Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.04.2006. In der taz stellt Tim Parks eine britische Frage zum deutschen Bevölkerungsrückgang: Warum nicht hundert Jahre früher? Überhaupt ist es eine besondere taz: Zum 27. Geburtstag der Zeitung schreiben viele Verleger und Schriftsteller. Die Welt könnte sich Günther Jauch als deutschen Berlusconi vorstellen. NZZ und FAZ denken über das italienische Chaos nach. In der SZ fordert Hans Küng eine Modernisierung der katholischen Kirche.

TAZ, 15.04.2006

Die taz feiert Geburtstag und hat sich in die Hände von 31 Buchverlegern begeben. Darum ist manches etwas anders heute.

Wenig Verständnis zeigt der Schriftsteller Richard Wagner für das allgemeine demografische Wehklagen im Land: "Unsere Gesellschaft hat nicht ein Nachwuchsproblem, sondern eine Beschäftigungskrise. Aus mehr Kindern können noch mehr Arbeitslose werden. Wenn es aber so sein sollte, das manche Männer in Deutschland die Frau wieder mehr zur Kinderbetreuung abstellen, das heißt in den Hausfrauenstand zurückversetzen möchten, so ist das für das Fortkommen der Gesellschaft prekär. Es würde uns auch ökonomisch zurückwerfen, würden wir doch damit auf die Ressourcen, auf die Leistungsfähigkeit der Hälfte der Bevölkerung verzichten. Dass eine solche Fragestellung überhaupt aufkommt, deutet vor allem auf die Krise eines antiquierten Männerkonzepts hin. Vielleicht sollten wir uns nicht nur mit dem offensichtlich falsch gepolten islamischen Mann auseinander setzen sondern auch den frustrierten deutschen Möchtegernpatriarchen ins Auge fassen."

Über die Demografie-Frage schreibt auch der Autor Tim Parks auf der Tagesthemenseite und eröffnet seinen Artikel mit einem schmerzhaften Witz: "Warum nicht hundert Jahre früher? So die unausweichliche, ironische Reaktion der Engländer auf Prognosen, dass es mit dem deutschen Volk bergab ginge." Gerrit Bartels beschreibt den Stress mit 31 Verlegern beim Zubereiten dieser Geburtstagstaz. Franzobel erzählt eine "Tragikomödie von der Entstehung einer Zeitung".

In einer Literataz (Inhalt der Beilage) stellt Martin Mosebach den kolumbianischen Philosophen Nicolas Gomez Davila vor. Jan Philipp Reemtsma schreibt eine Glosse über den Selbstfindungswahn der Deutschen. Arnold Stadler fragt: "Wie hält mans mit der Religion im multikulturellen Europa?" Und Christoph Links interviewt Rechtsanwalt Christian Schertz zum Klageboom bei Sachbüchern und den juristischen Spielräumen der Prominenten.

Weitere Artikel: Über das Verhältnis von Verlegern und Autoren denkt Michael Naumann nach, und zwar am Beispiel Rushdie - er kennt auch die Einwände eines der Eigentümer des Beck-Verlags gegen die Beteiligung an der Veröffentlichung der "Satanischen Verse". Dessen Argument: "Die knallen die Leute ja nach dem Alphabet ab. Und Beck steht nun mal vorne, anders als Rowohlt." Jan Krömer und Evrim Sen preisen das Zeitalter der Raubkopie als Verwirklichung des Marxismus unter Beibehaltung des Kapitalismus. Jean-Christophe Ammann, der ehemalige Direktor des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt, beklagt die zunehmende Blockbuster- und Event-Mentalität im Kunstbetrieb. Im Interview spricht der belgische Theaterregisseur Luk Perceval über "das Kreuz mit den Deutschen" - und diagnostiziert einen "Mangel an Leichtigkeit". Horst Röper schreibt über Zeitungsmonopole, über die sonst gerne geschwiegen wird. Jochen Jung hat auch noch ein bisschen was zur Causa Weidermann-Literaturgeschichte zu sagen. Zum Karfreitag wird ein Gedicht von Jörg Fauser abgedruckt. Und Horst Röper fragt, wem die FAZ und andere Pressetitel eigentlich gehören.

In der zweiten taz macht sich der Herausgeber der oppositionellen italienischen Zeitschrift MicroMega Paolo Flores d'Arcais Gedanken über Papst Benedikt und das Deutsche an ihm.

Und Tom.

