Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.04.2006. In der FAZ sieht Viktor Jerofejew die Europäer zu Karnickeln und Zieselmäusen werden. Die SZ stellt einen Film und einen Roman über den 11. September vor. Der Tagesspiegel meldet: Der Freund ist tot. Die Diskussion um den Berliner "Ehrenmord"-Prozess geht weiter. In der Welt fordert Zafer Senocak eine Diskussion über das Frauenbild im Islam unter Muslimen. Die taz stellt einen türkischen Dokumentarfilm über Ehrenmorde vor. Die FAZ verteidigt das deutsche Individualstrafrecht, das nicht einfach eine Mit-Verurteilung der älteren Brüder erlaubte.

Welt, 18.04.2006

Im Forum sorgt sich der Historiker Niall Ferguson um Versuche des amerikanischen Kongresses, die Immigration armer Mexikaner einzuschränken und die Regeln für ausländische Investitionen in den USA zu verschärfen. "Warum das Geld für einen teuren, scheußlichen und wahrscheinlich ineffektiven neuen Eisernen Vorhang nicht besser dafür verwenden, Amerikas High-School-Kids klarzumachen: Wer von der Schule fliegt, fällt tief. Ja, Jungs und Mädchen, in einer Wirtschaft an der Spitze der technologischen Nahrungskette führt der Weg zu einem ordentlichen Job nur über eine gute Ausbildung. Wer den Bildungsweg ohne Qualifikationen verlässt, hat noch Glück, wenn er an der Seite der Mexikaner bei der Ernte helfen darf. Klingt irgendwie hart, ich weiß. Aber eine zweite Große Depression klingt noch viel härter."

Es gibt im Islam keine Rechtfertigung für Mord, auch nicht für "Ehrenmorde". Warum schweigen die Imame dann, wenn eine Frau umgebracht wird, fragt der Schriftsteller Zafer Senocak, den das milde Urteil gegen die Sürücü-Brüder aufgebracht hat, im Kulturteil. Und doch ist der Islam nicht unschuldig an solchen Morden. "Dass die Frau wie eine Schutzbefohlene des Mannes behandelt wird, ist die Ursache des Übels. Wehe der Mann versagt vor der Aufgabe, seine Frau auf dem Pfad des sittlichen Verhaltens zu halten. Nein, in diesem Gedankengebäude ist die Frau kein eigenständiges persönliches Wesen. Sie ist - quasi als eine Fortsetzung ihres Mannes - ihm eindeutig unterworfen. Die Muslime müssen jetzt endlich anfangen, dieses antiquierte Frauenbild wenigstens zu diskutieren. Da genügt es nicht, einfach zu behaupten, der Islam legitimiere weder Zwangsverheiratung noch Ehrenmord. Das traditionelle muslimische Frauenbild ist mit der Gleichberechtigung der Geschlechter nicht vereinbar."

Weitere Artikel: Dankwart Guratzsch verteidigt das neue spitzdachige Frankfurter Torhaus von Christoph Mäckler gegen Kritiker, die allein das Flachdach für modern halten. Kürzlich rief Katrina Vanden Heuvel, Chefredakteurin von The Nation, dazu auf, die Vergleiche unliebsamer Politiker mit Hitler künftig zu unterlassen - viel Erfolg wird sie damit nicht haben, glaubt Uwe Schmitt. Wenig Kunst, aber viel Diven-Gehabe erwartet Manuel Brug von der Deutschland-Tournee Jessye Normans. Jost Nolte fasst zusammen, was Schriftsteller, Philosophen und Sozialhistoriker über das Alter zu sagen hatten. In Berthold Seewald löst die Ankündigung des Radeberger Brauereikonzerns, künftig keine Berliner Weiße mehr produzieren zu wollen, keine Trauer aus. Marko Martin schreibt zum Tod der Schriftstellerin Muriel Spark. Uwe Sauerwein schreibt zum Tod des Künstlers Kurt Mühlenhaupt.

Besprochen werden ein Mozartabend in Berlin, Henrik Ibsens "Brand" im Münchner Residenztheater und ein Bildband mit Werken des Künstlers Ivan Steiger.

