Heute in den Feuilletons

Bizarrer Bastard

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.09.2009. Die NZZ sucht nach Gründen für den Niedergang Pakistans. Im Freitag erklärt Christoph Schlingensief, warum er es überhaupt nicht ehrenhaft findet, über seinen Krebs zu schweigen. In der Welt erklärt Leszek Kolakowski, warum wir den Sinn für das Heilige brauchen. In der FR will Ulrich Beck nicht mehr über die globale Ungleichheit hinwegsehen. In der taz versucht Lars von Trier, die Geheimnisse von Charlotte Gainsbourg zu ergründen. Die SZ sah eine durchgeknallten Nicolas Cage in Werner Herzogs "Bad Lieutenant".

NZZ, 05.09.2009

Literatur und Kunst ist heute Pakistan gewidmet. Die Artikel zeichnen ein eher deprimierendes Bild des Landes. Pakistan ist ein Beispiel dafür, dass Religion einen Staat nicht zusammenhalten kann, meint die pakistanische Historikerin Ayesha Jalal. Der Islam wurde nie "zu dem Band, das ein durch Klassenunterschiede und regionale Differenzen gespaltenes Volk einigen konnte; vielmehr ließ der Umgang autoritärer Regime mit der Religion diese zu einem weiteren Konfliktpunkt werden. Pakistans Regionalkulturen haben den Islam absorbiert, ohne deswegen ihre eigenen Sprachen und Gebräuche preiszugeben. Und mit einigem Recht haben die weniger privilegierten Provinzen dem Punjab vorgeworfen, dass die dortige militärisch-bürokratische Clique den Islam dazu missbrauche, dem restlichen Pakistan seinen gerechten Anteil an politischer und wirtschaftlicher Macht vorzuenthalten."

Für Urs Schoettli haben die nachfolgenden Politiker die Ideen der Gründungsväter Muhammad Ali Jinnah und Muhammad Iqbal verraten. "Die Hauptvorwürfe an die pakistanischen Eliten sind, es unterlassen haben, eine solide Mittelschicht zu entwickeln, und in ihrer Fokussierung auf Klans und Klientelen es verpasst haben, eine funktionierende Bürgergesellschaft zu etablieren. Beides ist mitschuldig an der prominenten Rolle, welche das Militär in der pakistanischen Politik zu spielen vermag. Von den 62 Jahren seit Erlangung der Unabhängigkeit wurde das Land rund drei Jahrzehnte lang von Militärs regiert. Es fällt schwer, sich Staatsgründer vorzustellen, die entschlossener auf die Zivilgesellschaft verpflichtet waren als Iqbal und Jinnah."

Außerdem: Stephan Popp porträtiert den Philosophen und geistigen Vater Pakistans Muhammad Iqbal. Andrea Spalinger sieht in der Fokussierung auf den "Erzfeind Indien" eins der Hauptprobleme Pakistans. Claudia Kramatschek wirft einen Blick auf die englischsprachige Gegenwartsliteratur aus Pakistan. Die Archäologin Anna Filigenzi stellt die Kunst Gandharas vor, deren Ursprung im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung liegt (Schätze aus Gandhara werden derzeit im Zürcher Museum Rietberg ausgestellt, siehe dazu auch die Ausstellungsbesprechung im Feuilleton).

Im Feuilleton beschreibt Hubertus Adam den Erweiterungsbau des Historischen Museums Bern. Rolf Urs Ringger berichtet über das Festival de musique classique Montreux-Vevey. In der Kolumne "Mein Stil" erinnert sich Gertrud Leutenegger an die Treppenhäuser, die sie "diesseits und jenseits des Monte Generoso bewohnt" hat.