Berliner Zeitung, 15.04.2006

Arno Widmann bereitet uns im Magazin der Zeitung auf eine viel erwartete Inszenierung von Joshua Sobols Stück "Alma" vor und lässt sich von Regisseur Paulus Manker erklären, wie die Inszenierung im Kronprinzenpalais funktionieren wird: "Es ist kein Theaterabend. Es gibt keine Bühne. Es wird gleichzeitig in mehreren Räumen gespielt. Die Zuschauer folgen der Handlung oder den Darstellern. Es gibt drei Almas. Man kann also der nachsteigen, die einen am meisten beeindruckt. Wer sich nicht entscheiden kann, der wird mal dieser mal jener folgen beim Gang durch das Kronprinzenpalais und durch die Lebensgeschichte von Alma Mahler- Werfel."

Welt, 15.04.2006

Einen wie Silvio Berlusconi könnte es demnächst auch in Deutschland geben, behauptet Filmregisseur Jan-Henrik Stahlberg. "Ist nicht Günther Jauch in einer 'Volksbefragung' zum 'liebsten Bundeskanzler' gekürt worden? Was wäre, wenn er sich der Wahl stellen würde? Vielleicht steht der Deutsche nicht so auf alberne Gesten, schillerndes Pathos, Kohle ohne Ende und die längste Yacht ... aber gute Stube, Eloquenz, Sittsam- und Höflichkeit, ja sogar Spitzbübigkeit, das kommt schon eher an. Und was wäre, wenn dieser Kandidat, der also ganz anders wäre in seinem Auftreten als Berlusconi, aber eben neu und unverbraucht, wenn er versprechen würde mit diesem ganzen politischen Filz aufzuräumen? Wenn er vorgeben würde, endlich auch dem kleinen Mann die Fesseln zu lockern, die Steuern zu senken?"

Weitere Artikel: Gerhard Gnauck motiviert eine neuer Roman von Eustachy Rylski dazu, über die nachlassende Begeisterung der Polen für Frankreich nachzudenken. Gerhard Charles Rump berichtet, dass die beiden Kölner Kunstmessen Cologne Fine Art und Art Cologne im nächsten Jahr mit der "duesseldorf contemporary" Konkurrenz bekommen. Rump meldet sich auch von der zweiten ViennAfair. Olga Kronsteiner resümiert die 31. Residenz Messe für Kunst und Antiquitäten in Salzburg. Elmar Krekeler freut sich nach Clemens Meyers "Als wir träumten" auf weitere Beispiele deutscher" Unterschichtenliteratur".

In der Literarischen Welt denkt der Schriftsteller Thommie Bayer in einer Glosse darüber nach, worum es den islamischen Fundamentalisten geht. "Dass Bill Gates und Steve Jobs keine Wahabiten sind? Oder geht es um Gauguin, Picasso, Andy Warhol, Mozart, Bach, Paganini, die Beatles, die Callas, Nurejew, Lubitsch, Cary Grant oder Marilyn Monroe, Palladio, Schinkel, Renzo Piano? Das tut uns leid. Geht aber nicht rückgängig zu machen. Wir könnten uns vielleicht dafür entschuldigen, aber wer sollte das tun? Die Regierungschefs? Die Außenminister? Handverlesene Delegationen aus Vertretern aller Gesellschaftsschichten? Günter Grass?"

Außerdem preist die Krimiautorin Donna Leon das gute Leben ohne Autos in Venedig. Thomas Kielinger sinniert über den britischen Charakter. Und Karl-Josef Kuschel klärt über die Verbindungen zwischen Pesach, Ostern und Mohammeds Geburtstag auf.

Besprechungen widmen sich Elmar Goerdens "stiller, unaufgeregter, klarer" Inszenierung von Botho Strauß' Schändung im Bochumer Schauspielhaus, einem Konzert von "Riders On The Storm" mit ehemaligen Doors-Mitgliedern in Berlin sowie einer "luxuriösen" Aufführung des frühen Mozart-Stücks "Die Schuldigkeit des ersten Gebots" in Wien,.

NZZ, 15.04.2006

Im Feuilleton durchblättert Franz Haas die italienischen Feuilletons und konstatiert: "Drei Tage nach dem Ende der Wahl sind die klugen italienischen Geister noch immer nicht so recht erwacht, kein Wort der bedeutendsten Schriftsteller und Vordenker, die sonst nicht auf den Mund gefallen sind: Umberto Eco, Antonio Tabucchi, Gianni Vattimo.

