Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.01.2005. Vor sechzig Jahren wurde Auschwitz befreit. Micha Brumlik sieht in der taz mit dem heutigen Datum eine Epochenschwelle überschritten: Auschwitz ist Vergangenheit. Imre Kertesz sieht Auschwitz im Tagesspiegel als "zentralen negativen Mythos".  Götz Aly hält in der FR den 9. November für den besseren Gedenktag, denn warum sollten ausgerechnet die Deutschen der Befreiung von Auschwitz gedenken? Die FAZ annonciert eine Quellenedition zum Holocaust. In der SZ beschreibt Sybille Steinbacher Auschwitz als deutsche Stadt. In der Welt behauptet Ulrich Herbert, die Studentenbewegung hätte die Auseinandersetzung mit dem Holocaust behindert.

FR, 27.01.2005

"Ein wunderbarer Moment, doch als Tag, an dem sich die Bundesrepublik auf den Holocaust besinnt, will sich das Datum nicht einbürgern." schreibt Götz Aly (mehr hier und hier und hier) zum 60. Jahrerstag der Befreiung von Auschwitz. "Dafür gibt es zumindest einen vernünftigen Grund: Warum, so lässt sich fragen, soll ausgerechnet in Deutschland der Befreiung gedacht werden? Ist es nicht richtiger, an die staatlich organisierten, gesellschaftlich teils geförderten, teils hingenommenen Verbrechen selbst zu erinnern? Der 27. Januar konkurriert auf unglückliche Weise mit dem 9. November, der für das flächendeckende Pogrom von 1938 steht, für Mord, Willkür, Raffsucht und öffentliche Passivität. Dieser Tag hatte sich zunehmend zum Gedenktag entwickelt, bevor Bundespräsident Herzog den 27. Januar festlegte. Man wende nicht ein, der 9. November 1938 werde zu stark von den lichten republikanischen Revolutionstagen der Jahre 1918 und 1989 überstrahlt. Nur geschichtsblinde Optimisten übersehen, wie leicht sich in Deutschland die Rufe nach nationaler Einheit und sozialer Gleichheit mit dem Rassenhass verbinden."

"Was bei der jüngsten Forschung für ein allgemeines deutsches Verständnis herauskommt, sind mehr Erkenntnisse darüber, wie es einer begrenzten Zahl von Deutschen gelungen ist, andere Volksgruppen dazu anzustiften, ihnen als Mörder zu dienen," beschreibt der Historiker Christopher Browning (mehr hier) die Veränderung der Holocaust-Forschung, seit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks auch dortige Archive der Forschung zugänglich gemacht wurden. "Um die Frage zu beantworten, wie es möglich war, dass die Nazis andere Völker dafür gewinnen konnten, Morde für sie auszuführen, ist es eben auch wichtig, wie die Lage vor der Ankunft der Deutschen war. Das bedeutet nicht, dass die Deutschen weniger verantwortlich für die Verbrechen waren. Der Begriff Verantwortung verbreitert sich.

Andere Artikel: Ernst Piper rekapituliert noch einmal den Tag der Befreiung von Auschwitz, und Peter Michalzik erklärt die Findungskommission, die in Berlin einen neuen Intendanten für das Deutsche Theater finden soll, zur Nichtfindungskommission, da sie jetzt den Noch-Indendanten Bernd Wilms empfohlen hat.

Besprochen werden Brad Silberlings Film "Lemony Snicket", Jean-Pierre Jeunets Weltkriegsmelodram "Mathilde" ("Die Hölle als Kitschpostkarte" ist Michael Kohlers Kritik überschrieben) und Bücher, darunter Konrad Jarauschs Studie "Die Umkehr" zur Frage, wie aus den Deutschen nach 1945 wieder ein zivilisiertes Volk werden konnte.

Zeit, 27.01.2005

"Wen die Beschäftigung mit Auschwitz nicht mehr verstört, der macht etwas falsch", schreibt Bernd Ulrich zum sechzigsten Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers, woran auch mehrere andere Beiträge erinnern. Jan Ross hat sich mit Intellektuellen und Künstlern über die derzeit erstaunlich diffuse Erinnerungskultur unterhalten. Die beiden Autoren Adriana Altaras und Maxim Biller sprechen über ihre Persönliche und die offizielle Erinnerung und die deutsche Betroffenheit. Die Schriftstellerin Francine Prose schreibt über die amerikanische Erinnerungskultur.

