Heute in den Feuilletons

Die Windmühlen der Globalisierung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.07.2012. Gibt es ein Menschenrecht auf Vorhaut, fragt sich die taz. Die FR rechnet mit dem Dogma des Atheismus ab. Oliver Jens Schmitt sorgt sich in der NZZ, dass Albanien nicht von seiner kommunistischen Vergangenheit loskommt. Bernd Neumann hat eine neue Idee für die Gemäldegalerie, meldet der Tagesspiegel. Die SZ ist beeindruckt von der rasanten Entwicklung der syrischen Kunstszene. Und Frankreich führt einen aussichtslosen Kampf gegen den Import von deutschen Autos und englischen Wörtern, wie die Welt berichtet.

TAZ, 21.07.2012

Auch im christlich geprägten Abendland gab es (etwa unter Onaniegegnern und Sexualhygienikern) immer wieder Beschneidungsfürworter, recherchiert Martin Reichert, der sich zudem fragt, ob es ein "Menschenrecht auf Vorhaut" gebe. Daniel Bax atmet unterdessen vernehmlich auf: Bloß gut, dass der Bundestag in der Angelegenheit eindeutig Partei ergriffen hat, schließlich sei bei den Deutschen Toleranz "out", wie Bax klagt (und gleich auch Kopftuch und Burka aufs Tapet bringt).

Weitere Artikel: Cristina Nords Wahrnehmung schärft sich bei einer Führung durch das südlich von Kassel gelegene, einstige Konzentrationslager Guxhagen-Breitenau, in dem die Documenta künstlerische Auseinandersetzungen mit der Geschichte des Orts ausstellt. Wolf Schmidt erläutert die Hintergründe des Prozesses gegen die "Düsseldorfer Zelle", die auf Geheiß von al-Qaida einen Terroranschlag geplant haben soll. Christian Werthschulte schaut sich am Vorabend der Olympischen Spiele in London um. Im Zuge der Haushaltskonsolidierung erhöht sich in Spanien die Mehrwertsteuer für kulturelle Veranstaltungen von acht auf satte 21 Prozent, berichtet Reiner Wandler. Ilka Kreutzträger beobachtet weiterhin den Prozess gegen die Ex-NDR-Redakteurin Doris Heinze. Helmut Höge sammelt erst Materialien zu einer Kulturgeschichte der Tierfilmer und schreibt anschließend noch den Nachruf auf den Marxisten Robert Kurz.

Besprochen werden unter anderem zwei neue Comics des französischen Zeichners Baru und Ror Wolfs Roman "Die Vorzüge der Dunkelheit", der Tim Caspar Boehme nach weiteren düsteren Romanen des Autors lechzen lässt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

Tagesspiegel, 21.07.2012

Anna Pataczek meldet, dass Kulturstaatsminister Bernd Neumann nun vorgeschlagen hat, die Gemäldegalerie in das Kronprinzenpalais auszuquartieren: "Eignet sich das spätklassizistische Palais aus bau- und klimatechnischer Sicht überhaupt dazu, Kunst für einen längeren Zeitraum aufzunehmen? Inwieweit Sanierungsmaßnahmen nötig sind, werde derzeit geprüft, sagte ein Sprecher der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben dem Tagesspiegel. Genaueres wird erst bekannt, wenn der Stiftungsrat der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu seiner nächsten Sitzung im Herbst zusammenkommt. Der bisherige Termin: November. Ebenfalls unklar ist, ob es auf eine temporäre Nutzung hinauslaufen und ob das benachbarte Prinzessinnenpalais mit einbezogen würde. (Man stelle sich vor, Paris würde so stümpern, wenn es um den Louvre ginge!)