Besprochen werden die Ausstellung "Buddhas Paradies. Schätze aus dem antiken Gandhara, Pakistan" im Zürcher Museum Rietberg und Bücher, darunter Daniel Pennacs "Schulkummer" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Freitag, 05.09.2009

Einen wütenden und lesenswerten Kommentar schreibt Christoph Schlingensief zu einer Polemik des Freitag-Redakteurs Michael Angele gegen die "neue Bekenntnisliteratur" Krebskranker, die über ihre Erfahrungen scheiben: "wir schreiben mittlerweile unter www.geschockte-patienten.de nicht um uns den neuesten darmkrebs auszumalen, sondern um uns selber zu fragen: bist du noch autonom? was war eigentlich diese autonomie bevor du den krebs oder ALS oder MS bekommen hast. und herr angele kennt das alles nicht. er ist kerngesund. er findet es ehrenhaft und anständig wenn wir schweigen..."

Welt, 05.09.2009

Die Literarische Welt überinmmt aus Global Viewpoint ein Gespräch, das Nathan Gardels vor dessen Tod mit dem Philosophen Leszek Kolakowski führte. Es handelt von der notwendigen Erdung alles menschlichen Strebens an einer Vorstellung vom Himmel: "Wenn die Kultur den Sinn für das Heilige verliert, verliert sie allen Sinn. Mit dem Verschwinden des Heiligen, das der Perfektion dessen, was eine säkulare Gesellschaft erreichen kann, Grenzen setzt, erwacht eine der gefährlichsten Illusionen unserer Zivilisation - die Illusion, dass es keine Grenzen der Veränderung gebe; dass die Gesellschaft ein unendlich flexibles Ding wäre, den arbiträren Launen unserer kreativen Möglichkeiten unterworfen."

Weitere Artikel: Marko Martin feiert Robero Bolanos Roman "2666", der jetzt bei Hanser auf deutsch erschienen ist. Besprochen werden außerdem Ulla Hahns autobiografischer Roman "Aufbruch" und John Grays Essay "Politik der Apokalypse (Auszug), den Richard Herzinger recht skeptisch beurteilt.

Im verbliebenen Feuilleton empfiehlt Eckhard Fuhr ein Biopic über Helmut Kohl, das demnächst im Zweiten läuft. Und Peter Zander berichtet aus Venedig.

FR, 05.09.2009

In seiner "Weltinnenpolitik"-Kolumne beharrt der Soziologe Ulrich Beck darauf, die globalen Ungleichheitsverhältnisse skandalös zu finden: "In der Weltinnenpolitik zerbricht die Legitimation, die diese Relativität des Entsetzens bislang ermöglichte. Die Armen werden arm, nicht nur durch ihre Armut, sondern auch durch die Informationsströme, die ihre Lage vergleichbar machen. Sie werden zu 'unseren' Armen und arm, weil sie unseren Reichtum kennen." Und für "uns" heißt das: "Unseren Eltern haben wir vorgehalten: Wie konntet ihr nur! Und heute? Tausende Weltbürger sterben an den Meeresgrenzen der EU, Millionen Kinder verhungern Tag für Tag. Aber wir gucken weg."

Weitere Artikel: Im Interview zu seiner in Frankfurt wieder aufgeführten Inszenierung der Karl-Amadeus-Hartmann-Oper "Simplicius Simplicissimus" meint der Regisseur Christof Nel zum Thema flotter Aktualisierungen: "Wenn man zu Analogie-Bildern greift, kann man alles viel leichter abnicken." Von der Konkurrenz von "Fakten und Fiktionen" bei der Kaufberatung im Netz schreibt Oliver Herwig. Sylvia Staude war dabei, als die Welt in Wuppertal von Pina Bausch Abschied nahm. Arno Widmann ärgert sich in einer Times Mager, dass die Leute den Begriff "Große Koalition" angesichts sehr veränderter Verhältnisse falsch weiterverwenden. In Marcia Pallys US-Kolumne geht es um die Football-Trainer und darum, was man aus ihrer Republikaner-Treue über Amerika lernen kann. Daniel Kothenschulte schreibt zum Mord am in Manila lebenden, weltweit geachteten jungen Filmkritikerpaar Nika Bohinc und Alexis Tioseco.

