Magazinrundschau

Eine Strategie der Täuschung

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
28.10.2019. Wired sieht Jakarta versinken. Der New Yorker rätselt über den unauflösbaren Widerspruch eines Brexit. In Magyar Narancs erklärt der Philosoph Gáspár Miklós Tamás, wie das Orbán-System zum Flaggschiff der europäischen Rechtsradikalen werden konnte. Der Rechtspopulismus in Osteuropa richtet sich vor allem gegen den Individualismus, meinen Ivan Krastev und Stephen Holmes im Guardian. La vie des idees erinnert daran, gegen welche Zustände in Paris einst die Banlieue gegründet wurde.

Wired (USA), 15.10.2019

Heftige Alarmsignale sendet Peter Guest in der britischen Ausgabe von Wired: Jakarta könnte die erste Millionen-Metropole sein, die den Folgen einer desaströsen Umwelt- und Sozialpolitik und nicht zuletzt dem Klimawandel zum Opfer fällt. Ursache dafür sind eine Mischung aus einer zu schnell gewachsenen Bevölkerung, mangelnder Infratstruktur und der Aussicht auf einen rapide ansteigenden Meeresspiegel in den kommenden Jahrzehnten. Paradoxerweise fällt die Stadt gerade deshalb ins Wasser, weil es in dieser wasserreichen Stadt einen eklatanten Mangel an Wasser gibt: "Als die Stadt im Zuge des Ölbooms der 70er wuchs - die Zahl der Bewohner in der Metro-Region stieg in 50 Jahren um mehr als Dreifache -, konnte die Infrastruktur damit nicht mithalten. Wasserleitungen erreichen gerade einmal 60 Prozent der Bevölkerung und konzentrieren sich auf die relativ wohlhabenden Gegenden im Süden und im Stadtzentrum Jakartas. Die Flüsse, die frisches Wasser zur Verfügung stellen sollten, sind zu großen Teilen unbrauchbar, weil unkontrolliert Müll in sie gekippt wird - von menschlichen Exkrementen bis zu Industrieabwasser. Um diesem Mangel an Trinkwasser zu begegnen, haben die Anwohner und Geschäfte Bohrungen in die Grundwasserführungen unterhalb der Stadt vorgenommen. Selbst einige Regierungsgebäude sind von Grundwasser abhängig. 'Das Wasser reicht nicht aus, deshalb pumpen die Leute zu viel Grundwasser ab. Und wegen der rapiden Urbanisierung der letzten 30 Jahre ist die Fläche, durch die noch Wasser dringen kann, so gering geworden, dass das Grundwasser kaum noch Nachschub hat', sagt Kian Goh, ein Mitarbeiter der Universität von Kalifornien, der ausführlich zu Jakarta forscht. Die Menge abgepumpten Grundwassers hat die Fundamente der Stadt buchstäblich herabgesetzt - in weiten Teilen der Stadt senkt sich der Boden. Einige Gebiete im Norden sind in den letzten zwei Jahrzehnten um vier Meter abgesunken. Damit liegt die Gegend so tief unter der Bucht, dass Wasser nicht mehr abfließen kann."
Archiv: Wired

La vie des idees (Frankreich), 29.10.2019

Dieses Buch schildert die Zustände, auf die die heute so verschrieenen Banlieues die Antwort waren. Es geht in Véronique Blanchards Studie "Vagabondes, voleuses, vicieuses - Adolescentes sous contrôle - De la Libération à la libération sexuelle", die hier von Jean-François Laé vorgestellt wird, um Sozialfälle aus den fünfziger Jahren, Mädchen vor allem, aber auch Jungen, an denen sich studieren lässt, wie rasant sich das Leben seitdem in Paris zum besseren gewandt hat. In den Hinterhöfen der Fünfziger sah es noch so aus: "Im Zentrum des Hofs die Gemeinschaftstoiletten, einziger Ort zur 'Erleichterung' ('aisance' so das damalige offizielle Wort) für 15 Familien, ungefähr sechzig Personen, Kinder eingerechnet. Wir steigen die wackligen Treppen hoch, betreten das einzige Zimmer der Wohnung, das als Küche, Schlafzimmer und Salon dient und dessen einziges festes Einrichtungsstück für eine vierköpfige Arbeiterfamilie ein Kohleherd ist. Gegenüber öffnet sich, welch ein Luxus, eine Zweizimmerwohnung: Das Zusatzzimmer dient als Schlafsaal für die Mädchen und Jungen einer fünfköpfigen Famile. Wasser? Das müssen die Kinder mit dem Krug im Treppenhaus holen. Schlafen? Die Hausherrin zeigt, wie man des Abends nach dem Abendessen - Griesbrei -  das Sofa ausklappt, um die ganze Familie zu beherbergen, die sich hier alle zusammenkuschelten und die Füße auf Stühlen ablegten." Das alles etwa rund um die Rue Mouffetard, heute eines der begehrtesten Viertel der Stadt mit Quadratmeterpreisen um 10.000 Euro.
Stichwörter: Paris, Banlieue, Gentrifizierung, Luxus

