swingtanz aus den dreißiger Jahren, der vor allem zu Big-Band-Jazz getanzt wird. Der Name verweist auf den Piloten und Atlantiküberquerer Charles Lindbergh."
Weitere Artikel: Lilo Weber geht der Frage nach, warum der Mensch überhaupt tanzt. Bettina Looser, Daniele Muscionico und Andreas Heller haben mehrere Tanzschulen besucht. Andreas Heller hat die Tänzer im Tanzpavillon des Hotels Luitpold in Bad Wörishofen beobachtet (Stolpern beim Quickstep ist nicht erlaubt - auch mit über 70 nicht). Markus Storrer hört die Knochen der Breakdancer splittern. Tobi Müller beschreibt die Lust des Ravers. Und Raphael Zehnder erklärt, wie ein DJ die Leute zum Tanzen bringt.
New York Times (USA), 30.06.2002

Ja, schreibt A. O. Scott über Gary Shteyngarts Debütroman "The Russian Debutante's Handbook" (Auszug und Audiolesung), dies ist ein weiteres Buch über einen übergebildeten, unterreizten jungen Menschen aus Manhattan auf seinem Weg durch einen reichlich chaotischen Moment der Geschichte. Ein klassischer Bildungsroman also? Abwarten, meint Scott und folgt dem Helden, Vladimir, nach Prava, "a thinly disguised Prague", wo der Plot dann doch ganz schön ausgefuchst wird, "as Vladimir becomes the architect of a complex pyramid scheme and the impresario of little magazines and rave clubs, a bohemian gangster-mogul". Des Autors spielerische, karnevaleske Sensibilität, so Scott, "fits within a Russian satirical-fantastic tradition". Und da steht schließlich auch der große Bulgakow!
Außerdem in der Review: Ein von der Rezensentin wegen seines "fresh style" gelobter Roman von Kate Jennings mit dem schönen Titel "Moral Hazard" (Leseprobe), in dem ein politisch eher linksorientierter Redenschreiber in die "ethical jungles of high finance" gerät, und Biografien - über Chet Baker (Auszug "Deep in a Dream") sowie, als fünfter und letzter Band eines monumentalen Projekts von Joseph Frank, über Dostojewskij. Hier zum Anlesen.
Espresso (Italien), 04.07.2002

Außerdem schildert Paolo Pontoniere die neue Terrorangst-Welle in den USA angesichts des bevorstehenden Independence Days, und Giorgio Bocca kommt noch einmal auf die mediale Abservierung von Biagi, Santoro und Luttazzi durch Berlusconi zu sprechen und erklärt sie damit, dass das Fernsehen nun einmal alles für den Cavaliere sei: "die Geld- und Machtfabrik, die Illusion, die viel stärker ist als die Wirklichkeit."
Prospect (UK), 01.07.2002

In der Cover Story untersucht John Kay die Folgen der Privatisierung 20 Jahre nach ihrer Einführung auf der Insel und relativiert ihren Erfolg so: "The subsequent effects of privatisation are as much a consequence of the fact of change, rather than the effects of specific change. Managers are more confident, organisations whose primary concerns were technical excellence have learned about marketing, customer service and financial control ? All could have been achieved without the sale of the businesses, and in some cases were, but it is unlikely they would have been implemented had asset sales not been on the agenda. Still, of the three components of market-oriented reform, disengagement and liberalisation contributed more to change than the sale of assets itself."
Andere Beiträge: Malise Ruthven untersucht die Stichhaltigkeit der von Gilles Kepel in seinem Buch "Jihad: The Trail of Political Islam" vertretenen These, wonach der 11. September den letzten Seufzer der moribunden radikal-islamischen Bewegung darstellt, und legt die repressiven Strukturen muslimisch geführter Staaten frei. Benjamin Blackwell porträtiert Venezuelas diktatorischen Präsidenten und Stehaufmanderl Hugo Chavez (mehr hier), und Anthony Brown diskutiert mit Nigel Harris über die Frage, ob Großbritannien die Immigration braucht.
Outlook India (Indien), 08.07.2002

Zwei andere Artikel befassen sich mit dem Pressewesen im Land: Bhavdeep Kang erörtert die politischen und ökonomischen Implikationen eines von der Regierung Vajpayee ohne langes Federlesen durchgesetzten Beschlusses, der ausländischen Investoren den Zugang zu indischen Printmedien erleichtert, und vermutet dahinter die Absicht, den großen Zeitungskonsortien, zu denen auch die regierungskritische Times of India gehört, Konkurrenz und auf lange Sicht einen Maulkorb zu verpassen. Und Balbir K. Punj kritisiert noch einmal die Usancen politischer Berichterstattung, die immer mehr dem Sensationsjournalismus gleicht, wo Lügen feilgeboten und Existenzen zerstört werden. Als Beispiele nennt Punj das indische Online-Magazin tehelka.com, das Korruption dramatisiert oder fingiert habe, und Arundhati Roys blutrünstige Schilderungen der Gujarat-Ereignisse (im Outlook vom 6. Mai), die sich z. T. als falsch erwiesen haben.
In einer Buchbesprechung schließlich freut sich Urvashi Butalia über Amitav Ghoshs Prosasammlung "The Imam And The Indian" - "an eclectic mix of academic essays, general prose pieces, reflective and personal musings" -, die jeder Leser mit Interesse für das Wesen des Schreibens, der dichterischen Fantasie (und ihrer Grenzen) oder für die Verantwortung des Schriftstellers (für sein Thema etwa) "von vorn bis hinten" lesen sollte.
Spiegel (Deutschland), 01.07.2002