Übermorgen wird in den Berliner Kunst-Werken die RAF-Ausstellung eröffnet, Hanno Rauterberg fand es schrecklich! Allein auf Hans Peter Feldmanns zentrales Werk, das an die rund neunzig Toten erinnert, lässt er nichts kommen, ansonsten aber: viel Ehrfurcht, viel Stilisierung und viel Banalität. "Warum nur gerät die Kunst derart oft in die Geiselhaft der Terroristen? Weshalb kann sie sich nicht lösen? Und wieso befassen sich überhaupt so viele Künstler mit der RAF? Möglich, dass sich die Obsession aus ihrem Selbstverständnis erklärt: Für viele gehörte es lange Zeit einfach zum Künstlerdasein dazu, politisch, links und kritisch zu sein. So lag es nahe, sich mit der RAF zu befassen. Doch ebenso gut hätten sie sich natürlich mit Nachrüstung, Waldsterben oder Mauerfall befassen können, was aber nur ganz wenige taten. Offenbar gab es zum Phänomen RAF für viele eine ganz eigene Beziehung, manche spürten wohl eine Art Wesensverwandtschaft. Vielleicht sahen sie in den Terroristen sogar die besseren Künstler."

Auch Bettina Röhl, Tochter von Ulrike Meinhof, meldet sich zur Ausstellung zu Wort: "Diese historische Hinter-den Tätern-Herlaufen ist genau das, was das Phänomen der RAF eigentlich schon immer ausgemacht hat, viel mehr als die wirkliche RAF, und dies zeigt sich auch in der Kunst und in der Ausstellung."

Weiteres: Im Gespräch mit Gunter Hofmann und Jan Ross spricht der Soziologe Ralf Dahrendorf über seine Rückkehr an das Wissenschaftszentrum Berlin, über die Grenzen Europas und die Macht des Nationalstaats. Christof Siemes besichtigt das neue Studienzentrum, in dem die Bestände der Anna Amalia Bibliothek untergebracht sind.

Besprochen werden Michael Thalheimers "starkes Operndebüt" mit der Inszenierung von Leos Janaceks "Katja Kabanova", Helmut Dietls Film "Vom Suchen und Finden der Liebe" und Jean-Pierre Jeunets Rührstück "Mathilde".

Im Aufmacher des Literaturteils bespricht Elisabeth von Thadden Johannes Frieds "Der Schleier der Erinnerung". Und Stephan Wackwitz eröffnet das Europäische Tagebuch mit einem Eintrag aus Krakau. Für das Dossier besuchent Daniel Steinvorth und Charlotte Wiedemann die legendäre Al-Azhar-Universität in Kairo.

NZZ, 27.01.2005

Jan-Werner Müller legt ein interessantes Porträt Gertrude Himmelfarbs vor, deren Buch "The Roads to Modernity - The British, French, and American Enlightenments" (Auszug) in den USA schon im letzten Jahr für Debatten sorgte. Müller verortet die Autorin zunächst mal biografisch ("Himmelfarb ist die Mutter von Bill Kristol, seines Zeichens Chefredaktor der derzeit wohl einflussreichsten politischen Zeitung in Washington, des konservativen Weekly Standard), um dann ihre Theorie der "Aufklärungen" zu erläutern: Die Franzosen gelten ihr dabei als kalte Fische ("Diese fast schon irrationale Frankophobie der Neokonservativen"!), die Briten sind dem Pfad der Tugend schon näher. Aber "Für Himmelfarb führt der Königsweg in die Moderne letztlich nicht über Edinburgh oder London - und schon gar nicht Königsberg -, sondern durch Philadelphia. Es waren die amerikanischen Gründerväter, die mit einer pragmatischen 'Politik der Freiheit' den Weg zur ersten voll funktionsfähigen Republik der Moderne wiesen... So verbanden sich in den Vereinigten Staaten Kapitalismus und Moralismus auf höchst erfolgreiche Weise - wobei Himmelfarb hier um einige verdruckste Kommentare zum Thema Sklaverei nicht umhinkommt."

Weitere Artikel: Reinhold Vetter besucht die Stadt Oswiecim/Auschwitz, deren schwieriges Leben im Schatten des Holocaust zur Zeit vielfach geschildert wird. Christoph Egger resümiert die Solothurner Filmtage (und verreißt bei dieser Gelegenheit den jüngsten Film des einst international bekannten Alain Tanner). Besprochen werden ein neues Album Pat Methenys, die viel besprochene große Carsten-Nicolai-Ausstellung in Frankfurt und andere neue CDs.