Besprochen werden Jamie T's Album "Kings and Queens" und die Neuauflage von Ricarda Huchs historischem Prosa-Panorama "Der Dreißigjährige Krieg" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 05.09.2009

Im großen Interview mit Cristina Nord berichtet der dänische Regisseur Lars von Trier unter anderem, wie sich die Zusammenarbeit mit seiner "Antichrist"-Hauptdarstellerin Charlotte Gainsbourg gestaltete: "Sie ist extrem. Als Privatperson ist sie schüchtern, es kann passieren, dass sie ein ganzes Abendessen über kein einziges Wort sagt. Einmal habe ich sie gefragt: 'Wie geht es an, dass jemand so Schüchternes wie du die Masturbationsszene am Baum ohne Probleme spielen kann?' Sie antwortete:'Das wüsstest du wohl gerne.'" Und zum ihm gern unterstellten Frauenhass meint er noch: "Warum sollte ich zehn Filme mit weiblichen Hauptfiguren machen? Wenn man keine Elefanten mag, macht man doch nicht zehn Filme mit Elefanten, oder?"

Der Sozialpsychologe Harald Welzer erklärt auf den vorderen Seiten, dass einen Erfahrungen in die Irre führen können, weil sie nicht mit dem Unerwarteten rechnen: "Für den Umgang mit Unerwartetem kommt es vor allem darauf an, Sensorien dafür zu entwickeln, dass sich etwas ankündigt oder abzeichnet, das die routinemäßige Behandlung sofort überfordern würde - das heißt, es geht darum, misstrauisch gegenüber der Erfahrung zu sein und die Phänomene immer aufs Neue in Augenschein zu nehmen."

Weitere Artikel: In den "Leuchten der Menschheit" nimmt Wolfgang Gast den Buback-Hype der Bild-Zeitung unter die Lupe. Doris Akrap unterhält sich mit Norbert Mappes-Niediek über sein "Kroatien"-Buch.

Besprochen werden Bücher, unter anderem Wolf Haas' neuer Krimi "Der Brenner und der liebe Gott" und Juli Zehs und Ilija Trojanows Streitschrift "Angriff auf die Freiheit" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 05.09.2009

In Venedig hat Tobias Kniebe unter anderem den ersten von - wie sich überraschend herausstellt - zwei Werner-Herzog-Filmen im Wettbewerb gesehen: "Bad Lieutenant: Port of Call New Orleans". Ein offenbar faszinierend krudes Werk: "Er ist ein bizarrer Bastard geworden. Nicolas Cage ist der neue 'Bad Lieutenant', und er versucht auf seine Art, Harvey Keitel zu toppen und damit seine eigentlich längst ruinierte Karriere wiederzubeleben. Im Ergebnis schlägt er so durchgeknallt und doch kalkuliert über alle Stränge, dass man nicht recht weiß, ob man weinen oder lachen soll. Herzog scheint seinem Hauptdarsteller aber, so oder so, völlig freie Hand zu lassen. Er ist eher davon besessen, Alligatoren, Wasserschlangen und bizarre Echsen ins Bild zu rücken, die er zum Teil mit einer Spezialkamera höchstselbst gefilmt hat - auch wenn keinerlei Verbindung zum Rest der Geschichte erkennbar ist."