Weitere Artikel: Andrea Köhler stellt das Programm des glamourös besetzten zweiten World Voices Festivals des Pen Clubs vor, das Ende April in New York stattfindet (und wo übrigens auch signandsight.com, also der englischsprachige Dienst des Perlentauchers, mit einem Podium präsent ist, mehr hier). Besprochen werden eine Ausstellung mit Kunstschätzen aus Montpellier in der Fondation de l'Hermitage in Lausanne, Erich Wolfgang Korngolds Oper "Tote Stadt" in Genf, Botho Strauß' "Schändung" mit Bruno Ganz in Bochum und Bücher, darunter eine Biografie über Jane und Paul Bowles.

In der Beilage Literatur und Kunst ergeht sich Richard Wagner in den "Karpaten als Mythos und Ideologie". Konrad Schmid wirft einen neuen Blick auf die Erzählung von Abraham und Isaak und ihre theologischen Deutungen. Und sonst werden auch hier viele Bücher besprochen, darunter theologische Neuerscheinungen zu Karl Barth, eine ddeutsch-lateinische Luther-Ausgabe und ein Band mit Gedichten von Joseph Brodsky.

FAZ, 15.04.2006

Thomas Hauschild hält Italien nach dem knappen Wahlergebnis nicht für chaotisch, sondern angesichts der Verhaftung des Mafiabosses Provenzano für vorbildlich. "Es hätte also auch ein Moment des Putsches sein können oder der Moment, in dem die staatliche Gewalt zusammenbricht. Aber dafür ist Italien vielleicht zu alt und erfahren geworden, dieses mehrfach zweigeteilte politische System, in dem schon so viele politische Optionen ausprobiert wurden. Also wurde die zweite Nacht nach der Wahl, jener Augenblick, wo der Zeiger erstmals, noch zitternd, aber schon deutlich nach der einen Seite ausschlägt, zum Moment des Befreiungsschlages. Seit Berlusconis Machtantritt - mit einem sizilianischen Votum von damals fast siebzig Prozent für 'Forza Italia' - waren Justiz und Sicherheitskräfte kontinuierlich bedrängt und im Kampf gegen die Mafia gebremst worden. Jetzt schlugen sie los."

Weiteres: Ellen Kohlhaas gratuliert dem Komponisten Peteris Vasks zum Sechzigsten. Joseph Croitoru erfährt aus osteuropäischen Zeitschriften mehr über die Vergangenheitsbewältigung im ehemaligen Ostblock und das Wirken deutscher Kommunisten in der Sowjetunion. J. M. berichtet, dass im Prozess gegen Zacarias Moussaoui den Geschworenen die unveröffentlichten Tonbandaufzeichnungen aus dem United Airlines Flug 93 vorgespielt wurden.

In der ehmaligen Tiefdruckbeilage analysiert Christine Tauber Eugene Delacroix' Bild "Tod des Sardanapal" als Zeugnis eines völlig autonomen Künstlers. Der ehemalige Bayerische Kultusminister (nehmen wir an) Hans Maier erinnert an den Gang nach Canossa und die darauffolgende Trennung von Kirche und Staat. Auf der Medienseite lässt sich Jan Freitag vom NDR-Adelsexperten Rolf Seelmann-Eggebert die Atttraktivität der Königshäuser erklären. "Man liebt in schlechten Zeiten den Glanz, der das eigene Jammertal verschönt."

Auf der Schallplatten- und Phonoseite empfiehlt Peter Kemper "The Brave and The Bold", ein Coveralbum "der anderen Art" von Tortoise und Bonnie Prince Billy. Vorgestellt werden zudem Brittas Album "Das schöne Leben", ein Wiener "Parsifal"-Mitschnitt mit Christian Thielemann sowie Konrad Junghänels Einspielung von Dietrich Buxtehudes Passion "Membra Jesu Nostri".

Besprochen werden eine Schau im Louvre mit Bildern aus einem Wettbewerb des venezianischen Dogenpalastes im Jahr 1582, eine Ausstellung mit Werken des Werbegrafikers und Malers Anton Stankowski in der Stuttgarter Staatsgalerie, Gregor Horres' Version von Paul Dessaus Oper "Einstein" in Dortmund ("Dieser 'Einstein' hätte ein wenig Unsterblichkeit verdient", jubelt Ulrich Schreiber), Thomas Langhoffs "unverbindliche" Inszenierung von Ibsens "Brand" am Münchener Residenztheater, Elmar Goerdens Bochumer Inszenierung von Botho Strauß' "Schändung" mit Bruno Ganz als Titus Andronicus, das Auftaktkonzert der Deutschlandtournee von Rosenstolz in Berlin, und Bücher (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 15.04.2006

Zur Feier des Osterfests erzählt Arne Karsten die Geschichte der Peterskirche zu Rom. Ina Hartwig berichtet, dass in der Neuen Rundschau tatsächlich Neues von Freud über Jesus nachzulesen ist, genauer gesagt: über "Jesus, den Ödipuskomplex und die friedensstiftende Wirkung der Homosexualität".

