Heute in den Feuilletons

Schwatzschwatz, meistens ernst, selten witzig

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.01.2009. In der SZ erinnert sich Sibylle Lewitscharoff an ihre Zeit bei der Gruppe Spartacus Bolschewiki-Leninisten. Die NZZ hat in Detroit in die vielen Gesichter des Nichts gesehen. In der taz beklagt der Schriftsteller Nir Baram das Versagen der Linken in Israel. Und die FAZ erkennt in der chinesischen Markenpiraterie die Intelligenz des Volkes. In Poynter rechnet Rick Edmonds vor, warum die New York Times im Mai bestimmt nicht pleite ist.

NZZ, 10.01.2009

Eine deprimierende Autofahrt hat Martin Meyer durch das darniederliegende Detroit unternommen: "Das Nichts hat in Detroit mehr Gesichter, als sich europäische Vorstellungskraft hätte ausdenken mögen. Sogar die architektonisch brillant konzipierte Dependance der Public Library ist geschlossen und mit Brettern verschalt, und im innersten Kreis um das berühmte Detroit Institute of Arts - wo immer noch Meisterwerke der Kunst quer durch die Jahrhunderte zu bewundern wären - herrscht vorgerückte Dämmerung."

Weiteres: Joachim Güntner schildert, wie sich Rechts- und Linkskonservative in Deutschland die Varusschlacht zurechtdeuten. Günter Seufert berichtet, dass die Türkei ihren "größten modernen Dichter", den Kommunisten Nazim Hikmet sechzig Jahre nach seiner Ausbürgerung rehabiliert hat.

In Bilder und Zeiten verehrt Ulrike Brunotte den großen Modernen Edgar Allan Poe, der vor zweihundert Jahren geboren wurde: "Poes Helden sind auf neue, hoffnungslose Weise einsam. Sie existieren ausserhalb normaler Arbeit und Betriebsamkeit: Sei es als letzter Spross eines Adelsgeschlechts oder als ruheloser 'Massenmensch', als Internierte einer abstrakten Macht oder als blinder Passagier inmitten unendlicher Meere, immer sind sie vor allem Selbstbeobachter. Der Erzähler im 'Verräterischen Herz' trägt die bekannten Züge: Gedanken und Träume haben für ihn schon lange die Realität ersetzt, denn er lebt in der bedrückenden Innenwelt seiner Obsessionen."

Heinz Hoffmann erinnert daran, dass vermutlich vor zweitausend Jahren Ovid ans Schwarze Meer verbannt wurde. Horst Günther fragt, wann er Aby Warburgs "Gesammelte Schriften" in Gänze wird lesen können. In den Bildansichten schreibt Christina Viragh über Bruegels "Heimkehr der Herde".

Besprochen werden eine große Retrospektive zu James Lee Byars im Kunstmuseum Bern und viele Bücher, darunter Juan Rulfos Roman "Pedro Paramo", Sabahattin Alis Roman "Die Madonna im Pelzmantel", die Urfassung von Sylvia Plaths "Ariel" und Norbert Hummelts Übersetzung von T. S. Eliots "Das öde Land" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 10.01.2009

Gefunden durch den Hinweis eines Perlentaucher-Lesers: Bei Poynter rechnet Rick Edmonds vor, warum die New York Times keineswegs im Mai pleite ist, wie Michael Hirschorn in Atlantic spektuliert hatte (mehr dazu hier). Und aus sonst gebe es einige Rechenfehler in dem Artikel. "Author Michael Hirschorn's day job is originating programing for VH-1, and you can infer as you read the piece that he is a high-concept idea guy, not a financial journalist. But no one on the Atlantic's editing team rescued him from a series of howlers. The hypothesis of a May closing is pegged to the expiration then of a $400 million revolving line of credit. Hirschorn is aware that if the Times needs cash, it can borrow against the value of its new office building -- as it has done now to the tune of up to $225 million. The company also announced on Christmas Eve that it has put its stake in the Boston Red Sox up for sale, which could fetch another $200 million."
Stichwörter: Boston, New York, New York Times

TAZ, 10.01.2009

Susanne Knaul unterhält sich mit dem israelischen Schriftsteller Nir Baram über das Versagen der Linken im Gaza-Krieg und den geringen Einfluss der Kultur auf die Politik: "Im kulturellen Bereich, in der Literatur und im Film, herrscht ein viel größerer Pluralismus als in der Politik. Filme wie 'Waltz with Bashir' nehmen in der öffentlichen Debatte breiten Raum ein. Die Kultur genießt eine gewisse Autonomie, aber auf die politische Diskussion schlägt sich das kaum nieder. Israelische Filme und Bücher waren schon immer kritischer. Vielleicht hat man in Europa deshalb den Eindruck, hier fände ein dramatischer Umdenkungsprozess statt. Das ist aber nicht der Fall. Der Einfluss der israelischen Kultur reicht nicht aus, um die öffentliche Meinung zu verändern."