NZZ, 18.04.2006

Im Interview mit Marianne Zelger-Vogt erklärt Opernregisseur Christof Loy über seine Scheu, die Schwergewichte des Metiers zu inszenieren. "Sicher habe ich einen gewissen Respekt vor der Wucht mancher Werke. Aber ich werde in den nächsten Jahren zu überprüfen haben, inwiefern mein mikroskopischer Blick zu vereinbaren ist mit der philosophischen Tiefe solcher Werke und welche ästhetischen Mittel für solche Stücke angemessen sind. Vielleicht muss ich dafür eine neue Optik finden. 'Otello' ist mir sehr nah, aber ich habe immer noch das Gefühl, es fehle mir etwas, um diesem Stück wirklich gerecht zu werden. Es ist wie bei einem Sportler, der den Marathon läuft, der trainiert zuerst auch kürzere Strecken. Und es ist die Frage, ob der Marathonlauf überhaupt gut ist für mich oder nicht."

Weiteres: Romeo Giger schreibt einen Nachruf auf Muriel Spark, eine der wichtigsten Autorinen der britischen Gegenwartsliteratur. Thomas Leuchtenmüller erinnert an das Erdbeben in San Francisco, das sich heute zum hundertsten mal jährt.

Hubertus Adam widmet sich anlässlich einer Ausstellung im Florentiner Palazzo Strozzi dem Renaissance-Gelehrten und Architekten Leon Battista Alberti. Besprochen werden der Briefwechsel zwischen Wolfgang Koeppen und Siegfried Unseld, Petr Ginz' Tagenbuchnotizen aus dem besetzten Prag im Jahre 1942/43, Kenneth Cooks Roman "In Furcht erwachen" und Yoko Ogawas Roman "Das Museum der Stille" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 18.04.2006

Dunkel wabernd meditiert Viktor Jerofejew über das "irgendwie mechanisch" lebende und dem leichtfertigen Konsum- und Komfortdenken verfallene Europa: "Der Sicherheit zuliebe müssen sämtliche Lebensrisiken ausgeschaltet werden. Der Kampf gegen das Rauchen ist dabei nur der erste Schritt. Wenn Fußball bei den Fans Aggressionen auslöst, warum dann nicht den Fußball kastrieren? Der Europäer ist besorgt wegen der Aggressionen, die er selbst ausstrahlt. Er will nicht zugeben, dass sie ebenso zur Natur des Menschen gehören wie in der Frau die Rolle des Sexualobjekts verwurzelt ist. Europa verliert seine menschliche, malerische Qualität. Männer, die fürchten, Sexisten zu sein, werden zu Karnickeln und Zieselmäusen."

Weitere Artikel: Im Aufmacher verteidigt Patrick Bahners das deutsche Individualstrafrecht, das auch im Berliner Ehrenmordprozess zur Anwendung kam und darum mangels Beweisen keine Verurteilung der älteren Brüder erlaubte. In der Leitglosse bringt Michael Jeismann die Frage einer möglichen Anreise des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad zur Fußball-WM mit dem Sieg der Deutschen bei einer Murmelweltmeisterschaft im britischen Tinsley Green (Murmelmuesum) in einen Zusammenhang. Tobias Döring schreibt zum Tod der britischen Autorin Muriel Spark. Kerstin Holm liest russische Zeitschriften, die die Ursachen für den drastischen Bevölkerungsrückgang im Lande untersuchen. Dieter Bartetzko erinnert an die Grundsteinlegung für den Petersdom vor genau 500 Jahren. Klemens Ludwig berichtet über einen Streit über den "Tibet"-Artikel in der deutschen Wikipedia, dem von einer Tibet-Initiative eine allzu große Nähe zum offiziellen chinesischen Geschichtsbild vorgeworfen wird.

Auf der DVD-Seite werden vor allem DVDs mit Fernsehproduktionen besprochen, darunter eine Verfilmung von Dickens' "Bleak House" durch die BBC, einige Folgen des "Alten" (besprochen von Dominik Graf) und eine DVD mit historischen Höhe- und Tiefpunkten des "Grand prix d'Eurovision".