SZ, 27.01.2005

Die Bochumer Historikerin Sybille Steinbacher beschreibt Auschwitz als deutsche Stadt, da sie per Grenzfestsetzung Ende 1939 zum Deutschen Reich gekommen sei, "was bedeutet, dass die Verbrechen im Lagerkomplex keineswegs, wie oftmals suggeriert, im geografisch nebulösen 'Osten' begangen worden sind. Die radikale 'Eindeutschung' der Stadt begann mit dem Bau der IG Farben-Werke im Frühjahr 1941. Industriegeleitete Städtebaupolitik setzte ein, und die Stadt, so verkündeten die Manager des Chemie-Giganten, die mit der SS einen einträglichen Handel eingegangen waren, sollte zu einem 'Bollwerk des Deutschtums im Osten' werden. Mehr als 6000 Reichsdeutsche verlegten bis Ende 1943 ihren Wohnsitz nach Auschwitz und bezogen die Häuser der mittlerweile deportierten Polen und Juden. Beamte waren unter ihnen, auch Unternehmer. Das Gros der neuen Bewohner bildeten jedoch Arbeiter und Angestellte der IG Farben-Werke. Die meisten stammten aus Städten, in denen der Konzern seine Stammwerke unterhielt: Ludwigshafen, Hüls, Leuna und Frankfurt am Main." Zum Vergleich: Zu Beginn des Krieges habe die Stadt 14 000 Einwohner gehabt.

"Dieser Ausbruch der Bürgersöhne und -töchter aus den ihnen vorgegenenen Lebensentwürfen und Karrierebahnen lässt sich allerdings nur aus einer fundamentalen Misstrauenserklärung gegenüber Staat und Gesellschaft begreifen", erklärt der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung anlässlich der Berliner RAF-Ausstellung die Tatsache, dass die meisten Mitglieder der Organisation aus dem Bürgertum stammten.

Andere Themen:Franziska Augstein hat prominente Zeitzeugen wie Ivan Nagel oder Ernst Benda befragt, ob die Reichsdeutschen ab 1941gewusst haben könnten, dass sich die Verfolgung der Juden nicht in Enteignung und Umsiedelung erschöpfte - Ergebnis: Sie hätten es wissen können. Johan Schloemann begrüßt die durch das Karlsruher Urteil geschaffene Möglichkeit für die Bundesländer, an Universitäten Studiengebüren zu erheben, als reizvollen Versuch, in Verknüpfung mit der leistungsabhängigen Komponente des neuen akademischen Besoldungsrechts "die Jury der Studenten in der Massenuniversität aus ihrer Indifferenz gegenüber der Institution herauszuziehen." Hennig Klüver übermittelt aus Venedig Einzelheiten, wie die dortige Spielbankgesellschaft und ein millionenschwerer privater Sammler mit dem gegenwärtigen Eigentümer Fiat um das traditionsreiche Ausstellungshaus Palazzo Grassi feilscht. "skoh" leidet an den Bauten von Friedensreich Hundertwasser und ihrer verquasten Roncalli-Ästhetik - besonders schlimm, der Hundertwasserbahnhof in Uelzen.

Besprochen werden Jorinde Dröses Inszenierung von Marieluise Fleißers Stück "Fegefeuer in Ingolstadt" am Münchner Volkstheater, eine Carl-Theodor-Dreyer-Retrospektive im Münchner Filmmuseum, Jean-Pierre Jeunets Film "Mathilde" (der in einem Interview darüber spricht, dass es in Frankreichs Filmindustrie Leute gibt, die seinen Film für einen amerikanischen Film halten, weil er mit amerikanischem Geld produziert worden ist und er Chirac um Hilfe bitten musste, damit sein Film für den fanzösischen Filmpreis "Cesar" nominiert werden konnte), Maren Ades Fim "Der Wald vor lauter Bäumen" (mehr hier) und Bücher, darunter eine Chronik der letzten Tage des Ghettos von Lodz vor seiner Vernichtung (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 27.01.2005

"Sechzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz rücken die dort und anderswo begangenen Verbrechen unwiderruflich in den Bereich des Historischen, des Gewesenen," schreibt der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik (mehr hier) auf der Tagesthemenseite. "Mit der Einweihung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin wird dieser Umstand symbolisch und öffentlich im Herzen der Hauptstadt besiegelt. Mit der Zahl 'sechzig' - sechzig Jahre nach den letzten Mordtaten - scheint zudem eine Epochenschwelle markiert, hinter der die nun wirklich zur Geschichte gewordene Vergangenheit beginnt. Beginnt diesseits der Epochenschwelle für Deutschland und die Deutschen eine neue Zeit, in der sie in Frieden mit sich und ihrer Vergangenheit leben können? In einer attischen Tragödie, den von Euripides Ende des fünften Jahrhunderts vorchristlicher Zeitrechnung verfassten 'Erinnyen', werden die ob der Verbrechen der Atriden unversöhnten Rachegöttinnen - sie präsentieren das schreiende Blut von Ermordeten - am Ende in einem feierlichen Zug zur Akropolis geleitet, um fortan der Stadt Frieden zu stiften und Schutz zu geben. Ist es dieses Vorbild, dem das Mahnmal folgt? Indem die Ermordeten symbolisch eingemeindet werden und ihrem Grab in den Lüften ein steinerner Gegenpart errichtet wird, mahnen sie zugleich die Lebenden, aus ihrem schrecklichen Tod die richtigen Lehren zu ziehen: die Würde des Menschen kompromisslos zu schützen."

Von der Historisierung der RAF und ihrer Wirkungsgeschichte handelt ein Text von Ellen Blumenstein, die die Berliner RAF-Ausstellung mitkuratierte, die am Samstag eröffnet wird. "Mittlerweile haben sich drei Künstlergenerationen mit dem Thema RAF auseinander gesetzt... Bis heute zeigt sich die Wirkungsgeschichte der RAF als eine Vielzahl von identifikatorischen Kurzschlüssen, deren Magnetismus in den künstlerischen Arbeiten auf unterschiedlichste Art gebrochen, isoliert, übersteigert und reflektiert wird, ohne sich den Ansprüchen historischer Wahrheit aussetzen zu müssen."

Andere Themen: Claudia Lenssen hat Maren Ade und ihre Hauptdarstellerin Eva Löbau zu ihrem Film "Der Wald vor lauter Bäumen"  befragt.

Besprochen werden Helmut Dietls Film "Vom Suchen und Finden der Liebe", Tim Blake Nelsons Film "Grauzone" (mehr hier) ("Offenbar ist das Konzentrationslager ein Schauplatz geworden, in dem sich das Kino mit aller Selbstverständlichkeit eingerichtet hat", gibt Anke Leweke zu Protokoll) und eine Inszenierung des lettischen Regiestars Alvis Hermanis von Vladimir Sorokins Roman "Das Eis" am Schauspiel Frankfurt.

Und Tom.

Welt, 27.01.2005

Eckhard Fuhr unterhält sich mit dem Historiker Ulrich Herbert über die Wahrnehmung des Holocaust in der Geschichtswissenschaft nach dem Krieg. Der Historiker stellt dabei die überraschende These auf, dass die Studentenbewegung die Auseinandersetzung mit dem Judenmord eher verzögert hat: "Seit den späten fünfziger Jahren hatte die sogenannte Flakhelfer-Generation die Auseinandersetzung mit dem Massenmord eingefordert. Sie wollte wissen, was da eigentlich geschehen war und den Schleier des Beschweigens lüften. Der Protest der Jüngeren wurde davon noch beflügelt. Ende der sechziger Jahre hieß es dann aber, man dürfe nicht nur über Auschwitz reden, sondern müsse den Zusammenhang zwischen Faschismus und Kapitalismus herausarbeiten. Das hat die Auseinandersetzung mit dem historischen Geschehen lange behindert, wenn nicht verhindert."

Tagesspiegel, 27.01.2005

Peter von Becker spricht mit Imre Kertesz über Auschwitz: "Es ist für mich der zentrale negative Mythos. Obwohl ich mich im Alltag nicht dauernd mit dem Holocaust beschäftigen möchte, interessiert mich, was als ethische Konsequenz von Auschwitz für uns heute ausstrahlt. Das Erlebnis des Einzelnen, auch meine Erfahrungen, sind für sich genommen nur von anekdotischer Bedeutung. Auschwitz bedeutet als Menschheitserfahrung, dass dort alle humanen Werte zugrunde gegangen sind. Nach der Wende, nach dem Ende der zweiten großen totalitären Diktatur dachte ich für eine kurze Zeit, dass sich Auschwitz in einer neuen Weltordnung nie wiederholen könnte."

Außerdem berichtet Rüdiger Schaper, dass die Intendantenfindungskommission für das Deutsche Theater Bernd Wilms gefunden hat, der eines schon ist: Intendant am Deutschen Theater.

