Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.04.2006. In der FR zeichnet der irakische Autor Najem Wali ein düsteres Bild des Iraks drei Jahre nach Kriegsbeginn. In der FAZ wendet sich Frank Berberich von der Lettre International gegen die Literaturfonds-Subventionen für die Zeitschrift Volltext. Auf die SZ wirkt Bruno Ganz' Gesicht, als habe er sich morgens mit Schmirgelpapier abgetrocknet. Die NZZ verkündet das Ende der Prime Time und den Anbruch von My Time.

FR, 13.04.2006

Der irakische Autor Najam Wali (der vor drei Tagen schon in der NZZ schrieb) zieht drei Jahre nach dem Beginn des Irak-Kriegs eine bittere Bilanz und äußert auch seine tiefe Enttäuschung über die Amerikaner: "Mal ganz ehrlich: Was haben wir gewonnen? Früher lebten die Iraker unter der Diktatur, heute in unberechenbarem Chaos. Mord und Grauen lauern an jeder Straßenecke. Das ist die schreckliche Bilanz der letzten drei Jahre. Und nichts bessert sich, im Gegenteil, es wird immer noch schlimmer. Die USA haben Irak zum Hauptschauplatz ihres Krieges gegen ihre erbitterten Feinde, die Al Qaida und Iran, erhoben, und gehen dabei über die Leichen der Iraker."

Weitere Artikel: Peter Iden erinnert an Samuel Becketts eigene Inszenierung des "Godot" am Berliner Schiller-Theater im Jahr 1975. Michael Rutschky fragt in einer kleinen Glosse: "Wie kommt es, dass seit dem Ende von Rotgrün die Stille des Abwartens herrscht?" In Times mager meditiert Harry Nutt über die Wahl der Stadt Essen zur Kulturhauptstadt, über die T-Frage und andere Probleme der jüngsten Vergangenheit.

Besprochen werden Achim Freyers Inszenierung von Luigi Cherubinis Oper "Medee" in Mannheim und regionale Kulturereignisse.

NZZ, 13.04.2006

Hanspeter Künzler glaubt, in der Popwelt - von Muse über Coldplay bis zu den Libertines - einen Trend zum Klangschmelz zu entdecken: "Echte Streichinstrumente verbreiten offenbar eine Wärme, die sich mit digitaler Technik nur schwer synthetisieren lässt. Doch Schmelz und Eleganz des satten Streicherklangs sind heute offensichtlich gefragt - Geigen, Bratschen und Celli garantieren für eine kuschlige Geborgenheit in der rückwärtsgewandten Popszene. Ihre suggestive Wirkung, die sie der klassischen Tradition verdanken, entfalten sie dabei - quasi als behaglicher Klang-Fremd-Körper - in ganz unterschiedlichen stilistischen Gefilden: vom Hip-Hop bis zum Techno, vom Jazz bis zum Rock'n'Roll."

Weiteres: Joachim Güntner porträtiert mit Görlitz die Unterlegene in der Entscheidung um den Titel der Kulturhauptstadt. James M. Robinson reklamiert, dass die National Geographic Society mit dem "Evangelium des Judas" allzu effektkalkulierend auf ein breites Publikum schielt: "Das Aufregendste an dem neuen Text allerdings ist sein Titel, der einen allzu leicht dazu verführen könnte, zu glauben, er gebe neue Auskünfte darüber, was wirklich 30 n. Chr. in der Karwoche geschah. Stattdessen geht es um eine gnostische Sekte aus der Zeit um 150 n. Chr., die bei dem Kirchenvater und Häresie-Chronisten Irenäus von Lyon um 180 erwähnt wird." Ekkehard W. Stegemann dagegen begrüßt die nüchtern-informative Publikation des Textes.

Besprochen werden die Filme "Requiem" von Hans-Christian Schmid, "Transamerica" mit der Hauptdarstellerin Felicity Huffman und die kirgisische Komödie "Saratan" von Ernest Abdyjaparow.