Weitere Artikel: Zum selben Thema unterhält sich Cristina Nord mit dem israelischen Filmemacher Avi Mograbi über dessen dokumentarischen Film "Z 32", in dem es um einen israelischen Elitesoldaten geht, der an einer blutigen Racheaktion gegen Palästinenser teilnahm. Vorne in der Zeitung hält wiederum Cristina Nord in einem Kommentar das Gerichtsurteil, das die falsche Darstellung der Ermordung von Jürgen Ponto in "Der Baader Meinhof Komplex" erlaubt, für richtig - was aber den Film natürlich nicht besser mache. In der Kultur schildert Pascal Beucker die Sachlage. Margret Fetzer war dabei, als der Literaturtheoretiker Jonathan Culler bei einem Münchner Vortrag über Flaubert seinem "Publikum sachte den Übergang vom Strukturalismus zum Poststrukturalen untergejubelt" hat. Jörg Sundermeier beschreibt den Berliner Kampf gegen die "Zwangsethik" im Schulunterricht.

Besprochen werden das neue Animal Collective-Album " Merriweather Post Pavillion" (für Tobias Rapp jetzt schon die Platte des Jahres) und Bücher, darunter Mariusz Szczygiels Reportageband "Gottland" und Filip Florians Roman "Kleine Finger" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im taz mag geht es um evangelikale Christen in Deutschland. Wolf Schmidt hat deren Einflusssphären in der Republik erkundet. Um religiöse Speisegebote dreht sich ein Artikel von Till Ehrlich, Helmut Höge ärgert sich über den "erbärmlichen Rationalismus" des Darwinisten Richard Dawkins.

FR, 10.01.2009

Mit großem Genuss hat Ina Hartwig den posthumen Thomas-Bernhard-Band "Meine Preise" gelesen: "So trotzig bis böswillig die Dankreden ausfallen - und auch die Erklärung zum Austritt aus der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung sollte man sich nicht entgehen lassen -, so köstlich, traurig und überwältigend lesen sich einige der versammelten Texte über seine Preise. Hier handelt es sich um reine Literatur insofern, als der Umstand der jeweiligen Preisverleihung bloß als Anlass dient, um ein Füllhorn von typischen Motiven, Emotionen und Anekdoten zu offerieren."

Weitere Artikel: In seinem großen Geburtstagsartikel zum 500. Geburtstag des eifernden Reformators Johannes Calvin fragt sich der Theologe Gerd Lüdemann nicht zuletzt, warum man eines solchen Fanatikers eigentlich gedenken soll. Marcia Pally stellt in ihrer US-Kolumne das Finanzkrisen-Opfer Fred Milani vor. In einer "Times Mager" von Harry Nutt geht es darum, wie die Kunst ganz groß rauskommt in Berlin - oder auch nicht. In der Reihe "Fundstück" präsentiert Judith von Sternburg Gerd Arntz' Holzschnitt "Bank" aus dem Jahr 1927.

Besprochen werden das neue Album "Cruisen" des Thomas Siffling Trios und Sema Kaygusuz' Roman "Wein und Gold" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 10.01.2009

"Schwatzschwatz, meistens ernst, selten witzig": Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff erinnert sich an die Achtundsechziger und ihre eigene Schulzeit als Mitglied der "Spartacus Bolschewiki-Leninisten". "Wie bei den anderen Kommunistengrüppchen auch, hatten merkwürdige Kerle das Sagen. Die Kader waren aus Frankfurt angerückt, um uns Schüler auf die Revolution vorzubereiten. Einer sah aus, als wäre er einem Anarchistenzirkel zu Dostojewskis Zeiten entsprungen und hätte sich seither nicht mehr gewaschen, ein dickliches, schwer bebartetes Männchen mit rollenden Glühaugen. Daneben ein total verlederter Politmann, Briefträger von Beruf, Kopf wie ein abgeschlecktes Ei, die Schleckassoziation drängte sich auch deshalb auf, weil er vor jedem Satz mit der Zungenspitze prüfend in die Mundwinkel fuhr. Nicht zu vergessen die kalten Kommissare, technoide Büromänner mit Waffenkenntnissen, die in der umliegenden Stuttgarter Provinz mit Entjungferungsauftrag unterwegs waren, um der Bewegung neues Material (ehrlich, es hieß so) zuzuführen."

