Magazinrundschau

Unruhestifter

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
24.05.2016. Der Guardian sucht Schutz für Whistleblower und findet ihn nirgends. In Novinky fragt sich die  Schriftstellerin Kateřina Tučková, warum die Tschechen Angst vor syrischen Flüchtlingen haben. Der New Yorker lernt am Oberlin College schlechtes Benehmen. Al Ahram fragt, was wohl aus Sadiq Khan geworden wäre, wären seine Eltern in einen der Golfstaaten ausgewandert. LA Weekly steigt hinab in Alices Wunderland der Musiklisten.

Guardian (UK), 22.05.2016

Barack Obama und Hillary Cliton behaupten gern, dass Edward Snowden seine Bedenken gegen das Überwachungsprogramm der NSA intern hätte melden können. Mark Hertsgaard hat für einen großen Report mit John Crane gesprochen, der im Verteidigungsministerium für die faire Behandlung von Whistleblowern zuständig war und der vom Fall Thomas Drake berichtet: Dake brachte eben diese NSA-Aktivitäten zehn Jahre vor Snowden auf Tapet. Er stand in der Hierachie der NSA viel höher als Snowden. Er hielt sich an die Whistleblower-Gesetze und erhob seine Bedenken intern. Man machte ihn fertig. Drake wurde gefeuert, von FBI-Agenten mit der Waffe im Anschlag verhaftet und mit Anklagen überzogen, die ihn für den Rest seines Lebens ins Gefängnis gebracht hätten und finanziell und beruflich so gut wie ruinierten." Dem Whistleblower-Beauftragten Crane erging es nicht besser: "Cranes verlorener Kampf für den Schutz von Whistleblowern macht sehr deutlich, dass Snowdon gute Gründe hatte, an die Öffentlichkeit zu gehen. In Dutzenden von Interviewstunden hat Crane berichtet, wie hohe Beamte des Verteidigungsministeriums wiederholt das Gesetz brachen, um Drake zu verfolgen. Zunächst, so sein Vorwurf, gaben sie seine Identität ans Justizministerium weiter, dann hielten sie Beweise zurück (vielleicht vernichteten sie sie auch) und schließlich sagten sie die Unwahrheit gegenüber einem Bundesrichter. Die große Ironie? In ihrem Eifer, Drake zu bestrafen, lehrten die Pentagon-Beamten Snowden, ihren Klauen zu entkommen."

Weiteres: Mark Gevisser erzählt von schwulen Ugandern, die sich vor Verfolgung nach Kenia geflüchtet haben. Jonathan Freedland schreibt über Trump, dem auch Noam Chomsky in einem kurzen Interview nur Grässlichkeiten zutraut.
Archiv: Guardian

Novinky.cz (Tschechien), 20.05.2016

Die tschechische Schriftstellerin Kateřina Tučková, Mitinitiatorin des Brünner Festivals "Meeting Brno", das dieses Jahr unter dem Motto "Verlorene /Gefundene Heimaten" steht, spricht im Interview über die positive kulturelle Entwicklung der mährischen Metropole, aber auch über ihr eigenes Stadtviertel Cejl, das als No-go-Area und "Brünner Bronx" gilt: "Ich habe festgestellt, wie sehr die Vergangenheit dort noch gegenwärtig ist, wie spürbar es ist, dass von dort zuerst die jüdischen, dann die deutschen Einwohner vertrieben wurden - und zu Beginn der 60er-Jahre schließlich auch die Tschechen in die neu erbauten Siedlungen am Stadtrand wegzogen. Die Häuser haben in kurzer Zeit dreimal oder öfter ihre Besitzer gewechselt, bis dort schließlich Roma angesiedelt wurden. Cejl, das ist im Grunde die Geschichte der Sudeten mitten in Brünn." Tučková, die nicht nur die Vertreibung der Deutschen zu ihrem Thema gemacht hat, sondern sich auch aktuell in der Flüchtlingskrise engagiert, begegnet in diesen Fragen allerdings häufig dem Widerwillen ihrer Mitbürger. Wie sie sich die Ressentiments erklärt? "Es heißt immer, es liege daran, dass wir zu lange in einer so homogenen Gesellschaft gelebt hätten, aber andererseits sind wir doch in den 50er-Jahren mit den griechischen Zuzüglern ausgekommen, es gab im letzten Regime Russen hier, und während des Jugoslawienkriegs kamen bosnische Muslime zu uns. Warum ist dann ausgerechnet diese Flüchtlingswelle, bei der doch niemand zu uns kommt, das größte Problem? Ich bin zum Schluss gekommen, dass zumindest teilweise die Medien daran schuld sind, die die Situation künstlich aufbauschen und boulevardisieren."
Archiv: Novinky.cz