Auf der Medienseite informiert Tilmann P. Gangloff über die hohen Erwartungen, die die digitale Verwertung des Fernsehens auf der großen Branchenmesse in Cannes geweckt hat: "Man fühlt sich an die Internet-Euphorie zur Jahrtausendwende erinnert, als auch in Cannes Prognosen mit astronomischen Summen kursierten. Die Kundschaft, heißt es, wolle ihre gewohnten Sendungen in Zukunft völlig unabhängig vom heimischen Fernsehgerät konsumieren können. Für AOL-Chef Jonathan Miller ist der Begriff Prime Time Vergangenheit; der Nutzer sehe nur noch 'my time'."

Welt, 13.04.2006

Der Schauspieler Matthias Heine erklärt zum hundertsten Geburtstag von Samuel Beckett den Regisseur und Autor Rene Pollesch zu dessen legitimen Erben. Pollesch selbst glaubt, dass Becketts Texte die einzigen sind, die ein wenig Abstraktion der Theaterfiguren lehren können: "Allein ein Text oder Drama wird das im Theater kaum erreichen können, solange mit dem Schauspielerkörper immer automatisch eine Vorstellung von Humanität die Bühne betritt, die einigen grundlegenden Aussagen über die menschlichen Leben bis heute immer im Wege steht."

Weiteres: Paul Badde erinnert daran, dass vor fünfhundert Jahren der Grundstein für den Petersdom gelegt wurde. Ein wenig deprimiert hat Peter Zander der Unicef-Film "Alle Kinder dieser Welt", für den namhafte Regisseure von Kinderschicksalen erzählen. Bedrückende und erschütternde Filme aus Osteuropa hat Kirsten Liese auf dem Wiesbadener "goEast"-Festival gesehen. Hendrik Werner vermutet, dass sich auch unter einem Ministerpräsidenten Prodi Italiens politische Kultur nicht sonderlich ändern wird.

Besprochen werden Chris Columbus Musical-Verfilmung "Rent" (von "kurzatmiger Schlichtheit", wie Manuel Brug meint), Ralf Huettners Film "Reine Formsache".

FAZ, 13.04.2006

Der Streit um die vom Literaturfonds mit 300.000 Euro subventionierte geplante Buchmessenausgabe der Zeitschrift Volltext geht weiter. Frank Berberich, Herausgeber der Lettre International, beklagt Willkür bei der Vergabe öffentlicher Gelder: "Wieder greift die Beamtenhand in die öffentliche Schatulle, um den eigenen publizistischen Ehrgeiz am Markt zu befriedigen - nur ein lächerliches Schauspiel, würde nicht ein ungleicher Wettbewerb betrieben und somit Schaden angerichtet, würden nicht Mittel verschwendet, die präziser, wirksamer, erfolgreicher eingesetzt werden könnten, würde man sie unabhängigen Akteuren zur Verfügung stellen. Aber jene, deren Aufgabe es sein sollte, als Ermöglicher des Besten zu wirken, lassen ihrer Ambition freien Lauf, als Selbermacher in Erscheinung zu treten."

Weitere Artikel: Christiane Hoffmann fürchtet in einem Artikel der FAZ-Familienserie, dass die heute Kinderlosen aus "Berührungsangst mit dem Leben" auf Nachwuchs verzichten. Heinrich Wefing fordert vom heute erwarteten Urteil im Berliner Ehrenmordprozess: "So etwas wie einen 'kulturellen Rabatt'... kann es auf Straftaten nicht geben." In der Leitglosse zeichnet Dirk Schümer ein Bild des milliardenschweren Mafiabosses Bernardo Provenzano, der jahrelang in kargster sizilianischer Umgebung versteckt lebte, bevor er jüngst festgenommen wurde. Patrick Bahners kritisiert Pläne des Goethe-Instituts, europäische Häuser zu schließen. Henning Ritter gratuliert dem ehemaligen Louvre-Chef Pierre Rosenberg zum Siebzigsten.

