Magazinrundschau
Unverkennbar Siebenbürgisch
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
27.07.2010. Die ungarischen Magazine feiern Herta Müllers Roman "Atemschaukel". In den Blättern plädiert Jürgen Habermas für eine Ausweitung des Begriffs der Menschenrechte. Wie ernst oder ironisch ist Nabokovs Gedicht "Pale Fire", fragt Slate. Wie aktuell ist Dostojewski?, fragt Tygodnik Powszechny. Das TLS lernt von der amerikanischen Anarchistin Voltairine de Cleyre, die Liebe nicht durch zu engen Kontakt zu vulgarisieren. Przekroj analysiert den Zustand des türkischen Kinos. In der NYT erklärt Jay Rosen, warum das ewige Gedächtnis des Internets dem schönsten amerikanischen Ideal widerspricht.
Magyar Narancs (Ungarn), 15.07.2010

Elet es Irodalom (Ungarn), 23.07.2010

"Die dritte Republik geht zu Ende", meint der Verfassungsrechtler Gabor Halmai, nachdem er die Zeichen an der Wand gelesen hat: Die Regierung übernimmt die Kontrolle der Medien, in jüngsten Regierungserklärungen werden die vergangenen zwei Jahrzehnten als "chaotische Zeit des Übergangs" gewertet, die es nun zu überwinden gelte, das Amt des Staatsoberhaupts sowie vakante Posten des Verfassungsgerichts werden mit Parteisoldaten bzw. Vertrauensmännern der Regierungspartei Fidesz besetzt. Besonders traurig sei dabei, so Halmai weiter, dass die Einstellung der Bevölkerung diesen Prozess unterstütze, was bald zu lateinamerikanischen oder russischen Verhältnissen in Ungarn führen könnte: "Wie in diesen Ländern werden auch bei uns die Werte der Rechtsstaatlichkeit von der Mehrheit der Bevölkerung nicht geschätzt. Eine vor kurzem durchgeführte Umfrage ergab, dass die Mehrheit der Befragten 'kein demokratisches Denken aufwies'. 75 Prozent beispielsweise war für eine 'Regierung der harten Hand, die keine Parteidebatten zulässt' und 52 Prozent waren der Meinung, dass es in der heutigen Situation 'einer einzigen, starken, die gesamte Gesellschaft umfassenden Partei' bedürfe. Als Universitätsprofessor habe ich den Eindruck, dass es diesbezüglich auch in den Reihen der künftigen Akademiker nicht viel besser aussieht."
Blätter f. dt. u. int. Politik (Deutschland), 01.08.2010