Gerhard Matzig gratuliert dem Kollegen Superheld Tintin, dem (nie schreibenden) Comic-Reporter Tim, von Herzen zum Achtzigsten und erklärt sich dessen Erfolg so: "Tim ist der kanonische Weltenretter und Schurkenjäger, weil wir - die Pullunder-Existenzen der Welt - uns wünschen, es möge am Ende einer von uns sein. Keiner, der den exotischen Sehnsüchten entspringt, sondern der Banalität unseres Alltags. Deshalb ist Tim lange vor Bond, Dr. Jones oder Ethan Hunt auf der Welt gewesen - und wird sie auch dann noch vor Rastapopoulos und dem Geheimdienst der kriegerischen Borduren beschützen, wenn Tom Cruise für die Verfilmung von Helmut Schmidts Leben schon zu alt sein wird. Tim ist einer von uns."

Weitere Artikel: Dirk Graalmann zitiert aus dem Urteil, das der Constantin Film gegen die Klage von Ignes Ponto das Recht zubilligt, die Ermordung ihres Mannes in "Der Baader Meinhof Komplex" nicht den Tatsachen entsprechend darzustellen: Es ist "für den Zuschauer deutlich erkennbar, dass der Film keine reine Abbildung der Realität anstrebt, sondern diese aus einer bestimmten Perspektive zeigen will, um dem Zuschauer die Botschaft des Films nahe zu bringen." Jonathan Fischer fragt sich, was Barack Obama für das Selbstbild schwarzer HipHop-Helden bedeutet. Alexander Menden meldet, dass sich Großbritannien angesichts der Finanzkrise auf vermutlich massive Kürzungen auch im Kulturbereich einstellen muss, während Jörg Häntzschel die Folgen der Finanzkrise für US-Museen schildert. Die Malerin Bridget Riley, die den Kaiserring der Stadt Goslar erhält, wird von Catrin Lorch porträtiert. Auf der Literaturseite erinnert Hans-Peter Kunisch an Reinhard Federmanns und Milo Dors Krimi "Internationale Zone" aus dem Jahr 1953, indem eine als Paul Celan gut erkennbare Figur eine Hauptrolle spielt.

Abgedruckt wird ein Aleida und Jan Assmann gewidmetes Gedicht von Durs Grünbein, das den Titel "Paulus wechselte die Schiffe" trägt und so beginnt: "Das letzte, was er von Lykien, dem Sonnenland, sah / War hinterm Hafen von Myra die große Werft, / Dutzende Schiffe in ungehobeltem Zustand, / Und das erstaunlich große Getreidelager."

Besprochen werden Hans-Christoph Blumenbergs Film "Warten auf Angelina", und Bücher, darunter Gunther Geltingers Roman "Mensch Engel" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende hat der Arzt und Sänger Georg Ringsgwandl den anglizismophoben Wächtern der deutschen Sprache dies zu sagen: "Mir ist es lieber so, wie es ist: Eine sprachliche Elite spricht astreines Deutsch und drumherum wuchert eine Wildnis von Dialekten, Mixturen aus gebrochenem Deutsch und Fremdsprachen, Fachchinesisch vom Installateur bis zum Hirnchirurgen, und dazwischen wuseln die Journalisten mit permissiver Orthographie." Hilmar Klute besucht den deutsch-irischen Schriftsteller Hugo Hamilton in Dublin. Gabriela Herpell porträtiert die 25jährige Geigerin und Professorin Julia Fischer. Auf der Historienseite erklärt Harald Hordych, was das englische Königshaus mit dem norhessischen Städtchen Battenberg zu tun hat. Im Interview spricht Maxi Leinkauf mit Bärbel Bohley über 1989.

Welt, 10.01.2009

In der Literarischen Welt erklärt der amerikanische Militärhistoriker Edward N. Luttwak, warum Israel die Hamas nicht besiegen, aber schwächen kann. "Die bloße Schwächung der Kampfkraft der Hamas ist so wichtig wie es die Schwächung der Hisbollah 2006 war, denn im vorschriftsmäßigen, mit Koransprüchen verzierten Märtyrer-Kostüm paradieren, das wollen viele, wo aber wirklich gekämpft und gestorben wird, schwindet der Enthusiasmus rasch. Mit wenigen Ausnahmen rücken die israelischen Bodentruppen nicht frontal vor, sondern führen stattdessen eine Vielzahl von Razzien durch. Sind sie so gut informiert wie während des Luftangriffs, werden den Truppen innerhalb von Tagen die Ziele ausgehen. Danach wäre ein glaubwürdig überwachter Waffenstillstand möglich und für beide Seiten wünschenswert - als einzige Alternative zu einer erneuten Okkupation."