New Yorker (USA), 04.11.2019

In der aktuellen Ausgabe des Magazins berichtet Sam Knight über den Brexit und die schon jetzt sichtbaren Auswirkungen auf Britanniens "konstitutionelle Struktur": "Im Dezember 2015 hielt ein Prozent der Briten die britische EU-Mitgliedschaft für die wichtigste nationale Frage. Diesen Sommer ergab eine Umfrage unter Mitgliedern der Conservative Party, deren Wähler Johnson mit großer Mehrheit zum Parteichef gewählt hatten, dass 61 Prozent einen beträchtlichen wirtschaftlichen Schaden für den Brexit in Kauf nehmen würden. 54 Prozent wollten dafür sogar das Ende der Partei in Kauf nehmen. Für den Parlamentarier Rory Stewart (der während der Brexitdebatte per SMS aus der Parlamentsfraktion ausgeschlossen wurde, d. Red.) ist dieser krasse Wandel bei der politischen Identität in nur drei Jahren ein Rätsel … 'Es ist seltsam, faszinierend. Wir stehen mittendrin, aber mit leeren Händen', meint er … Eins der Hauptargumente für den Brexit lautet, dass er Großbritannien von dem Regelkanon der EU befreien werde. Weil der Brexit vom rechten Flügel der Konservativen Partei ausgedacht wurde, scheint ein Teil seines Zwecks zu sein, Britannien zu einem mit niedrigen Steuern gesegneten Wettbewerber des restlichen Europas zu machen - ein Nirvana, genannt auch 'Singapur an der Themse'. Allerdings steht dieses Ziel im Widerspruch zu den Hoffnungen der Millionen Menschen, die für den Brexit gestimmt haben, um einen besseren öffentlichen Dienst und eine zugänglichere und aktivere Regierung zu bekommen. Seit er im Amt ist, hat Johnson keinen Versuch gemacht, zwischen diesen widersprüchlichen Bedürfnissen zu vermitteln."

Außerdem: Raffi Khatchadourian dokumentiert Aufstieg und Niedergang der Cybersecurity Firma Tiversa. Arthur Krystal macht sich Gedanken übers Alter und die Unsterblichkeit. Margaret Talbot stellt einige Bücher vor, die das frühe Wirken von Frauen in Hollywood würdigen. Und Anthony Lane bespricht den neuen Scorsese "The Irishman" über den Contractkiller Frank Sheeran.
Archiv: New Yorker

Magyar Narancs (Ungarn), 26.09.2019

Im Interview mit Szilárd Teczár spricht der Philosoph Gáspár Miklós Tamás u.a. über die innere Dynamik des seit 2010 entstanden Regimes in Ungarn sowie über ihre politische Rezeption außerhalb des Landes. "Das Orbán-System ist das Flaggschiff der europäischen Rechtsradikalen. Es braucht keine Gewalt oder totalitäre Methoden, wir sitzen nicht im Gefängnis, unter anderem deshalb nicht, weil es keinen Widerstand gibt. Das System ist populär, aber nicht so, wie anfänglich faschistische Systeme populär waren, die auf riesige Massenbewegungen, Begeisterung, Charisma und kollektiven Wahnsinn fußten. In Ungarn gibt es keinerlei Massenbewegung, Viktor Orbán selbst löste die Partei Fidesz mit den Bürgerkreisen vor einigen Jahren auf. Anstatt von charismatischer Herrschaft und Übermobilisierung gibt es Demobilisierung und Atomisierung. Entgegen der geltenden Ordnung hält die Regierung das Gefühl der äußeren Bedrohung aufrecht: Flüchtlinge, NGOs, 'Genderfaschisten', 'Klimakommunisten', der Soros-Papst, jüdische und arabische Weltverschwörung, europäische Föderalisten, Verfassungsverteidiger, Migranten-Beförderer, 'Feminazis' und Illuminaten. Diese Themen garantieren die Popularität des Regimes, obwohl selbst die Orbán-Wähler wissen, in welch miserablen Zustand der öffentliche Nahverkehr, das Gesundheitswesen oder die ganze öffentliche Verwaltung sind. Doch die Menschen halten diese nicht für entscheidend, sondern ob sie vor den gefürchteten biopolitischen Konkurrenten, vor den 'Zigeunern', vor Arabern, vor 'Negern', vor Homosexuellen oder vor selbstbewussten, emanzipierten, Gleichheit einfordernden Frauen beschützt werden. Diese Politik ist ein donnernder Erfolg auf der ganzen Welt, nur dass Viktor Orbán es geschickter macht als die anderen."
Archiv: Magyar Narancs

Guardian (UK), 28.10.2019

Ivan Krastev und Stephen Holmes erklären sich den Illiberalismus in Osteuropa - wie kürzlich schon Timothy Garton Ash in der New York Review of Books - vor allem mit der enormen Emigration, die Länder wie Polen, Ungarn oder Lettland aushalten müssen und mit einer panischen Angst vor dem demografischen Kollaps. "Die ganze Diskussion bringt uns zur Kernidee des gegenwärtigen Illiberalismus. Entgegen vieler Annahmen, richtet sich der Zorn der Populisten weniger gegen den Multikulturalismus als gegen Individualismus und Kosmopolitismus. Das ist ein wichtiger Punkt, denn wenn er stimmen sollte, kann der Populismus nicht bekämpft werden, indem wir zugunsten des kosmopolitischen Individuums die Idee des Multikulturalismus aufgeben. Für die Verfechter der illiberalen Demokratie in Ost- und Mitteleuropa liegt die größte Gefahr für das Überleben der weißen christlichen Mehrheit in der Unfähigkeit der westlichen Gesellschaft, sich selbst zu verteidigen. Sie sind unfähig dazu, weil der herrschende Individualismus sie blind macht für die drohenden Gefahren."

