Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.12.2004. Die Debatten um Islam und Integration gehen weiter: In der taz erklärt der französische Soziologe Olivier Roy, worin der Charme des Islamismus für moslemische Jugendliche im Westen besteht. In der Welt fordert Zafer Senocak leidenschaftlich eine Modernisierung des Islam. In der Berliner Zeitung will Hussein Al-Mozany die Debatten um Integration und Islam entflechten. Die FR feiert Hebbels "Nibelungen" in München als Theatergroßereignis der Saison. Die SZ bringt ein Dossier zur jüngsten Pisa-Studie.

TAZ, 07.12.2004

Der französische Sozialwissenschaftler Olivier Roy erklärt Dorothea Hahn in der zweiten taz, warum sich junge Muslime in Europa dem Fundamentalismus zuwenden. Sie haben keine andere Kultur zur Auswahl. "Sie sind dekulturiert gegenüber der Herkunftskultur und nicht integriert in die Kultur des Landes, in das sie emigriert sind. Der Fundamentalismus liefert ihnen dafür eine Rechtfertigung. Der Prediger sagt ihnen: Du hast den Islam deines Großvaters verloren? Umso besser! Das ist ein schlechter Islam! Du fühlst dich nicht westlich? Du bist Muslim! Du fühlst dich nicht marokkanisch? Deine Identität ist global! Du bist kein Holländer, kein Marokkaner, kein Franzose! Dieser Islam gibt ihnen eine globale Wesenheit. Sie sind in einer virtuellen Welt."

Ebenfalls in der zweiten taz erfährt Philip Gessler vom suspendierten Priester Gotthold Hasenhüttl, dass er das Abendmahl sofort wieder an Nichtkatholiken geben würde. Bernd Pötter spielt mit dem Potsdamer Klimaforscher Klaus Eisenack das Brettspiel zur Klimaerwärmung, das dieser erfunden hat. Pötter ist es auch, der über Grenzwerte beim Spekulatiusgenuss bis zum Wertekonsum nachdenkt. Auf der Medienseite solidarisiert sich Hannah Pilarczyk mit freien Mitarbeitern des RBB, die ohne Angabe von Gründen "geschasst" wurden.

Im Gespräch mit Ralph Bollmann warnt der Historiker Heinrich August Winkler auf der Tagesthemenseite vor einem "Europa bis zum Euphrat" und damit vor einem Beitritt der Türkei. "Ein Europa unter Einschluss der Türkei wäre ein Koloss auf tönernen Füßen. Es könnte sich nicht mehr auf ein gemeinsames Wir-Gefühl berufen, das eine unverzichtbare Ressource aller demokratischen Ordnungen ist."

Im Kulturteil stellt sich Brigitte Werneburg auf der Messe Art Basel/Miami Beach die grundsätzliche Frage, wer in Zukunft das Sagen haben sollte im Kunstbetrieb: die öffentlichen Sammler oder die immer einflussreicher - da kapitalstärker - werdenden privaten Kollektoren. In der Theoriekolumne erörtert Isolde Charim, wie die Idee des Multikulturalismus an Boden verliert und die "Dosis Intoleranz", wie Slavoj Zizek sie fordert, zumindest in polizeistaatlicher Hinsicht Wirklichkeit zu werden scheint.

Die Besprechungen widmen sich Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Hebbels "Nibelungen" an den Münchner Kammerspielen, "eine wundersame Mischung aus klugem Witz und Bedenkenlosigkeit" und einer Neuübersetzung des Kamasutra, die die aktive Rolle der Frau herausstellt.

Und Tom.

Welt, 07.12.2004

Der in Berlin lebende türkische Autor Zafer Senocak denkt in einem leidenschaftlichen Text über die Krise des Islams nach und fordert einen "radikalen Bruch mit der Tradition und ihren erstarrten Methoden und Sichtweisen. Fragen sind zu stellen an das Menschenbild, das von dieser Tradition überliefert wird, an das Verhältnis der Geschlechter, an das Verhältnis zu Andersgläubigen. Gemäß der islamischen Gesetzgebung, der Scharia, haben Atheisten in der islamischen Welt kein Lebensrecht. Muslimen, die ihre Religion aufgeben, droht die Todesstrafe. Mit solchen Sanktionen stellt sich jeder Glaube, jede Ideologie ins Abseits der menschlichen Zivilisation."

FR, 07.12.2004

Die neueste Nachricht vorweg: Der britische Videokünstler Jeremy Deller hat den Turner-Prize 2004 erhalten.

Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Hebbels "Nibelungen" an den Münchner Kammerspielen ist für Peter Michalzik das "Theatergroßereignis der Saison". Und ein gelungenes dazu. Schauspieler wie Regisseur erhalten uneingeschränktes Lob aus Frankfurt für den "tiefen Nibelungenzug" in München."Wie sich eine Botschaft, eine Amsel, eine Prinzenrolle und eine Trompete miteinander verdrillen, wie sich Mensch und Krawatte ineinander verwickeln, das ist wie die dazu gehörende Wortkette, 'ich hab sie selbst gewirkt' - 'jetzt wirkt's' - 'jetzt würgt's'. Klar ist das Klamauk, aber in diesem deutschen Fall macht Klamauk nicht nur frei, sondern sehr viel Sinn. Es ist Kriegenburgs Art, mit diesem Text zu kämpfen, Variationen über das deutsche Thema, aus dem dann das Ringen der Nibelungen erwächst."

Weitere Artikel: "Die Truppe laviert zwischen braven "Helfern, Rettern und Schützern" und blitzblanken High-Tech-Phantasien", schreibt der Zeithistoriker Klaus Naumann zu dem jüngsten Folterskandal in der Bundeswehr und meint damit, dass die Verunsicherung der Gesellschaft auch dort längst angekommen ist. Katrin Hildebrand hat vom Präsident der Internationalen Vereinigung für Kinder- und Jugendtheater bei einer Rede erfahren, wie schlecht es um das deutsche Jugendtheater bestellt ist. Gemeldet wird, dass der Orchestermanager Ernest Fleischmann heute achtzig Jahre alt wird. In Times mager reflektiert Frank Keil sein Vaterdasein. Auf der Medienseite wirft Ingrid Müller-Münch einen Blick auf die Spezies der Gerichtsreporter wie Peggy Parnass, Gerhard Mauz und Gisela Friedrichsen.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten der asiatischen Periode von Andre Masson in der "Galerie" Frankfurt, Dale Duesings Inszenierung von Rossinis Oper "Il viaggio a Reims" an der Oper Frankfurt "als mild verrücktes Insel-Stück mit eisenbahnerischem Tempo" sowie Josef Joraschecks Sammlung von Architekturskizzen im Museum für Kommunikation.

NZZ, 07.12.2004

61 Millionen Euro hat der Umbau der Mailänder Scala gekostet - Roman Hollenstein findet das gut angelegtes Geld. Er lobpreist die Arbeit des Architekten Mario Botta, der dem Opernhaus eine Art Ufo verpasst habe, das ähnlich wie in "Independence Day" über dem klassizistischen Bau throne. "Dieser elliptische Schwebekörper mit den vertikalen Sonnenblenden und der benachbarte Steinkubus des Bühnenturms stehen in einem spannungsvollen Dialog mit dem klassizistischen Musentempel. Die doppelte Bekrönung der Scala mit der für Botta typischen Abstraktion bringt nicht nur Piermarinis Meisterwerk ganz neu zum Klingen, sondern nimmt ihm auch viel von seiner lombardisch unterkühlten Vornehmheit."

Marc Zitzmann berichtet über einen, wie er meint, unoriginellen Fall von Nestbeschmutzung, der sich im Rahmen eines von Thomas Hirschhorn konzipierten Events am Centre Culturel Suisse in Paris ereignet: In einer Aufführung des Wilhelm Tell tun die Schauspieler so, "als erbrächen sie sich in eine Abstimmungsurne respektive als urinierten sie gegen ein Foto von Christoph Blocher". Politiker sind empört. Eigentlich sei die den Event finanzierende Kulturstiftung "Pro Helvetia" dazu da, Werbung für die Schweiz zu machen.

Besprechungen gelten einer "Entdramatisierung" des "Homo faber" in Zürich, einer Berner Inszenierung des "Onkel Wanja" von Tschechow, einer "Tristan und Isolde"-Aufführung in Hannover, einem Gastspiel des Quartetto David di Milano in Zürich und Büchern, darunter einem bewegenden Bildband mit Porträts aus afrikanischen Krisenregionen und einem Freud-Buch von Edward Said (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 07.12.2004

Die Pisa-Studie ist das Thema des Tages. In vier Artikeln auf der ersten Seite zweifelt die SZ an allem. Jens Bisky zweifelt an der allgemeinen Testversessenheit. "Einen Test kann man mit hoher Punktzahl bestehen und doch borniert und blöde sein." Johan Schloeman zweifelt daran, ob die Selektion der Besten und die Integration der Schwächeren gleichzeitig und reibungslos gelingen kann. Wolfram Meyerhöfer, Mathematikdidaktiker der Universität Potsdam, zweifelt an der Relevanz der Ergebnisse. Und findet sie "höchstens in voyeuristischem Sinne interessant und noch keine Erkenntnis". Thomas Steinfeld zweifelt, ob Pisa etwas mit Bildung zu tun hat.