Die zweite Debattenwelle um Walsers neuen Roman kommentiert Elke Schmitter in einem Beitrag. Redigiert ist es ja nun, das Buch, oder ist es doch nur frisiert? Was wie ein Zugeständnis aussieht, meint Schmitter, ist so gar nicht gemeint. "Martin Walser, inzwischen eine Spitzenkraft in der Disziplin 'Interessantes Missverständnis', hat zwar seinen Roman auf den Vorwurf hin redigiert, er sei antisemitisch ... doch weist er den Vorwurf weit von sich, mit jener grüblerischen Selbstgewissheit, die zu seiner Hornhaut geworden ist." Was das Debattieren betrifft, findet Schmitter, kann es gar nicht heiß genug hergehen, schließlich bewährt sich dabei "der legitime Widerstand gegen Versuche, mit den Verbrechen der Nazis robuster umzugehen, als es in den vergangenen 50 Jahren üblich und geboten war". Skandale, so Schmitter, sind hilfreich. "Sie machen, gerade im Politischen, das schwer Durchschaubare verständlich und das Abstrakte erzählbar. Sie bilden Gedächtnis aus, offenbaren Interessen und ziehen Grenzen - und manchmal schaffen sie Klarheit."
Im Spiegel-Gespräch erläutert Gruner + Jahr-Chef Bernd Kundrun den vergangene Woche bekannt gewordenen Plan des Verlags, seine Regionalzeitungen zu verkaufen. Krisenstrategie, meint Kundrun: "Der Kostendruck wird dazu führen, dass - wie bereits in den USA und Großbritannien - Zeitungsketten entstehen. Regionale Zeitungsverlage, die nicht einer solchen Kette angeschlossen sind, werden es künftig sehr schwer haben. Als Großverlag habe ich deshalb nur zwei Möglichkeiten: Ich kann mich zurückziehen - oder ich muss im dreistelligen Millionenbereich in weitere Regionalzeitungen investieren." Dass es am nötigen Kleingeld mangelt, streitet Kundrun aber komischerweise ab. Das Zeitungsgeschäft sei profitabel gewesen, die Bilanzen 2002 hätten sich "deutlich verbessert", und sogar neue Titel seien in Planung. Wie, Kostendruck?
London Review of Books (UK), 27.06.2002

Im LRB-Essay feiert Colin Burrow die elisabethanischen Übertragungen der Odyssee und der Ilias von George Chapman. Was Chapman zwischen 1598 und 1616 zustande brachte, schreibt er, "testifies to a lifetime's battle with thoughts and afterthoughts, a continual argument between the translator's own preoccupations and his sense of what is distinctive to Homer. Chapman's project took 18 years to complete, a period in which he grew bored, ran short of time, changed his mind, changed his patron, had moments of inspiration and phases of weariness. We know this because he tells his readers that it is happening. Time features almost as another character in his translation." Bestimmt, so Burrow, gibt es genauere Übersetzungen zu Homer, "but there are none so honest about the fact that sometimes translations take fire and sometimes they misfire".
Außerdem erzählt Andrew O'Hagan, wie er Fußball für sein Leben hassen lernte, und in der Printausgabe findet sich eine Besprechung der Grass-Novelle "Im Krebsgang".
Express (Frankreich), 27.06.2002

Außerdem: Peter Brook hat seinen Auftritt auf dem Festival in Aix-en-Provence mit den Inszenierungen des "Don Giovanni" und der "Tragedie d?Hamlet". Auf der Bühne nur ein orangenes Tuch. "Nichts darauf, nicht darunter", schreibt Laurence Liban. Brook fasziniert eben auch diesmal mit seinem Theater des leeren Raums. Ein weiteres Sommerfestival in Frankreich ist das Festival de la Rochelle. Dort stellt Juliette Binoche vier ihrer Lieblingsfilme vor. Dem Express hat sie verraten, warum sie gerade diese Filme liebt.
Weitere Artikel: Der Express bringt ein kurzes Interview mit dem neuen Direktor des Musee d?Orsay, Serge Lemoine. Er hat vor, einige Bilder des Museums an eine andere Stelle zu hängen. Er glaubt, damit einer Überbewertung des Impressionismus entgegenzuwirken. Einen neuen Blickwinkel eröffnet das allemal. Martine Lachaud stellt die Gewinner des "Concours national de jazz de la Defense" vor.
Die Bücherschau geht in dieser Ausgabe auf Tauchkurs: In Frankreich trauen sich Wissenschaftler häufiger, auch mal was Fiktionales auf dem Schreibtisch zu fabrizieren. Jean Courtin, wissenschaftlicher Direktor des CNRS und Experte für Ur- und Frühgeschichte hat einen Roman mit dem Titel "Le Chamane du bout du monde" vorgelegt. Er geht darin der Frage nach, wie sich Menschen wohl vor 27 000 Jahren geliebt haben mögen. Auf so eine Idee gebracht haben ihn seine Tauchgänge in den Calanques vor Cassis, wo eine sixtinische Kapelle mit aufschlussreichen Wandmalereien vor mehreren tausend Jahren abgetaucht ist. In einem Interview erzählt der Wissenschaftler vom Rausch der Tiefe.
Ansonsten: Der Express empfiehlt Lektüre, bei der es sich wirklich lohnen soll, sie auch im Sommerurlaub mit sich herumzuschleppen. Unter den Romanen "Quand nous etions grands" der Pulitzer Preisträgerin Anne Tyler und "Le baton d?Euclide" des Astrophysikers Jean-Pierre Luminet. Er erzählt die Geschichte der mythischen Bibliothek von Alexandria aus dem Blickwinkel von vier Wissenschaftlern.
Und: Obwohl es sich lohnt, in Paris einfach ziellos herumzuschlendern, legt einem der Express neue Führer durch die französische Metropole ans Herz. Darunter: "Le Routard des amoureux a Paris".