FAZ, 27.01.2005

Patrick Bahners ist unzufrieden mit der Ausstellung zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Deutschen Historischen Museum. "Von der Ablösung nationaler 'Meistererzählungen' ist die Rede, die überall von einem Volk handelten, das heroisch widerstand oder wenigstens ausharrte. Als eigene Meistererzählung bietet die Ausstellung die 'Universalisierung' des Gedenkens" an den Holocaust an. Doch schaffe die Ausstellung einen eigenen Mythos, für den Bahners vor allem den wissenschaftlichen Berater Etienne Francois verantwortlich macht. "Francois huldigt einem groben Konstruktivismus, wonach sich bis auf die kleine kritische Gruppe, die wahrscheinlich nur aus Wissenschaftlern besteht, sowieso jedermann die Geschichte bastelt, die ihm passt. Alles ist Mythos außer einer kritischen Historie, die beispielsweise herausgefunden hat, dass Stauffenberg Hitler gar nicht töten wollte. Oder wie soll man es sonst verstehen, wenn Francois unter den entlastenden Legenden der Deutschen 'die Verherrlichung der Männer des 20. Juli als echter Widerstandskämpfer' aufführt? In der Beiläufigkeit dieses wegwerfenden Urteils wird übrigens das Hegemoniale der Holocaust-Erinnerung fassbar: Unecht will der Widerstand erscheinen, weil man irgendwie zu wissen glaubt, dass auch die Männer des 20. Juli Massenmörder waren."

Lorenz Jäger kündigt eine sechzehnbändige Quellenedition zur "Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945". Herausgegeben werden soll sie in den nächsten acht Jahren von Ulrich Herbert (mehr hier und hier) und Götz Aly (mehr hier und hier), der "nicht nur einer der kompetentesten, sondern auch einer der kühlsten und vorurteilslosesten Erforscher der Vernichtungspolitik" ist. "Die Forschung steht damit vor einem neuen großen Schritt; erstmals wären die deutschen Quellen in ihrem ganzen Umfang zugänglich. Und es mag sein, dass hier und da aus diesen Quellen etwas hervorspringt, was den anvisierten Zeitrahmen 1933 bis 1945 sprengt und den Blick auf die Vorgeschichte der Vernichtungspolitik lenkt." Womit Jäger die Verbrechen der Sowjetunion in Osteuropa meint.

Die Auschwitzüberlebende Cordelia Edvardsen erklärt in einem kurzen Text: "Es gibt kein Entkommen aus dem Wüsten Land. Es geht nie vorbei. Niemals."

Weitere Artikel: Peter Stein hat sich in der Moskauer Zeitung Istwestija über das deutsche Theater beschwert: es "vernichte den Schauspieler". Andreas Rossmann findet das Papier von Jürgen Rütgers zur Kulturpolitik in NRW "phasenweise verstiegen". Hans-Martin Gauger gratuliert dem schwedischen Germanisten Gustav Korlen zum Neunzigsten. Alexandra Kemmerer berichtet über einen Vortrag des Philosophen Henning Ottmann in Würzburg, der Platon als Urahn der amerikanischen Neocons vorstellte. Bettina Erche macht uns mit der Victoria von Fossombrone bekannt, die im Kasseler Schloss Wilhelmshöhe zu sehen ist.

Auf der Filmseite beschreibt Bert Rebhandl die Welt der Ulrike Ottinger (homepage). Audrey Tautou spricht in einem kurzen Interview über ihre Rolle in Jeunets "Mathilde". Und Hans-Jörg Rother berichtet über elf Arbeiten junger Regieanwärter aus Riga, die im Berliner Arsenal-Kino vorgestellt wurden.

Auf der letzten Seite lesen wir die Laudatio, die Michael Maar bei der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises an Robert Gernhardt hielt. Gina Thomas porträtiert die Schriftstellerin Andrea Levy, die für ihren Roman "Small Islands" mit dem Whitbread-Preis ausgezeichnet wurde. Und Katja Gelinsky berichtet, dass die Amerikaner über die lebenslängliche Amtszeit der Obersten Richter debattieren.

Besprochen werden Jean-Pierre Jeunets Film "Mathilde - Eine große Liebe" und eine Ausstellung über das Verhältnis von Kunst und Design im New Yorker Cooper Hewitt Museum.

In einer halbseitigen Anzeige fordern zahlreiche Intellektuelle und Künstler die Schließung der Flick Kollektion. Mehr dazu auf der Website der Unterzeichner.