Weiteres: Lisa Allardice unterhält sich mit Julian Barnes, dessen neuer Roman "The Man in the Red Coat" gerade erscheint, über den Brexit und die englische Elite. Patrick Barkham will dem allseits verehrten Naturfilmer David Attenborough die lange Ignoranz gegenüber dem Klimawandel nicht so leicht durchgehen lassen.
Archiv: Guardian

New Statesman (UK), 25.10.2019

John Gray, Britanniens Kassandra und oberster intellektueller Brexit-Befürworter, hat nach seinen vielen politischen Seitenwechseln ein untrügliches Gespür dafür, woher der Wind weht. Jetzt läuft er zu Hochform auf. Er schmäht die Remainer als Putschisten und totalitäre Rationalisten und beschwört den neuen konservativen Populismus von Boris Johnson und Dominic Cummings: "Entscheidend bei Cummings ist nicht seine angeblich stramm rechte Ideologie. Auch wenn er Bismarcks Staatskunst bewundern mag, ist doch wichtiger, dass für ihn Strategie Vorrang vor jeder Ideologie hat. Darin steckt nichts einmalig Britisches. Obwohl der Begriff der Polit-Technologie zuerst im postkommunistischen Russland aufkam, um die Verwendung neuen Medien im Stile einer militärischen Strategie der Täuschung zu beschreiben, wird sie doch in vielen Ländern praktiziert. Die Verwandlung von Politik in Kriegsführung ist auf die gleiche Art ansteckend, wie einst Freiheit für ansteckend gehalten wurde. Heute sind die Technologen der Macht die wahren Rationalisten. Es ist eine Tatsache, dass sich heute die überlegene Intelligenz auf der Seite der Populisten befindet. Wenn Liberale über Vernunft reden, dann meinen sie einen Mischmasch aus Ideen, die sie an der Uni aufgeschnappt haben. Ein paar Brocken Rawls, Dworkin und Thomas Piketty bilden im Verbund mit ein paar modischen Verschwörungstheorien die Volksweisheit der denkenden Klasse. Rationalität heißt, sich in diesem Sammelsurium modischer Theorien zu ergehen und ewige Wahrheiten über die entscheidenden Kräfte der Politik zu ignorieren. Liberale sind das geworden, was Stuart Mill einst, als er die viktorianischen Tories beschrieb, die 'dümmste Partei' nannte. Dummheit ist in der Politik kein träger Zustand. Sie ist dynamisch, zunehmend und erfindungsreich."
Archiv: New Statesman

Aktualne (Tschechien), 24.10.2019

Vor 30 Jahren fand in der Tschechoslowakei nicht nur die Samtene Revolution statt, auch das wichtigste tschechische Wochenmagazin Respekt wurde gegründet (das vergangene Woche auf seinem Cover das Jahr 1989 als "bestes Jahr der Geschichte" feierte), damals noch im Zeitungsformat. Im Gespräch mit Josef Pazděrka zieht Erik Tabery - Chefredakteur von Respekt seit 2009 - Bilanz. "Ich glaube, die ganzen 90er-Jahre über war Respekt eine Art Schlag in den Magen der tschechischen Gesellschaft. In einer Zeit, in der fast alle noch vom Wechsel des Regimes berauscht waren und keine große Lust hatten, über Probleme zu sprechen, schrieb die Zeitschrift offen und kompromisslos über Rassismus, Umweltzerstörung, Machtmissbrauch, die totalitäre Vergangenheit und die gewaltsame Vertreibung der Sudetendeutschen." Heute, in Zeiten der Fake News, seien die Herausforderungen natürlich besondere: "Die Populisten fühlen sich vor allem von den Medien bedroht, und so steht auch Respekt im Fokus ihrer Aufmerksamkeit. Wir werden vom Präsidenten attackiert, vom Premier, von Extremisten, von prorussischen Trollen, und zu allen gesellt sich ein Teil ihrer Anhänger. Verbale Angriffe und Drohungen haben dramatisch zugenommen. Ich habe jedoch eine Regel: Sie kommen uns mit Drohungen, wir ihnen mit Fakten." Aber genügt das? "Es genügt nicht, diese 'Schlacht' verlieren wir. Aber uns bleibt nichts anderes übrig. Wir können uns nicht auf persönliche Kämpfe einlassen, das würde alles in Zweifel ziehen, was wir tun. Ich glaube einfach daran, dass es einen Sinn haben wird, solange wir unsere Arbeit gut machen und sie im Zuge von Debatten auch erklären."
Archiv: Aktualne