Weitere Artikel: Joseph Hanimann schildert, wie Jacques Audiards neuer Film "Un prophete" die französische Diskussion über den Zustand der Gefängnisse im Land anfacht. Jens-Christian Rabe referiert und kommentiert die Positionen, die in einem Spex-Schwerpunkt zum Thema Staatsknete für Popmusik vertreten werden. Sehr angetan von der Überarbeitung blättert Eva Elisabeth Fischer durch die jüngste und letzte Druckausgabe des Kindler Literaturlexikons. Reinhard J. Brembeck meldet, dass die British Library nicht weniger als 28.000 Aufnahmen traditioneller Musik ins Netz gestellt hat. Zum zwanzigjährigen Bestehen portärtiert Jörg Heiser das Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Fritz Göttler gratuliert dem Kurzzeit-Bond George Lazenby zum Siebzigsten. Auf der Medienseite stellt Laura Weissmüller die bezirksweise vorgehende Stadtzeitschrift Berlin Haushoch (Website) vor.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende schilt Evelyn Roll ihre Kolleginnen und Kollegen: Wo haben die Journalisten ihren kritischen Verstand gelassen? Bzw: "Haben denn alle ihre Mikrofone an die Politik abgegeben? Adelt das Grundgesetz mit seinem Artikel 5 'die Medien' tatsächlich für Unterhaltung, Ablenkung, Meinungsmache und Volksverblödung?" Wolfgang Koydl stöbert in den in Großbritannien nun veröffentlichten, von massiver Skepsis der Regierung zeugenden Dokumenten zur deutschen Wiedervereinigung. Auf der Historienseite geht es um den Beginn des Zweiten Weltkriegs, am Beispiel des polnischen Städtchens Wielun. Vorabgedruckt wird Joachim Sartorius' Reisebericht "Rötliche Sterne des Wassers". Dirk Peitz spricht mit der Popmusikerin Nelly Furtado über den "Ruhm".

Besprochen werden die deutsche Erstaufführung von Wim Vandekeybus' Choreografie "Nieuwzwart" in Essen, Jan Garbareks erstes Live-Album "Dresden" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 05.09.2009

Marcus Jauer hat die sich ein Jahr hinziehenden Dreharbeiten zu Volker Heises Film "24h Berlin" beobachtet. Am Ende erklärt Heise, "es falle ihm jetzt schwerer eine Meinung über jemanden zu haben. Die Sprecher und der Sender hätten von ihm wissen wollen, welche Haltung sein Film zur Wirklichkeit habe. Er versteht die Sehnsucht der Menschen, mit irgendetwas auf den Punkt kommen zu wollen. Ein Punkt, der bleibt, von dem man ausgehen kann im Leben, eine zeitlang wenigstens. Aber er glaubt nicht, dass es diesen Punkt gibt. 'Es wird nichts bleiben', sagt Volker Heise, 'und das haben wir festgehalten.'"

Weitere Artikel: Zu Beginn des neuen Schuljahres erinnern sich mehrere FAZ-Redakteure an "Pauker und Lehrkörper", die sie geprägt haben. Jürgen Dollase isst in Harald Wohlfahrts "Schwarzwaldstube". Günter Kowa betrachtet den Glasfenster-Zyklus von Jochem Poensgen in der Klosterkirche zu Jerichow. In Bilder und Zeiten beschreibt Julia Voss die Arbeit des Zoologen Ragnar Kinzelbach, der mit Hilfe von Zeichnungen auf einem umstrittenen Papyros zur Tierwelt der Antike forscht. Paul Ingendaay betrachtet mit dem Fotografen Frank Röth Bordelle an den Landstraßen Spaniens. Lena Bopp fährt Fahrrad in Paris. Und Kazuo Ishiguro spricht im Interview über seinen neuen Erzählband "Bei Anbruch der Nacht".

Auf der Schallplatten und Phono-Seite geht's um Bruno Madernas "Grande Aulolia", Benjamin Brittens "Donne"-Lieder, gesungen vom Tenor Mark Padmore, CDs von Bat For Lashes und den Noisettes (hier). Besprochen werden außerdem Bücher, darunter Herta Müllers (Leseprobe hier) "Atemschaukel" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Dirk von Petersdorff Joseph von Eichendorffs Gedicht "Die Heimat" vor:

"Denkst Du des Schlosses noch auf stiller Höh?
Das Horn lockt nächtlich dort, als ob's Dich riefe,
Am Abgrund grast das Reh,
Es rauscht der Wald verwirrend aus der Tiefe, -
O stille, wecke nicht! es war, als schliefe
Da drunten ein unnennbar Weh.
..."