Auf der Medienseite beschreibt Olaf Sundermeyer, mit welch brachialen Mitteln der Springer-Verlag (der jüngst vor ausländischen Medien-Investoren in Deutschland warnte) sein Tageszeitungsprojekt Dziennik zur Verdrängung des Konkurrenten Gazeta Wyborcza einsetzt. Und Jürg Altwegg bereiten auch die neuen Besitzer wenig Hoffnung für das Überleben der Pariser Tageszeitung France Soir.

Auf der letzten Seite berichtet Kerstin Holm, dass in Russland immer mehr Werke der Beutekunst, die offiziell inzwischen als legaler Besitz betrachtet wird, in Ausstellungen zu sehen sind. Dirk Schümer erinnert an den Triestiner Philosophen Carlo Michelstaedter, der sich 1910 im Alter von 23 Jahren das Leben nahm und dessen heute (unter anderen in Werken von Claudio und seinem Sohn Paolo Magris) vielfach gedacht wird. Und Robert von Lucius porträtiert den südafrikanischen Schriftsteller Athol Fugard, dessen Roman "Tsotsi" die Vorlage für den erfolgreichsten südafrikanischen Film seit Jahren lieferte.

Besprochen werden eine Ausstellung über das siecle des lumieres in der Bibliotheque nationale, die Uraufführung von Luca Lombardis Oper "Prospero" mit einem Libretto von Friedrich Christian Delius nach Shakespeare in Nürnberg, die Uraufführung von Richard Dressers Stück "Augusta" in der Berliner Schaubühne, das Kunstprojekt "Treasures" im Rahmen der Berlin-Biennale, eine Ausstellung über die Avantgarde-Bewegung Zero in Düsseldorf, und ein Abend mit Mozart-Fragmenten, zubereitet von Roland Schwab und Christian Baier an der Deutschen Oper Berlin.

FR, 18.04.2006

Michael Rutschky schreibt zum Tod der Schriftstellerin Muriel Spark. In Times Mager kommentiert Elke Buhr Kommentare zu den Vorgängen an der Rütli-Schule.

Besprochen werden die Aufführung von Hans Henny Jahnns Drama "Medea" am Nationaltheater Mannheim, Sebastian Nüblings Inszenierung von "Dido & Aeneas" in Basel ("als Musiktheater-Schauspiel-Party oder so", schreibt Tobi Müller)

TAZ, 18.04.2006

Harald Fricke war auf dem Istanbuler Filmfestival, wo er unter anderem einen Dokumentarfilm über die so genannten Ehrenmorde sah: "Melek Taylan geht mit 'Karanlikta Diyaloglar' (Dialoge im Dunkeln) einem halben Dutzend Fällen nach, in denen Frauen getötet wurden, weil sie sich nicht den steinzeitlichen Moralvorstellungen ihrer Familienclans unterworfen haben. Dabei führt der Weg nicht nur in die anatolische Hinterwelt, sondern auch in die Suburbs von Istanbul, wo die zugezogene Landbevölkerung auf der Suche nach Arbeit gestrandet ist und sich in der Perspektivlosigkeit erst recht in ihrem falschem Verständnis von Ehre und Glauben einkapselt."

Weitere Artikel: Katrin Bettina Müller proträtiert Bernd Scherer, der seit Anfang des Jahres das Berliner Haus der Kulturen der Welt leitet. Dirk Baecker fragt, warum sich Schüler eigentlich dem Zwang der Erziehung zur Freiheit beugen sollen, wenn sie diese hinterher gar nicht haben. Regine Müller berichtet vom Festival der Union der Europäischen Theater in Düsseldorf. Detlef Kuhlbrodt verliert sich bei Kaisers in der Metadebatte um gute und böse Literaturkritik. In der tazzwei unterhält sich Jutta Heess mit dem Schriftsteller Ror Wolf über sein gebrochenes Verhältnis zum Fußball.

Außerdem kommentiert Grünen-Politiker Cem Özdemir das Urteil im Prozess um die Ermordung der Hatun Sürücu: "Politiker sollten sich hüten, in populistische Reflexe zu verfallen, indem sie etwa die Abschiebung der gesamten Familie fordern: Das mag zwar 'moralisch' verständlich sein, realistisch ist es nicht. Es befördert zudem den fatalen Eindruck, dass sich jedes Integrationsproblem so einfach über die Grenzen schaffen ließe. Aber die Türkei ist nicht so etwas wie ein Alcatraz für Deutschland, sondern sie hat mit dem Phänomen der so genannten Ehrenmorde die gleichen Probleme wie die deutsche Justiz."

