Magazinrundschau

Eine Art Pirat

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
13.04.2021. In Krytyka erklärt der ukrainische Autor Mykola Riabchuk, warum er immer noch in Europa lebt und nicht in Eurasien, wie es die EU gern hättte. Le Monde diplo berichtet von den cinq coléreuses, den fünf wütenden Tagen einer Jugendrevolte im Senegal. Tablet betrachtet die illustren Gäste aus dem Nahen und Fernen Osten, die 1943 ein Außenlager des KZ-Sachsenhausen besichtigten. En attendant Nadeau liest die Briefe des syrischen Oppositionellen Yassin Al Haj Saleh an seine Frau. In epd film skizziert Georg Seeßlen ein neues Kino nach Corona.

Krytyka (Ukraine), 06.04.2021

Orientalismus gibt es nicht nur gegenüber den Völkern Nordafrikas und Asiens, sondern auch Osteuropa gegenüber, stellt (auf Englisch bei Eurozine) der ukrainische Autor Mykola Riabchuk fest, noch immer empört von einer tschechischen Journalistin, die ihn 2014, kurz nach dem Fall Janukowitschs fragte, ob die Ereignisse in Kiew eine Revolution seien oder ein Staatsstreich. Wie das denn bei ihnen 1989 gewesen sei, schoss Riabchuk zurück. Milan Kundera erfand 1983 extra den Begriff "Ostmitteleuropa" oder "Zentralosteuropa", um Tschechien und seine Nachbarn in den Kreis des Westens zu rücken und damit die Spaltung von West- und Osteuropa zu vertiefen. Dies mag mit daran schuld sein, dass das Interesse im Westen an den Ereignissen in Moldavien, der Ukraine und Weißrussland so gering ist - die liegen jetzt auch in Eurasien, "wie die EU in all ihren Dokumenten" den Einflussbereich Russlands umschreibt. "Heute, da alle nicht-sowjetischen Länder des ehemaligen kommunistischen Blocks entweder in die EU aufgenommen oder auf einen festen Weg in Richtung Mitgliedschaft gebracht wurden, wurde der exklusivistische Aspekt des Konzepts von 'Mitteleuropa' vorherrschend. Er wird mit besonderer Schärfe und Frustration in dem 'falschen', postsowjetischen Teil Osteuropas empfunden, der programmatisch außerhalb aller Prozesse der EU-Erweiterung belassen wurde. ... Ganz im Sinne der 'Philosophischen Geografie' Kunderas stellt die EU klar, dass die Einstufung eines Landes als 'europäisch' einer 'politischen Bewertung unterliegt'. Das erlaubt ihr, die Ukraine, Weißrussland und Moldawien willkürlich in einen obskuren 'eurasischen' Raum zu verweisen und sie in allen EU-Dokumenten euphemistisch als 'Partnerstaaten' oder 'Nachbarstaaten', aber niemals als 'europäisch' zu definieren. 'Eurasien' erscheint hier als diskursiver Zwilling oder vielmehr Antipode von 'Mitteleuropa' - während Letzteres dazu dient, die europäischen Referenzen des 'guten' Teils Osteuropas aufzuwerten, dient Ersteres dazu, jegliche Ansprüche des 'schlechten' Teils Osteuropas auf europäische Ansprüche abzuweisen."
Archiv: Krytyka

Elet es Irodalom (Ungarn), 09.04.2021

Der Soziologe Péter Bodor (Universität ELTE Budapest) kritisiert scharf die Umwandlung der ungarischen Universitäten in private Stiftungen mit Kuratoriumsmitgliedern, die aus der Regierungspartei Fidesz kommen oder ihr geschäftlich nahe stehen: "In diesen Monaten werden den ungarischen Universitäten von außen neue Regularien aufgezwungen, für die sich nicht die Bürger der Universitäten, also nicht die Hörer, die Professoren und der akademische Mittelbau entschieden haben. Es steht außer Zweifel, dass diese Regularien das Funktionieren der Institutionen, ihr Alltagsleben und ihre Mikrosoziologie verändern werden. Die Erfinder und Überwacher der Regularien sind keine Vertreter der Bürger der Universitäten, sie sind ihnen keine Rechenschaft schuldig. Grundlage ihrer Macht ist nicht die Wahl und die Verantwortung, sondern die Spende und die Loyalität zum Orban-System (...). Es entstehen so streng kontrollierte Universitäten: Orte, an denen nicht die ausgewogene Dynamik der Innovation und Tradition, nicht die Dialektik der Disziplin und der Kreativität, nicht die aus dem Spiel des Nützlichen und Nutzlosem entstehende Fruchtbarkeit, nicht die Vereinigung von Würde und Verdienst im Vordergrund stehen, sondern Disziplin, Kontrolle und Ergebenheit."