NZZ, 21.07.2012

Der Historiker Oliver Jens Schmitt schildert, wie wenig es Albanien, einst das "Nordkorea Europas", gelingt, sich von seiner kommunistischen Zeit unter Enver Hoxha zu distanzieren: "Die offizielle Geschichtsdarstellung der albanischen Akademie spricht von 'Nachkriegszeit', um jeder begrifflichen Präzisierung und damit auch ideologischen Wertung zu entgehen. Die Elitenkontinuität in Politik und Wissenschaft ist stark. Wird über die kommunistische Ära gesprochen, dann geschieht das in hoch politisierter und äußerst emotionaler Weise. Was an kritischer Aufarbeitung betrieben wird, verdankt sich der Initiative der wenigen zivilgesellschaftlich engagierten Intellektuellen wie Fatos Lubonja und dessen Zeitschrift Përpjekja oder dem jüngst aus dem Leben geschiedenen Ardian Klosi. Ihnen und ihren Mitstreitern schlägt oft blanker Hass entgegen, wenn sie eine Diskussion über die Folgen der jahrzehntelangen Diktatur einfordern."

Weiteres: Roger Fröhlich berichtet, dass Giancarlo und Danna Olgiati ihre Kunstsammlung der Stadt Lugano überlassen wollen. Gerd Hammer stellt die Stiftung José Saramago in Lissabon vor. Aldo Keel resümiert Diskussionen in Norwegen um die Zukunft der Insel Utöya. Besprochen werden die Anthologie lateinamerikanischer Lyrik "Dunkle Tiger", Alfred North Whiteheads Essays "Die Ziele von Erziehung und Bildung" und Briefwechsel von Allen Ginsberg und Jack Kerouac (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In Literatur und Kunst konstatiert der Schriftsteller Kurt Drawert den Verlust von Text, Gedanken und Sinn durch das Internet (natürlich nur im Print): "Die Flüchtigkeit des Netzes wird zur Flüchtigkeit des Textes. Wir lesen auch schneller auf einem Bildschirm als in einem Buch, weil der Fließtext unterhalb des Textes permanent mitläuft, gleichviel, ob wir ihn sehen - wir denken ihn mit. Es ist schlichter Unfug, von einer Freiheit des users zu sprechen, wenn dieser schon präfiguriert ist, noch ehe er eingeschaltet hat. Wie eine Ratte, die unter Reizstrom steht, erinnert er sich an die subtile Forderung der Maschine, sich hineinziehen und die Texte entreißen zu lassen."

Außerdem unterhält sich Thomas David mit dem kanadischen Autor Michael Ondaatje über seinen Roman "Katzentisch". Karin Hellwig rekonstruiert Diego Velázquez' Karriere "vom Handwerker zum Adligen".

Welt, 21.07.2012

Frankreich führt einen aussichtslosen Kampf gegen den Import von deutschen Autos und englischen Wörtern, berichtet Ulf Poschardt: "Dieser Kampf gegen die Windmühlen der Globalisierung rührt den Rest der Welt - und gleichzeitig gibt er eine Ahnung davon, wie hier geistige und finanzielle Ressourcen für verlorene Schlachten eingesetzt werden, während die großen Probleme des Landes zunehmend deutlich werden"

Weiteres: Marko Martin plädiert im Essay für wohldosiertes Pathos in der Politik. Andrea Seibel trifft sich mit Vera Lehndorff zum Tischgespräch und stellt fest: "Nein, sie hat keinen Vogel. Sie ist eigen." In Berlin streiten Historiker über die Frage, wer größer war: Friedrich der Große oder Otto der Große, informiert Lucas Wiegelmann. Besprochen wird Ingo Langners (unter dem Pseudonym Julius Wintermanthel geschriebener) Geschichtskrimi über Rolf Hochhuths "Stellvertreter".