La regle du jeu (Frankreich), 26.07.2010
Predrag Matvejevitch, einer der bekanntesten Intellektuellen Kroatiens, muss übermorgen vielleicht ins Gefängnis. Er hatte einen ultranationalistischen kroatischen Lyriker als "katholischen Taliban" bezeichnet und wurde von diesem auf Beleidigung verklagt - ein Tatbestand, auf den in Kroatien Gefängnis steht. Bernard-Henri Levys Blog La regle du jeu hat einen Haufen superprominenter Autoren wie Umberto Eco, Claudio Magris und Salman Rushdie um sich geschart, um dagegen zu protestieren. Maria de Franca erzählt, was vorgefallen ist: "Matvejevitch betrachtet diese Strafe als ungerecht und eines Rechtsstaates für unwürdig. Er plädiert für die Freiheit des Wortes und lehnt sich auf gegen das, was er eine 'strafbare Metapher' nennt. Darum legt er nicht Berufung ein. Der Premierminister sieht die steigende Indignation im Ausland und hat sich gegen die Strafe ausgesprochen... Ist es akzeptabel, dass ein Land, das so kurz vor der Aufnahme in die EU steht, jemanden wie einen Kriminellen behandelt, nur weil er öffentlich gegen einen ultranationalistischen Poeten Stellung bezogen hat?" Auch Matvejevitchs Text, der ihm die Klage eingebracht hat ist auf RDJ übersetzt.
Der iranisch-französische Journalist Armin Arefi kommentiert Berichte der Los Angeles Times (hier) über die anhaltend florierenden Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und dem Iran. Trotz jüngst beschlossener Boykottmaßnahmen soll der wirtschaftliche Austausch zwischen den Ländern noch gewachsen sein. Die Times zitiert einen Sprecher der deutsch-iranischen Handelskammer, der die Beziehungen als traditionell und "gewachsen" verteidigt. "Diese 'traditionelle' und 'nachhaltige' Beziehung ist um so problemantischer, wenn man die Rolle Deutschland im Zweiten Weltkrieg und antiisraelischen und negationistischen Diatrieben des iranischen Präisdenten Achmadinedschad bedenkt."
Der iranisch-französische Journalist Armin Arefi kommentiert Berichte der Los Angeles Times (hier) über die anhaltend florierenden Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und dem Iran. Trotz jüngst beschlossener Boykottmaßnahmen soll der wirtschaftliche Austausch zwischen den Ländern noch gewachsen sein. Die Times zitiert einen Sprecher der deutsch-iranischen Handelskammer, der die Beziehungen als traditionell und "gewachsen" verteidigt. "Diese 'traditionelle' und 'nachhaltige' Beziehung ist um so problemantischer, wenn man die Rolle Deutschland im Zweiten Weltkrieg und antiisraelischen und negationistischen Diatrieben des iranischen Präisdenten Achmadinedschad bedenkt."
Slate (USA), 23.07.2010
Etwas großspurig kündigt Ron Rosenbaum in Slate eine neue große Kontroverse um Nabokov an. Anlass ist ihm eine Ausgabe des großen Gedichts "Pale Fire", das vom postmodernenen Kommentarapparat, der das Gedicht im Roman gleichen Namens umgibt, befreit ist. Rosenbaums Frage hinter dem Artikel und der prächtigen Ausgabe: Wie ernst oder ironisch ist Nabokovs Gedicht eigentlich gemeint? "Vielleicht sah Nabokov 'Pale Fire' und Pale Fire zugleich als trenn- und untrennbar. Vielleicht schrieb er das Gedicht zuerst, in der Absicht, dass es um seiner selbst willen gelesen wird, und hatte dann erst die Idee, einen Roman drum herum zu bauen, um damit eine seine großartigsten Romanfiguren, Kinbote, zu schaffen..." Hier der einzige Hinweis auf die Ausgabe der Gingko Press, die auf der Website des Verlags leider nicht angezeigt wird: eine Zeichnung der Buchgestalterin Joan Holabird.
Tygodnik Powszechny (Polen), 25.07.2010

Die Schriftstellerin Inga Iwasiow setzt sich etwas ironisch mit der polnischen Rezeption des großen russischen Romanciers auseinander: "Der Neid durchmischt sich mit unseren ambivalenten Gefühlen gegenüber der russischen Kultur: Wir lieben und hassen sie, bewundern sie und machen uns über sie lustig. Wir lieben sie so sehr, weil wir sie gleichzeitig kleinreden können, indem wir auf die Grausamkeit verweisen, auf das Lebensniveau, die Verachtung gegenüber dem Menschen, die Sünden an kleineren Nationen. In jedem polnischen Buch findet sich der Satz, dass Dostojewski Polen hasste, aber Polnisch sprach. Das beruhigt uns etwas, denn nichts schmerzt uns so sehr, wie fehlende Sensibilität gegenüber dem Charme unserer Sprache. Dieser ach-so-große Dostojewski kannte, ja: bewunderte wohl heimlich unsere Kultur, er las Mickiewicz, vielleicht kopierte er gar." Die Frage nach dem "polnischen Dostojewski" führt Iwasiow allerdings zur Schlussfolgerung, dass nur eine Schriftstellerin, etwa Zofia Nalkowska, die Tragik der Existenz nach dem 19. Jahrhundert entsprechend nachvollziehen und darstellen konnte.
Außerdem nachzulesen: Grzegorz Jankowicz erzählt die Geschichte von Vladimir Nabokovs Kritik an Dostojewski und seiner Art der Literatur.
Times Literary Supplement (UK), 23.07.2010
"Abenteuerlichen Träumerinnen mit hinreißenden Namen" ist Daphne Spain (!) in Sheila Rowbothams (!) Buch "Women who invented the twentieth century" begegnet. Eine kleine Kostprobe: "Die amerikanische Anarchistin Voltairine de Cleyre, deren Vater sie nach dem Aufklärer benannte, war eine glühende Verfechterin der freien Liebe. Niemals sollte es erlaubt sein, 'die Liebe zu vulgarisieren durch die verbreitete Unanständigkeit eines fortgesetzt engen Kontaktes', behauptete sie, die auch nie besonders erpicht auf Kinder war, sich über mütterliche Instinkte mokierte und die Kinderlosen verteidigte. Dann gab es die britische Autorin Margaret Storm Jameson, die 45 Romane schrieb, bevor sie im Alter von 95 Jahren starb. Und Elsie Clews Parsons, eine Amerikanerin, die über Sex schrieb, bevor es irgendjemand in der besseren Gesellschaft darüber sprach. Die britische Sozialreformerin Clementina Black erklärte, das Fahrrad würde mehr für die Unabhängigkeit der Frauen tun als alles, was explizit diesem Ziel dienen sollte."
"Auch wenn Koestler immer ein Snob war, verhielt er sich niemals so uniform wie einer", hält Jeremy Treglown nach Lektüre von Michael Scammells Arthur-Koestler-Biografie fest. Roger Cardinal liest eine französische Neuausgabe von Lautreamonts schaurigen "Gesängen des Maldoror", die "noch immer sehr erfolgreich "das Verhältnis von Autor und Leser sabotieren, wenn nicht gar die Etikette der Literatur".
"Auch wenn Koestler immer ein Snob war, verhielt er sich niemals so uniform wie einer", hält Jeremy Treglown nach Lektüre von Michael Scammells Arthur-Koestler-Biografie fest. Roger Cardinal liest eine französische Neuausgabe von Lautreamonts schaurigen "Gesängen des Maldoror", die "noch immer sehr erfolgreich "das Verhältnis von Autor und Leser sabotieren, wenn nicht gar die Etikette der Literatur".
Nepszabadsag (Ungarn), 24.07.2010