Außerdem: Daniel Kehlmann darf im Interview seinen neuen Roman vorstellen. Besprochen werden unter anderem Monika Fagerholms Roman "Das amerikanische Mädchen" und Andreas Maiers Roman "Sanssouci".

Ein Filmfestival im Teatro Amazonas in Manaus soll helfen, den Regenwald zu retten, berichtet Hanns-Georg Rodek im Feuilleton. Die Moais, die eierköpfigen Steinmenschen auf der Osterinsel sind vom Verfall bedroht, meldet Sandra Weiss. Tom Jones erzählt im Interview von seinem neuen Album "24 Hours". Matthias Heine feiert das Comeback des Winters. 2009 jährt sich der Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zum 90. Mal - zu Leitbildern für die Demokratie macht sie das nicht, findet Sven Felix Kellerhof. Holger Kreitling gratuliert Tim und Struppi zum Achtzigsten. Die drei Investoren, die in Berlin eine Kunsthalle bauen sollten, sind abgesprungen, berichtet Gabriela Walde. Der heutige Apostolische Nuntius in Polen, Erzbischof Jozef Kowalczyk, war von 1982 bis 1990 beim kommunistischen Geheimdienst SB als "Informationskontakt" registriert, meldet Gerhard Gnauck. Dankwart Guratzsch schreibt zum Neunzigsten des Münchner Architekten Alexander von Branca.

FAZ, 10.01.2009

Als Shanzhai bezeichnen die Chinesen ihre Kunst des billigen Kopierens, und Mark Siemons sieht darin nicht blankes Geschäftskalkül, sondern ein ironisches Manifest: Shanzhai "ist zum Inbegriff chinesischen Selbstbewusstseins geworden, gegenüber dem Westen ebenso wie gegenüber den politischen und kulturellen Eliten im eigenen Land. 'Shanzhai', sagen seine Verfechter, 'ist die Intelligenz des Volkes'."

Weiteres: Wie es aussieht, "wenn die Intelligenz von sich selber träumt", weiß Thomas Thiel seit der Umfrage des Magazins edge.org unter hochdekorierten Naturwissenschaftlern zu der Frage: "Welche Entwicklung könnte könnte zu Ihren Lebzeiten alles ändern?" Regina Mönch berichtet von dem Offenen Brief Berliner Schulleiter, die den Bezirk Mitte vor dem "bildungspolitischen Aus" sehen. In der Randspalte ärgert sich Tobias Rüther über Burkhard Spinnens Text zum Tod des Unternehmers Adolf Merckle aus der gestrigen SZ (mehr hier). Jürgen Dollase stellt freudig Roger Van Dammes Antwerpener Lunchrestaurant Het Gebaar vor, das ihn mit ungewöhnlichen Öffnungszeiten und aufwendigen Desserlandschaften beglückte. Paul Ingendaay liefert eine große Reportage aus Ecuador. Stephan Sahm liest medizinische Zeitschriften. Auf der Plattenseite schreibt Edo Reents zum fünfzigjährigen Bestehen des Plattenlabels Motown. Auf der Medienseite kritisert Svenja Kleinschmidt die rigide Pressezensur in Gaza.

Besprochen werden neue Bach-Einspielungen, Aufnahmen des Pianisten Boris Berezovsky und Bücher, darunter Andreas Maiers Roman "Sanssouci", Steffen Popps Gedichte "Kolonie Zur Sonne" und Cord Riechelmanns Hörbuch "Stimmen der Tiere"..

In Bilder und Zeiten erinnert Heiko Holste an die Gründung der Weimarer Republik. Ric Schachtelbeck stellt John Neumeisters Sammlung zur Tanzlegende Vaslav Nijinsky vor. Martin Wittmann spricht im Interview mit dem Chemiker und Leiter des Hamburger Umweltintituts, Michael Braungart, über sein Buch "Cradle to Cradle" und eine Welt ohne Abfall.

In der Frankfurter Anthologie stellt Jan-Christoph Hauschild Georg Büchners Gedicht "O meine müden Füßen ihr müsst tanzen" vor:

"O meine müden Füßen ihr müsst tanzen
In bunten Schuhen,
Und möchtet lieber tief, tief
Im Boden ruhen..."