Und noch Tom.

Tagesspiegel, 18.04.2006

Marc Felix Serrao schreibt einen Nachruf auf die von Christian Kracht und Eckhart Nickel herausgegebene Pop-Literaturzeitschrift Der Freund, die nach acht Ausgaben eingestellt wird: "Die taz ist noch am nettesten, wenn sie Kracht und Nickel mit zuverlässigem Abwehrreflex zuerst als 'Pop-Dandy-Säue' beschimpft, dem 'Freund' dann immerhin 'schöne Lesestücke' attestiert. Den mit Abstand bösesten Verriss hat vor eineinhalb Jahren Harald Martenstein auf dieser Seite im Tagesspiegel geschrieben. Er nannte die Zeitschrift den 'Versuch einiger nicht mehr ganz junger, wohlhabender und ratloser Männer, mit hochgezogenen Augenbrauen und abgespreiztem kleinen Finger von ganz oben herab auf die Welt zu blicken'. Kracht und 'seine Popfreunde', urteilte Martenstein, seien peinlich, eitel und für ihr Alter unsexy."

SZ, 18.04.2006

Fritz Göttler annonciert den ersten Hollywood-Blockbuster zu 9/11, "United 93", der demnächst in die Kinos kommt und dessen Trailer schon die Leute aus dem Saal gejagt haben soll. "Wie man seine Handlungsfreiheit wiedergewinnt im Moment der Hilflosigkeit, einer Niederlage, davon handelt das amerikanische Actionkino. Wie man es schafft, in eine Welt der Ordnung zurückzukehren, eine neue Ordnung herzustellen. Wie passt dieses Genreschema zu dem, was am 11. September passierte? Zum Schrecken über die brutale Attacke kam von Anfang an eine schaurige Faszination angesichts ihrer Inszenierung. Man hat den 11. September in Hollywood wie eine bizarre Enteignung gesehen - ein paar Amateure machen Kino, aber voll in der Wirklichkeit. 'Die Filme lieferten das Muster', hat Robert Altman angemerkt: 'Die haben das Kino kopiert. Wir haben ihnen das beigebracht.' Dass Hollywood sich dieses Ereignis 'zurückholen' würde, war eigentlich keine Frage."

Andrian Kreye stellt dazu auch Jay McInerneys 9/11-Roman "The Good Life" (Auszug), der ebenfalls gerade erschienen ist: "Die Stärke des Buches ist es gerade, dass sich McInerney keine inhaltlichen Zwänge aufbürdet, dass er sich nicht mit Feuerwehrmännern, Terroristen oder den historischen Hintergründen belastet, sondern immer ein Quäntchen seiner New Yorker Oberflächlichkeit bewahrt."

Weitere Artikel: Eva-Elisabeth Fischer besucht die Tanzpädagogin Konstanze Vernon, die in München ihre Eleven nach dem Motto unterrichtet: "Wenn sie sonst auch keine Aussicht auf einen Job haben, können sie doch genauso gut Tänzer werden." Dirk Peitz trifft in Berlin Mike Skinner, der hier sein neues Album "The Hardest Way To Make An Easy Living" präsentiert. Im Sakko. Oliver Schulz berichtet von einer Pariser Tagung zu Europa nach 1945. In der "Zwischenzeit" preist Wolfgang Schreiber das Heidelberger Musikfestival, das sich anschickt, aus der zweiten Liga aufzusteigen. Kristina Maidt-Zinke schreibt zum Tod der britischen Schriftstellerin Muriel Sparks: "Eine First Lady der britischen Literatur wie aus dem Bilderbuch, kapriziös und leicht spleenig."

Besprochen werden Luca Lombardis in Nürnberg uraufgeführte Oper "Prospero" in Nürnberg, Marcos Carnevales Komödie "Elsa und Fred" und Bücher, darunter Hanns C. Löhrs Studie "Das Braune Haus der Kunst" und die beiden Romane "Talschluss" von Olga Flor und "Vanitas oder Hofstätters Begierden" von Evelyn Grill (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).