Przekroj (Polen), 20.07.2010

Nur im Print: ein Gespräch mit Krzysztof Wodiczko, der in Wroclaw anlässlich des Festivals seine Projekte mit Irakkriegsveteranen weiter entwickelt. Ihm gehe es nicht um Kunst, gesteht er zum Ende des Interviews, sondern darum, das Leben zu beeinflussen. Und: Nachdem er als Werbetexter zu Geld gekommen ist, startete Rafal Betlejewski seine Karriere als Aktionskünstler. Anfang des Jahres erregte er mit seiner Aktion "Du fehlst mir, Jude" große Aufmerksamkeit (mehr dazu hier). Sein neuestes Projekt: die Verbrennung einer Scheune zum 69. Jahrestag des Mordes von Jedwabne, stieß auf breite Kritik: "Eine solche, im Fernsehen live übertragene, Aktion führt nicht zu einer Reflexion darüber, was die Opfer erlebt haben. In einer Picknickatmosphäre kann man die Wahrheit über lebendig verbrannte Menschen nicht berühren", sagte ein Vertreter der jüdischen Minderheit. Ein wichtiges Tabu sprach Betlejewski jedoch an: Viele polnische Künstler meiden bis heute das Thema Holocaust.
Prospect (UK), 21.07.2010
Peter Jukes hat ein langes Porträt des sozialdemokratisch-linken Historikers, vom Zionisten zum Anti-Zionisten gewandelten Juden und nach seiner ALS-Erkrankung inzwischen komplett gelähmten, seitdem aber fast noch öffentlicheren Intellektuellen Tony Judt verfasst. Es beruht unter anderem auf einem E-Mail-Interview aus diesem Jahr, das ebenfalls komplett nachzulesen und hoch interessant ist. Neben vielen anderen Dingen geht es darin auch um die Rolle des öffentlichen Intellektuellen. Judt erklärt: "Paradoxerweise sind öffentliche Intellektuelle dann am besten, wenn sie ein Fundament in einer spezifischen Sprache, Kultur und Debatte haben. So war Camus Franzose, Habermas ist Deutscher, Sen ist Bengale und Orwell war zutiefst Englisch. Das machte ihre grenzüberschreitenden Unternehmungen plausibel, ganz genauso wie Havel oder Michnik ihre street credibility der Herkunft als mutige Dissidenten an einem sehr spezifischen Ort und zu einer spezifischen Zeit hatten. Das Gegenteil ist der lächerliche Slavoj Zizek: ein 'globaler' öffentlicher Intellektueller, der deshalb nirgendwo und zu gar keinem Thema von besonderem Interesse ist. Wenn er die Zukunft des öffentlichen Intellektuellen ist, dann gibt es keine."
Polityka (Polen), 23.07.2010

New York Times (USA), 25.07.2010

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