Weitere Artikel: Michael Frank schildert die ambitionierte Theaterreform, die sich Wien aufgelegt hat. Künftig soll nach Konzept, Idee und Innovationskraft bezuschusst werden. "Wenn alles funktioniert, würde das Vergabewesen der in Wien so geschmierten Spezlwirtschaft entrissen." In der Zwischenzeit-Kolumne flaniert Claus Heinrich-Meyer von Totem-Tierchen zu "Mindfucking". Alexander Kissler glaubt nicht, dass das nun angerufene Bundesverfassungsgericht die Union progressiver Juden von den staatlichen Fördermitteln ausschließen wird, wie das der Zentralverband der Juden in Deutschland fordert. Nicht viel Neues hat Stefan Gmünder vom weitgereisten Reporter Ryszard Kapuscinski gehört, als der in Wien über "Die Anderen" referierte.

Abwarten, bis wirklich alles fertig ist, rät Henning Klüver in Bezug auf die wiedereröffnete und erweiterte Mailänder Scala. Christiane Schlötzer berichtet, dass das neue armenische Museum in Istanbul die heiklen Fragen von Genozid und Vertreibung nicht dokumentiert. Auf der Literaturseite besucht Helmut Böttiger die Beiruter Buchmesse, wo es erstmals Gelegenheit gab, den arabischen Auftritt auf der Frankfurter Buchmesse zu bilanzieren. Und auf der Medienseite sorgt sich Hans-Jürgen Jakobs zusammen mit dem Deutschen Presserat über die Zunahme an Schleichwerbung.

Besprochen werden die neueröffnete Dauerausstellung im Schwulen Museum Berlin, eine Schau zur Frage, ob reine Inhaltskunst möglich ist, im Hamburger Kunstverein, Joachim Schlömers Version von Wagners "Tristan und Isolde" an der Staatsoper Hannover, Prue Langs Tanzstück "Fiftyfourville" im Frankfurter Mousonturm, und Bücher, darunter Axel Bertrams "einmalig wunderbare" Darstellung der Schriftkunst "Das wohltemperierte Alphabet", Evelyne Bloch-Danos Biografie von Madam Proust sowie Keiji Nakazawas Comic "Barfuß durch Hiroshima" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 07.12.2004

Der irakische Autor Hussein Al-Mozany plädiert für eine Trennung der Debatten um die Integration und um den Islam: "Was den Konflikt mit dem Islam anlangt, ist die bisher geführte Auseinandersetzung höchst mangelhaft, denn dieser Konflikt schwelt schon seit der Entstehung des Islams und hat ganz andere Ursachen als die erst vor wenigen Jahrzehnten entstandene Ausländerproblematik."
Stichwörter: Integration, Islam

FAZ, 07.12.2004

Edo Reents besucht im Aufmacher mehrere Hauptschulen in Hessen und Heidelberg und würdigt ihre oft verkannte Arbeit. In der Leitglosse warnt Christian Schwägerl alle Inhaber einer Greencard für die USA: Auch wer noch nicht eingebürgert ist, könnte in die Armee eingezogen werden, falls weitere Auslandseinsätze einen erhöhten Personalbedarf nach sich zögen. Hubert Spiegel stellt den Debütroman "Vienna" der Autorin Eva Menasse vor, der in der FAZ vorabgedruckt wird (und zu einer längeren Beurlaubung der von uns stark vermissten Wiener Kulturkorrespondentin dieser Zeitung führte). Zhou Derong prangert die "Aids-Lobby" an, die die Gefahren der Krankheit in China übertreibe und zur Verdrängung viel wichtigerer Todesursachen wie etwa Lungenkrebs beitrage. Andreas Rosenfelder würdigt die Arbeit des freidenkerischen "Humanistischen Verbands Deutschland", der große Erfolge mit seiner ins Netz gestellten Patientenverfügung feiert.

Auf der Medienseite wird gemeldet, dass der Vertrag für die neue Harald-Schmidt-Show in der ARD durchaus noch umstritten ist.

Auf der letzten Seite besucht Verena Lueken das Goethe-Institut in Melbourne, wo gerade an einen denkwürdigen Auftritt Egon Erwin Kischs vor dortigen Antifaschisten erinnert wird. Jürg Altwegg notiert, dass der Jahrestag der Selbstkrönung Napoleons vor 200 Jahren in Frankreich recht halbherzig begangen wurde. Und Hussein Al-Mozany schreibt eine kleine Hommage auf den irakischen Lyriker Fadhil Al-Azzawi, der unter anderem Musils "Mann ohne Eigenschaften" ins Arabische übersetzte.

Besprochen werden eine Ausstellung über "Goethe und Schiller für Kinder" im Frankfurter Goethe-Haus, Rossinis Oper "Il viaggio a Reims" in Frankfurt, ein Auftritt der Band The Roots in Berlin, eine "Homo Faber"-Dramatisierung in Zürich und Hebbels "Nibelungen" in München.