In der Literarischen Welt spricht Hannes Stein mit Paul Auster über dessen neuen Roman "Sunset Park", der von der Wirklichkeit eingeholt wurde: "Viele meiner Bücher haben ihren Ursprung in einem Bild; und über dieses Bild hatte ich schon jahrelang nachgedacht. Es war das Bild eines Mannes, der mit einem Fußtritt aus seinem Haus auf die Straße geworfen wird, der sich dann aufrappelt und darüber nachdenken muss, was er mit sich anfangen soll. Diesen Keim trug ich schon längst in mir. Und dann schaute ich mich 2008 um - und das ganze Land wurde aus seinen Häusern geworfen! Ich dachte: Das ist keine individuelle Geschichte mehr, das widerfährt der ganzen Nation. Und zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich ein Buch schreiben, das im Jetzt spielt. Großes J. In der unmittelbaren Gegenwart."

Der moderne Mensch neigt zum digitalen Einsiedlertum, stellt Cora Stephan fest. Theodore Dalrymple polemisiert gegen die Vorbereitungen Londons auf die Olympischen Spiele. Buch der Woche ist Georg Gauguschs Dokumentation des jüdischen Großbürgertums in Wien - ein "Jahrhundertwerk", findet Ulrich Weinzierl. Besprochen werden außerdem Oswald Georg Bauers Biografie über Wolfgang Wagner, Jürgen Schlumbohms "Lebendige Phantome" über die Geschichte der Göttinger Frauenklinik im 18. und 19. Jahrhundert, Monica Maffiolis Bildband "Japanese Dream" mit kolorierten Fotografien aus dem Japan des 19. Jahrhunderts, Claude Lévi-Strauss' Vorlesungen über "Anthropologie in der modernen Welt", Norbert Zähringers Roman "Bis zum Ende der Welt", der Debütroman des Kritikers Michael Maar, eine CD-Box mit Hörbüchern von Hermann Hesses Romanen sowie Briefe und Reden von Theodor Heuss, gelesen von Sebastian Koch.

FR/Berliner, 21.07.2012

Herrgottzack, der Atheismus ist auch nicht mehr das, was er mal war, donnert Dirk Pilz von der hohen Kanzel des Mosebach-Feuilletons. Zumindest offenbare sich ihm in der Beschneidungsdebatte der "erbärmliche Zustand", in dem sich die Weltanschauung befinde: Säbel rasselnd und sich ihrer Grundlagen noch nicht mal mehr bewusst. "Seine Grundüberzeugungen verkommen damit zu Dogmen, zur blind machenden Ideologie. Wer nicht weiß (und wissen will), welche Vorannahmen und Hintergrundüberzeugungen eine atheistische Position impliziert, mutiert zum unmündigen Meinungstrottel." Weshalb Pilz die Gottlosen zur antiatheistischen Sonntagsschule ruft und ihnen das mit der Religion nochmal haarklein erklärt. Amen!

Weiteres: Andreas Mix erinnert an die gewaltsame Auflösung des Warschauer Ghettos, die heute vor 70 Jahren ihren Anfang nahm. Außerdem werden eine neue Debussy-CD-Box und Annette Leos Biografie über Erwin Strittmatter besprochen (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 21.07.2012

Werner Bloch schaut sich in der syrischen Kunstszene um, die sich "in Rekordzeit" von alten Klischees gelöst und modernisiert hat: "Noch vor zwei Jahren war Gegenwartskunst aus Damaskus eine eher dröge, zähe Angelegenheit. Ein bisschen Kalligrafie, eine Prise Picasso, ein paar orientalistische Klischees, das Ganze eingehüllt in symbolistisches Gewölk, epigonal und uninteressant. Plötzlich schmeckt diese Kunst bitter, revolutionär, bedingungslos engagiert." Vor allem macht Bloch dies an den Fotografien von Jaber Al Azmeh fest, die dieser über Facebook und Flickr verbreitet.

Weitere Artikel: Michael Stallknecht hört bei einer Münchner Diskussionsveranstaltung ausführlich Jürgen Habermas' agnostischer Verteidigung von religiösen Positionen im liberalen Staat zu. Jörg Häntzschel amüsiert sich in aller Ausführlichkeit über Mitt Romneys Rhetorik- und Empathie-Defizite, die diesem beim Wahlkampf schwer zu schaffen machen. Johan Schloemann besucht die Abschiedsvorlesung des Historikers Christian Meier in München, der dort von seinen Hörern atemlos bewundert wurde. Henning Klüver trifft sich in Mailand mit dem Galerist Giorgio Marconi. Kristina Maidt-Zinke porträtiert den norwegischen Autor Per Petterson.