New Yorker (USA), 30.05.2016

An einigen amerikanischen Colleges wie Oberlin haben Diversitäts- und Identitätsdiskurse inzwischen zur Folge, dass eine Reihe von Studenten grundsätzlich mit überhaupt niemandem mehr sprechen wollen, der nicht ihrer Ansicht ist, lernt man aus einer Reportage von Nathan Heller in der neuen Ausgabe des Magazins. Für Lehrer, die in den 60ern und 70ern sozialisiert wurden, ein Graus. Heller gibt die Hoffnung dennoch nicht auf: "In den 60er Jahren formten gewisse normative Veränderungen die Perspektive der Baby-Boomer, die bis heute den Rahmen abgeben für den amerikanischen Progressivismus. Die Unruhestifter an den Unis verändern den Rahmen jetzt. Die historische Klammer aus den 60ern schließt sich. Wenn dergleichen geschieht und empirische Widersprüche akut werden, öffnet sich ein Fenster für die sogenannten 'Norm-Unternehmer', die neue Standards propagieren, die andere annehmen und verteidigen können. Sie definieren schlechtes Benehmen neu (nicht mehr Homosexualität, sondern Homophobie), soziale Modelle und politische Kultur. Bald schon könnten diese neuen liberalen Werte in Stein gemeißelt sein. Bis dahin werden die Risse in der amerikanischen Linken weiter geräuschvoll wachsen und einer ganzen Generation das Gefühl vermitteln, dass alles verloren ist."

Außerdem: Jane Mayer befasst sich mit den Methoden des konservativen amerikanischen Aktivisten James O'Keefe, der mit versteckter Kamera illegale Machenschaften in öffentlichen Organisationen aufdeckt. Patrick Radden Keefe trifft den Informatiker Hervé Falciani, der den Swiss-Leaks-Skandal ins Rollen brachte. Hilton Als untersucht das Phänomen Beyonce.
Archiv: New Yorker

Al Ahram Weekly (Ägypten), 19.05.2016

Hassan Nafaa staunt über den Wahlerfolg des neuen britischen Bürgermeisters Sadiq Khan, auch wenn trotz dieses Erfolgs in Britannien und Europa immer noch viel Platz für Fremdenfeindlichkeit bleibt. Man stelle sich jedoch vor, Khans Eltern wären von Pakistan in einen der Golfstaaten eingewandert statt in Britannien. "Vielleicht hätten sie Jobs gefunden, die ihren Familien finanzielle Sicherheit oder vielleicht sogar einen gewissen Wohlstand gesichert hätten. Es wäre ihnen vielleicht möglich gewesen, ihre Kinder auf die Universität zu schicken. Doch die Familie wäre sozial und politisch immer marginalisiert geblieben. Sie hätten niemals die Staatsbürgerschaft für sich oder ihre Kinder erwerben können. Sie wären immer Ausländer geblieben und vielleicht irgendwann gezwungen worden, in das Land ihrer Vorfahren zurückzukehren."

Außerdem: Nehad Selaiha lobt Sameh Mahrans neues Stück "Inbox" am Al-Ghad Theater.
Archiv: Al Ahram Weekly