Auf der Filmseite resümiert Hans-Jörg Rother das "GoEast"-Festival in Wiesbaden. Und Michael Althen schreibt über die Schauspielerin Marianne Denicourt, die sich gegen die Verwendung von Geschehnissen aus ihrem Leben in einem Film ihres Ex Arnaud Desplechin gerichtlich wehrte und scheiterte. Auf der Medienseite schreibt Jordan Mejias über den New Yorker Klatschreporter Jared Paul Stern, der versucht haben soll, sich von einem Milliardär für vorteilhafte Berichterstattung bestechen zu lassen.

Auf der letzten Seite schreibt der katholisch-protestantische Theologe Klaus Berger nach seiner gestrigen Einlassung in der Welt einen zweiten Artikel über das neu aufgefundene "Judas-Evangelium". Andreas Rossmann berichtet über erfreut anpackende Politiker und Kulturfunktionäre im Ruhrgebiet nach der Kulturhauptstadtentscheidung für Essen. Und Frank Pergande betrachtet den Zeit-Verleger Gerd Bucerius, der demnächst hundert Jahre alt würde, auf einer ihm gewidmeten Briefmarke.

Besprochen werden Edward Bonds Stück "Wer da?" in der Regie Hermann Schmidt-Rahmers in Dortmund, eine Hans-Bellmer-Ausstellung im Centre Pompidou, ein Auftritt der kanadischen Band mit dem schlichten Namen "Stars" in Frankfurt und Wagners "Parsifal" in der Regie Roland Aeschlimanns in Leipzig.

TAZ, 13.04.2006

Auf der Meinungsseite beruhigt Marcia Pally die Europäer mit einem Blick auf die Anfangszeit der USA: Etwaige Spannungen, meint sie, sagen nichts über einen späteren Erfolg aus: "In den angeblich vereinigten Staaten brachen in den ersten 15 Jahren nach der Revolution drei gewalttätige Rebellionen aus. Kleine Handwerker und Bauern protestierten dagegen, dass ihre Steuergelder nach Washington flossen und dass es keine demokratische Kontrolle über die Steuerverwalter gab. Im Vergleich dazu nimmt sich die Verbitterung der Europäer über die Zahlungen an Brüssel nachgerade milde aus. Der früheste Aufstand, die Shays-Rebellion, führte zum Zusammenbruch der Regierung und zu einer neuen Verfassunggebenden Versammlung; die EU wurde selbst durch das 'Nein' der Franzosen und Niederländer nicht zum Zusammenbruch gebracht."

Im Feuilleton schreibt Dirk Knipphals zum erneuten Personalwechsel der Sozialdemokraten: "Kaum ist der alte Hoffnungsträger weg, ist der neue Hoffnungsträger auch schon da. Betrauern und bejubeln gehen nahtlos ineinander über. Und im aktuellen Übergang ist es sogar irgendwie so, dass das Hinterhertrauern erst nach dem Sicheinstellen auf den Neuen kommen kann. Nun will man ja der Sozialdemokratie nichts vorschreiben. Aber so viel sei festgehalten: Also, im normalen Leben ist das oft anders."

Weiteres: Julia Macher stellt den Studiengang "schöpferischer Dokumentarfilm" an der Pompeu-Fabra-Universität in Barcelona vor. Besprochen werden der Unicef-Film "Alle Kinder dieser Welt", zu dem Regisseure wie Spike Lee, Emir Kusturica und Ridley Scott Episoden beigesteuert haben, der israelische Episodenfilm "Shnat Effes - Die Geschichte vom bösen Wolf", das Album "At War with the Mystics" der Flaming Lips (auf dem es auch das Stück mit dem tollen Titel "Pompeii am Götterdämmerung" gibt) sowie das Album "Freaks R Us" des Technoproduzenten Johannes Heil.

Und schließlich Tom.