Magyar Narancs (Ungarn), 09.04.2021

Der Regisseur und Kritiker Attila Janisch wartet derweil gespannt darauf, wie sich die Schauspieluni (SZFE) unter den neuen Herren schlagen wird: "Ungefähr in 2024 werden die Ergebnisse messbar sein, denn die Abschlussarbeiten der Studenten der ab September startenden neuen Klassen werden dann veröffentlicht. (...) Die mit politischem Rückenwind kreierte neue SZFA hat noch nichts bewiesen, während die autonome SZFE in den letzten Jahrzehnten mehrfach unter Beweis gestellt hat, dass sie ihren Studenten eine Ausbildung auf Weltniveau bieten konnte. Die neue Führung der SZFA soll dies nun aus eigener Kraft ebenfalls beweisen."
Archiv: Magyar Narancs

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 09.04.2021

Fünf Tage lang erschütterten im März Jugendrevolten den Senegal, berichtet Ndongo Samba Sylla: Les cinq coléreuses, die fünf Wütenden, richteten sich gegen die Verhaftung des populären Oppositionspolitikers Ousmane Sonko, dem eine junge Frau Vergewaltigung vorgeworfen hatte, was seine Anhänger als politisches Manöver ansehen: "Die 15- bis 24-Jährigen bildeten nicht zufällig die Speerspitze dieses Aufstands gegen eine Regierung, die zunehmend diktatorische Züge annimmt und, wie etwa der Schriftsteller Boubacar Boris Diop beklagt, die Judikative instrumentalisiert. 40 Prozent der Jugendlichen hatten 2017 weder einen Arbeits- noch Ausbildungs- oder Studienplatz, und dieser Anteil dürfte während der Pandemie noch gestiegen sein. Fast die Hälfte der Kinder im schulpflichtigen Alter geht nicht zur Schule. In einigen armen Regionen erreicht dieser Anteil sogar bis zu 70 Prozent. Bildungspolitisch haben die wechselnden Regierungen allesamt versagt. Um von ihren Versäumnissen abzulenken, werfen die Verantwortlichen den jungen Leuten mangelnde 'Beschäftigungsfähigkeit' vor und wiederholen gebetsmühlenartig, es sei nicht Aufgabe der Regierung, Arbeitsplätze zu schaffen. Doch Arbeitslosigkeit kann nur beseitigt werden, wenn der Staat seiner Fürsorgepflicht nachkommt und den Arbeitswilligen eine Beschäftigung durch die Schaffung von Ausbildungsplätzen garantiert."

Weiteres: Stefano Palombarini beobachtet mit Grausen, wie mit Mario Draghi der Neoliberalismus in die italienische Politik zurückkehrt: "Unter dem Vorwand, den digitalen und ökologischen Wandel vorantreiben zu wollen, stellt die Regierung die Weichen für eine tiefgreifende Reform des italienischen Kapitalismus." Daniel Hellinger geißelt, dass Venezuela jetzt doch Verträge mit internationalen Ölkonzernen abschließt. Fernando Molina rekapituliert, wie Bolivien mit dem Staatsstreich von 2019 an den Rand des Bürgerkriegs geriet und nun aus dem lawfare nicht mehr herauskommt.

Tablet (USA), 07.04.2021

Illustration aus Tablet.

Auch dies ist "multidirektionale Erinnerung"! Der antikoloniale Befreiungskampf, so stellt sich in diesem Artikel des Historikers Wolfgang G. Schwanitz heraus, hat eine lange Tradition, die manchmal allerdings auch "per se" antisemitisch ist. Schwanitz ist es gelungen herauszufinden, welche Staatsgäste im Jahr 1943 ein Außenlager des KZ-Sachsenhausen besuchten. Die Fotos waren erst 2017 aufgetaucht. Und es handelt sich um eine hochrangige Delegation, die da von einem gewissen Martin Luther, einem Mitorganisator der Wannsee-Konferenz, herumgeführt wird. Zu den Gästen gehörten der indische Freiheitskämpfer Subhas Chandra Bose, der kroatische Ustascha-Ideologe Mile Budak, der irakische Premierminister Ali al-Kailani und vor allem Amin al-Husseini, der Mufti von Jerusalem und wichtigste Repräsentant der Palästinenser vor Arafat. Das Foto ist laut Schwanitz ein weiterer Beweis, dass al-Hussaini in den Holocaust eingeweiht und eingebunden war. Eines seiner wichtigsten Ziele war die Arabien-Erklärung von Berlin und Rom. "Diese Erklärung war seit Mitte 1940 herangereift. Ihr Paragraph 7 sah vor, dass Berlin und Rom ein jüdisches Heimatland in Palästina für illegal erklären würden. Außerdem würden sie das Recht der Araber, einschließlich derer in Palästina, anerkennen, die Frage der jüdischen Bevölkerung dort 'im arabischen nationalen Interesse und in der gleichen Weise zu lösen, wie die Frage in den Achsenländern gelöst worden ist.'"
Archiv: Tablet