Weitere Artikel: Carin Ceballos Betancour widmet sich in ihrer Bonanza-Kolumne einem esoterischen Brief, den sie öffnete, obwohl er nicht an sie adressiert war. Im Interview spricht der Dirigent Sebastian Rouland über Reinhard Keiser und seine barocke Oper "Croesus".

Besprochen werden Elmar Goerdens Inszenierung von Botho Strauss' "Schändung" in Bochum, Christian Spucks Choreografie von E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann" in Stuttgart und eine Ausstellung mit Werken von Gerhard Glück im Frankfurter Caricatura-Museum.

SZ, 15.04.2006

Der Theologe Hans Küng, jüngst noch im Gespräch mit Papst Benedikt, plädiert für ein "Tauwetter", um die katholische Kirche aus der Krise zu reißen: "Der Papst hat die Wahl zwischen dem weiteren Rückzug in die vormoderne, vorreformatorische Konstellation (Paradigma) des Mittelalters - oder einer Vorwärtsstrategie in die nachmoderne Konstellation, in welche die Welt längst eingetreten ist." Freilich hat Küng seine Zweifel, gerade beim Thema Ökumene: "Ob Ratzinger, der schon so lange im katholischen Milieu lebt, genügend realisiert, dass immer weniger Katholiken die konfessionelle Amtsanmaßung verstehen und akzeptieren, die Amtshandlungen von protestantischen oder anglikanischen Pfarrern oder Pfarrerinnen für ungültig ansieht; eine konfessionsverbindende Ehe als ein Vergehen und die aktive Teilnahme an einem evangelischen Abendmahl als religiöses Relikt betrachtet?"

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Orhan Pamuk erzählt die kulturverbindende Geschichte aus dem 15. Jahrhundert, wie "Venedig seinen Maler Gentile Bellini als Kulturbotschafter nach Istanbul zu Mehmet dem Eroberer schickte" (wir haben bereits aufdie englische Version des Artikels imGuardian verwiesen). Was den gefassten Mafiaboss Bernardo Provenzano mit seiner Olivetta-Schreibmaschine verband, weiß Stephan Maus zu berichten. Klaus-Peter Richter beklagt Fehlentwicklungen in der Musikausbildung. In der Reihe "Kinobranche im Wandel" wirft der Drehbuchautor Günter Schütter ("Der rote Kakadu") der Zunft Feigheit und Kleinbürgerlichkeit vor.

Besprochen werden Thomas Langhoffs Inszenierung von Ibsens "Brandt" am Münchner Residenztheater, Botho Strauss' "Schändung" am Bochumer Schauspielhaus unter Regie von Elmar Goerden, Pinks Video "Stupid Girls", das sich gegen die Dummheit des Musikbusiness wendet und ein Mozart-Konzert beim Osterklang Wien unter Nicolaus Harnoncourt.

Im Interview der SZ am Wochenende spricht Jeanne Moreau über das Leben und es ist nicht viel weniger als eine große Konfession: "Ich habe den Krebs überwunden. Ich habe ihn bekämpft und überwunden. Und wissen Sie, es gibt diese Phrase, dass jeder Tag danach ein Geschenk sein soll. Aber was soll ich sagen? Jeder Tag ist seitdem ein Geschenk. Jeder. Ich bin in zwei Jahren 80 Jahre alt, ich drehe seit bald 60 Jahren Filme: Ich soll Angst vor dem Tod haben? Nein, mein Lieber! Der Tod, er macht mir keine Angst mehr."

Weitere Artikel: Andrian Kreye stellt Mark Ecko vor, der das Ende der großen Marken voraussagt und mit seiner eigenen Marke - Ecko - gerade riesige Erfolge hat. Birk Meinhardt hat vor Ort in Sachen Rudi-Dutschke-Straße und Axel Springer recherchiert. Rainer Stephan hat eine Verteidigung des Regietheaters gegen seine Fans verfasst. Vom Kampf der Kambodschanerin Somaly Mam gegen Kinderprostitution berichtet Birgit Weidinger. Wolfgang Koydl informiert über den 90. Jahrestag des irischen Aufstands gegen die Briten - und die damit zusammenhängenden Feierlichkeiten. In der Reihe "Es war einmal" erinnert Kurt Kister an die Schlacht von Gettysburg, die den amerikanischen Bürgerkrieg entschied. Der norwegische Autor Per Petterson erzählt eine Geschichte von "Vor dem Krieg".