SZ, 13.04.2006

Christopher Schmidt besucht Bruno Ganz im Schauspielhaus Bochum, wo er für den Titus Andronicus in Botho Strauß' "Schändung" probt. "Jetzt, da Ganz wieder Uniform tragen muss, ist auch seine Haltung militärisch straff, das Haar kurz geschoren, und sein Gesicht wirkt, als habe er sich morgens mit Schmirgelpapier abgetrocknet. Er ist jetzt so sehr bei seiner Figur, dass man schon meint, er probiere auch außerhalb der Bühne bis in die Wortwahl hinein seine Rolle aus. Sogar die mal wie fernes Flakgewitter grollende, mal schnarrende Diktion seiner Hitler-Darstellung ist wieder da."

"So einen fetten Überblick" bekommt man nicht alle Tage zu sehen, staunt Merten Worthmann über die Ausstellung zu 900 Jahren russischer Kunst im Guggenheim-Museum in Bilbao. Dort "sind ein paar stalinistische Schinken zu sehen, die wie gewaltige Paukenschläge ohne Resonanzboden wirken. Sie sind in einem extrahellen Saal aufgereiht, der von den Kuratoren 'Märchenhalle' genannt wird. Hier hängt, zu Unrecht, Alexander Deinekas Abgeschossener Flieger von 1943; hier hängen, schon eher vertretbar, Deinekas 'Verteidigung von Sebastopol' (1942) und 'Flieger von morgen' (1938), zwei plakativere Bilder im Dienste des sowjetischen Fortschritts. Deineka gehört, mit fünf Werken, neben Malewitsch und Michail Wrubel (je sechs), zu den am häufigsten vertretenen Künstlern in der 275 Stücke zählenden Ausstellung."

Weiteres: Wolfgang Kemp analysiert das Golgatha-Bild des Rembrandtschülers Aert de Gelder. Im Interview mit Karl Lippegaus und Cecilia de Medeiros erklärt der siebzigjährige brasilianische Musiker Tom Ze, wie er es schaffte, aus dem eigentlich frauenfeindlichen Pagode-Pop eine Hymne an das weibliche Geschlecht zu machen. Thomas Urban versucht im Streit zwischen polnischen und internationalen Medien um den Begriff der "polnischen Lager" zu vermitteln: "Polnisch" werde nur als Ortsbestimmung gebraucht, "polnische Vernichtungslager gab es nicht". Jens Bisky fordert nach einer hitzigen Diskussion zwischen ehemaligen Stasi-Mitarbeitern und Stasi-Häftlingen in Berlin-Lichtenberg eine umfassende Darstellung der Arbeit der Staatssicherheit.

Auf der Filmseite resümiert Christine Dössel die 20. Bozener Filmtage. Vorgestellt werden Giovanni Veronesis "Handbuch der Liebe", das Gemeinschaftsprojekt Alle Kinder dieser Welt, zu dem unter anderem John Woo, Emir Kusturica und Ridley Scott beigetragen haben, Ralf Huettners Komödie "Reine Formsache" und Wayne Kramers Actionfilm Running Scared.

In kurzen Vignetten schreiben Redakteure auf der Literaturseite zu Samuel Beckett. Joachim Kaiser etwa erinnert sich an die fünfziger Jahre: "Man wurde damals von Beckett finster überfahren." Im Medienteil berichtet Andrian Kreye Historisches: Katie Couric ist als erste Anchorwoman beim amerikanischen Sender CBS verpflichtet worden. Gemeldet wird außerdem, dass RTL ntv nun doch ganz übernehmen darf.

Besprochen werden Stephan Rottkamps Bühnenfassung von Pierre Choderlos de Laclos' "Gefährlichen Liebschaften" in Stuttgart, Barrie Koskys "unbarmherzige" Inszenierung von Wagners "Holländer" am Essener Opernhaus sowie, in der SZ-Bibliothek, Annika Thors Roman "Eine Insel im Meer" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).