Besprochen werden Sion Sonos neuer Film "Guilty of Romance", Detlev Glanerts Opernadaption von Stanislaw Lems Science-Fiction-Klassier "Solaris" bei den Festspielen in Bregenz, bei deren "seifiger Esoterik" Egbert Tholl viel gähnen muss, und Tex Rubinowitzens Reiseführer "Rumgurken" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende bescheinigt Gerhard Matzig dem deutschen Baugewerbe weit weniger Pfusch als es die Kommentare angesichts jüngster Bauskandale erwarten lassen: "Es ist eher das empörungsritualisierte, meist fachunkundige, skandalsüchtige Gerede über das hochkomplexe Bauen der Gegenwart, das so seltsam wacklig und ruinenhaft anmutet." Michael Winter lobt die Zweisamkeit. Sarah Khan berichtet von ihren Erfahrungen als Statistin beim Film. Ulrich Schlie erinnert an die Vorbereitungen zum Stalingrad-Feldzug der Wehrmacht. Jochen Jung erzählt, wie er in den frühen 80ern in einem jugoslawischen Hotel unter Thomas Bernhards Augen dessen neuen Roman lektorierte. Frederik Obermaier unterhält sich mit dem norwegischen Politologen Johan Galtung über Gewalt.

FAZ, 21.07.2012

Dietmar Dath feiert im Aufmacher Daniel Suarez' Techno-Thriller "Kill Decision", in dem Kollektive autonomer Waffenroboter amerikanische Senatoren und Ölindustrielle und Wissenschaftler massakrieren, als total nah an der machbaren Wirklichkeit. Und: "Die Apparate, die uns besiegt haben, blinken, glitzern und sind so böse, wie erfundene Schurken es nie waren, als sie noch wie Menschen aussehen mussten."

Weiteres: Christian Geyer berichtet von einer Münchner Diskussion über Religion und Staat mit Jürgen Habermas und Friedrich Wilhelm Graf. Gar nicht so schlimm fand Jürgen Dollase das Touristen-Restaurant "Le Train bleu" in der Gare de Lyon. Und Nina Rehfeld schwärmt von der Promiklatsch-Seite TMZ, die den Tod von Michael Jackson bereits meldete, bevor der Gerichtsmediziner ihn überhaupt festgestellt hatten.

Besprochen werden Detlev Glanerts Komposition "Solaris" für die Bregenzer Festspiele und Bücher, darunter Paul Austers neuster Roman "Sunset Park", Michael Maars "Die Betrogenen" und Günter Grass' Lesung seines Theaterstücks "Die Plebejer proben den Aufstand" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In Bilder und Zeiten eruiert Christiane Eisenberg, was Pierre de Coubertin und seine Nachfolger vom IOC von den Olympischen Spiele der Antike übrig gelassen haben. Christian Wildhagen war mit Herbert Blomstedt und den Wiener Philharmonikern auf Kreuzfahrt durch das Mittelmeer. Ulrich Werner Schulze besucht das Flüchtlingslager Dadaab im Osten Kenia, das von der Welternährungsorganisation weiter versorgt wird, obwohl die Hungersnot in Somalia längst beendet ist. Auf der Plattenseite werden Hans Neuenfels' Bayreuther Lohengrin-Inszenierung auf DVD und Mary Chapin Carpenters Country-Album "Ashes and Roses" besprochen.

In der Frankfurter Anthologie stellt Jan Süselbeck Heinrich Heines "Vermächtnis" vor:

"Nun mein Leben geht zu End,
Mach ich auch mein Testament;
Christlich will ich drin bedenken
Meine Feinde mit Geschenken..."