New York Magazine (USA), 21.05.2016

Der Serienboom der letzten Jahre wirkt sich maßgeblich auf die Strukturen des Medienbetriebs aus, erfahren wir in einer epischen, aber in jedem Absatz lesenswerten und informativen Reportage von Josef Adalian und Maria Elena Fernandez. Binnen weniger Jahre hat sich die Zahl der produzierten Serien von etwa 200 auf über 400 verdoppelt, was einerseits mehr Arbeit für mehr Leute bedeutet sowie für einige Kinostars neue Arbeit für grandiose Honorare. Das Nachsehen haben die alten Fernsehschauspieler und viele Drehbuchautoren, da die Sender und Studios die gestiegenen Kosten durch kürzere Staffeln ausgleichen. Vor allem aber steht das Konzept der Syndizierung, das es den Showrunnern auch mittelmäßiger Serien im Falle einer Wiederholung in den Kabel- und Lokalsendern gestattete, fürstliche Tantiemen einzustreichen, mit der gewachsenen Marktkraft von Netflix und Co zur Disposition: Denn "Netflix, wo man sehr betont, dass es ihnen gleich ist, ob die Nutzer sich eine neue Serie am Erscheinungstag oder erst ein Jahr später ansehen, hat kein Interesse daran, die eigenen Serien zu syndizieren. Serien wie 'House of Cards' oder 'Orange is the New Black' sollen auf Jahre hinweg auf Netflix stattfinden und zwar ausschließlich auf Netflix. 'Es geht ihnen nicht darum, ein Geschäft auf der Grundlage einer Anlage aufzubauen', erklärt ein Mitarbeiter einer Agentur über den Streaming-Riesen. 'Es geht ihnen darum, ein Geschäft mit monatlichen Mitgliedsbeiträgen aufzubauen, also Netflix selbst zu dieser Anlage zu machen. Der ganze, langfristig abschöpfbare Wert, der aus den Serien entsteht, geht ein in den Gesamtwert des Programmanbieters. Das ist ein enormer Unterschied zu dem, wie der Rest der Branche funktioniert.'"

Magyar Narancs (Ungarn), 05.05.2016

Mit einem gewissem Unverständnis, jedoch detailliert berichteten ungarische Medien über die teils harschen deutschen Kritiken zu László Nemes' mit einem Oscar und einem Golden Globe Award ausgezeichneten Film "Sauls Sohn". Der Kunsthistoriker und Medienwissenschaftler Péter György erläutert mögliche Gründe für die unterschiedlichen Rezeptionen: "Im Zentrum der deutschen Erinnerungspolitik steht die Sprache: das Wissen und das Lehren. Sie hütet sich vor der Überschreitung von bildlichen Grenzen. (...) Die Bezeichnung 'KZ-Kitsch' ist dennoch ein symptomatischer Fehler. (...) Denn 'Sauls Sohn' macht das, was auf der Leinwand passiert zu unserer persönlichen ästhetischen Erfahrung. Damit zerstört er die aus der historischen Entfernung entstandene ästhetische Ruhe der Neutralität und der Objektivität: Offensichtlich eine Subversion, die im heutigen Deutschland kaum mehr zu verstehen ist."
Archiv: Magyar Narancs

LA Weekly (USA), 27.04.2016

Wer heute in den Nischen und Kellern der Undergroundmusik wühlen will, wird von Youtube in der Regel bestens bedient. Was dabei Algorithmen und deren Empfehlungen an Verzweigungen und Stöbermöglichkeiten leisten, war früher die Aufgabe von Liner Notes in ausgewählten Platten. Ein besonders verdienstreiches, kuratiertes Netzwerk vor dem Internet mit Querverbindungen und weiterführenden Empfehlungen stellte die legendäre, verrätselte Liste dar, die die Band Nurse With Wounds 1979 ihrem Album beigelegt hatte. Bis heute gilt diese einflussreiche Liste mit den darauf angeführten, vor dem Internet kaum zugänglichen Platten als verlässlicher Kompass in Sachen experimenteller Avantgardemusik (nicht nur) aus dem Pop- und Rockkosmos. In einer schönen Reportage geht Gustavo Turner dieser verloren gegangenen Kultur der Empfehlungen und insgeheim kuratierten Musikzusammenhänge nach: "Trotz - oder vielleicht gerade wegen - ihres willentlich obskuren, idiosynkratischen Wesens bildete die NWW-Liste einen ständigen Berührungspunkt zwischen zahlreichen Generationen experimenteller Undergroundmusiker. Sie beeinflusste alle, von Sonic Youth über Ariel Pink bis zu jener aufsteigenden Band, die Du gerade erst letzte Nacht auf dieser verdrogten Kellerparty entdeckt hast. In der experimentellen Sparte des Amoeba-Music-Ladens in Hollywood weisen Aufkleber die Platten manchmal als 'von der NWW-Liste' aus. Bis zum heutigen Tag stellt dies eine verkaufsfördernde Empfehlung dar. ... 'Ich werde absolut nostalgisch, wenn ich an die NWW-Liste denke, weil sie mir stets ein treuer Begleiter war', sagt Mahssa Taghinia, die Mitbesitzerin und Kuratorin des Plattenladens Mount Analog. 'Immer, wenn ich mich mit ihr befasse, bedeutet sie etwas Neues. Sie fühlt sich neu an. Ich fühle mich so an, als wäre ich innerlich etwas vorangekommen. Die Liste lebt für sich auf ganz eigene Weise. Sie ist das 'Alice im Wunderland' der Musiklisten. Alles ergibt Sinn, wenn Du zurück oder zur Seite gehst.'" Hier eine Playlist, die von der NWW-List inspiriert ist:

Archiv: LA Weekly

Literary Hub (USA), 28.04.2016

Megha Majumdar hat Ruanda selbst bereist und die Orte des Schreckens mit eigenen Augen gesehen. Er beschreibt eine irgendwie unbehaglich friedliche Atmosphäre, die glatten Straßen und das Fehlen jeglicher Plastiktüten. Das Regime Paul Kagamas wirkt harmonisch, aber unter der Oberfläche lauert Angst. Seine Lektüre von Anjan Sundarams Buch "Bad News - Last Journalists in a Dictatorship", das auch im Guardian schon dringend empfohlen wurde, bestätigt ihn. Es schildert Ruanda als einen Staat, das den Schrecken nicht bewältigt, sondern immer wieder neu zelebriert - etwa durch grauenhafte Fernsehbilder: "Auf dem nationalen Fernsehsender lief Genozid-Material. Die Regierung zeigte buchstäblich die Ermordungen. Ich habe nie verstanden, warum sich die Familien das ansahen. Heute glaube ich, das es es sich um eine staatlich betriebene Erneuerung des Traumas handelt, eine Auffrischung, die die neue Generation der Kinder prägt, so dass das Trauma bestehen bleibt."
Archiv: Literary Hub
Stichwörter: Kagame, Paul, Ruanda, Trauma, Genozide

Open Democracy (UK), 20.05.2016

Wie sehr gerade auch Diktatoren und korrupte Regierungsmitglieder - in diesem Fall in den zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan - von den Steueroasen profitieren, dröseln detailliert Paolo Sorbello und Bradley Jardine auf. "Wie kürzlich die Wissenschaftler Alexander Cooley und John Heathershaw hier erklärt haben, ist der 'liberale Westen kein Zuschauer bei den Problemen Zentralasiens, er spielt den Gastgeber für die Raffgier und die Machtspiele der Diktatoren. ... Die Panamapapiere machen deutlich, dass Autokratisierung nicht in der Isolation geschieht. Es ist ein transnationaler Prozess, der von den selben Marktmechanismen geformt wird, die westliche Multis benutzen. Um die Nachfrage nach Korruption, Steueroasen und geheimen Konten zu befriedigen, brauchen die Eliten Zentralasiens die Hilfe des Westens beim Umgehen der Gesetze und der Öffentlichkeit."
Archiv: Open Democracy

New York Times (USA), 22.05.2016

Im aktuellen Magazin der New York Times begibt sich Robert Draper auf die Zielgerade mit dem Präsidentschaftskandidaten Donald Trump. Zu erfahren ist, wie Trump sein Verhältnis zum afro-amerikanischen Teil der Bevölkerung sieht (großartig, sie arbeiten für mich!) oder zur weißen Arbeiterklasse: "Obgleich Trumps politischer Reifeprozess ganz und gar nicht linear verläuft, scheint er langsam zu erkennen, was seine Kandidatur für seine Wähler bedeutet. Auch wenn er behauptet, für alle attraktiv zu sein, sieht er, dass es vor allem die von Obama vernachlässigte weiße Arbeiterschaft ist, die ihn stützt. Dementsprechend fügt er in seine Reden wirtschaftliche Zahlen ein, die den Kollaps des lokalen Produktionssektors während der letzten zwei Jahrzehnte belegen sollen. Wo immer die Leute ihre Arbeit verloren haben, kann Trump auf Wähler hoffen. 'Das sind großartige Leute, die Hilfe brauchen, nicht Hoffnung', erklärt er."

Außerdem: Kein Mensch hört mehr Rockmusik. Welche Band wird wohl spätere Generationen lehren, was es damit auf sich hatte, fragt sich Chuck Klosterman. Die Beatles? Elvis? Dylan? Die Stones? Chuck Berry? Matthieu Aikins untersucht die katastrophale Bombardierung eines Krankenhauses in Kundus vergangenen Oktober durch das US-Militär. Und Sam Sifton bittet zu Tisch mit dem aus Israel stammenden britischen Starkoch Jotam Ottolenghi.
Archiv: New York Times