En attendant Nadeau (Frankreich), 07.04.2021

Catherine Coquios Artikel über Yassin Al Haj Salehs "Briefe an Samira" liest sich ungeheuer düster und aufregend zugleich. Al Haj Saleh ist auch in Deutschland kein Unbekannter, bei Matthes und Seitz erschien ein kleiner Essayband von ihm. Coquio beschreibt ihn als einen syrischen Oppositionellen, der in den langen Jahren in Assads Gefängnissen vom Kommunismus abfiel. Er lebt im Exil, hat einige Jahre am Wissenschaftskolleg in Berlin geforscht und ist eine der wichtigsten Stimmen der demokratischen syrischen Opposition (hier seine Website). In Frankreich sind nun seine Briefe an seine Frau veröffentlicht worden. Samira Al Khalil gehörte zu einer Gruppe von MenschenrechtsaktivistInnen, die Verbrechen aller beteiligten Kriegsparteien dokumentierte. Prominenteste Vertreterin dieser Gruppe war Razan Zaitouneh, die nach 2011 eines der bekanntesten Gesichter des gewaltfreien syrischen Widerstandes im Bürgerkrieg war. Zusammen mit zwei anderen Mitgliedern der Gruppe sind sie 2013 entführt worden - bis heute gibt es keine Spur von ihnen. "Im ersten seiner 15 Briefe, die er in den Jahren 2017 bis 19 geschrieben hat, ruft der Autor diese Fakten und seine vergeblichen Recherchen dazu in Erinnerung. Er kommt auf seine 'Naivität' und ihre 'Irrtümer' zurück, vor allem den Irrtum, die Gefahr und den Zustand der Auflösung, in dem sich die Opposition befand, ermessen zu haben, oder den Opportunismus ihrer offiziellen Repräsentanten und die Verletzlichkeit der nicht Organisierten, die sie als parteilose demokratische Aktivisten waren. Dieser Vorwurf an die eigene Adresse quält ihn, denn die mangelnde Vorsicht hatte ihn veranlasst, Duma bei Aleppo zu verlassen und nach Rakka zu reisen und Samira bei Razan Zaitouneh zu lassen, die durch ihre Arbeit und ihr freies Auftreten so exponiert war."

En attendant Nadeau präsentiert ein kleines Dossier zu syrischer Literatur, das auch deutsche Verlage anregen könnte. Rashed Issa schreibt über literarische Zeugenberichte aus Assads Gefängnissen. Mahmoud El Hajj stellt einen in Frankreich erschienen Band über syrische Kunst vor.

Merkur (Deutschland), 12.04.2021

Algorithmen basieren heute nicht mehr auf Regeln, sondern auf Mustern, erklärt Paola Lopez in einem lesenswerten Artikel über künstliche Lernsysteme. Seit Übersetzungsprogramme nicht mehr auf Grammatik basieren, sondern auf Unmengen von beispielhaften Daten, sind sie viel besser geworden. Problematisch werden Algorithmen jedoch, wenn sie von der faktischen Vergangenheit normativ auf die Zukunft schließen: Wo einmal ein Erdbeben stattgefunden, wird wahrscheinlich wieder eines stattfinden, wer einmal im Gefängnis war, wird wieder dort landen. Für wessen Gesundheit bisher wenig Geld ausgegeben wurde, wird auch in Zukunft keins brauchen. Die österreichische Arbeitsvermittlung arbeitet mit einem Algorithmus, der die Chancen auf Wiederbeschäftigung einschätzt, um eine Entscheidungshilfe für Fördermaßnahmen zu geben: "Mit Ergebnissen wie diesen: Ein weiblicher Geschlechtseintrag wirkt sich negativ auf die Chancen aus, ein männlicher demgegenüber positiv. Was das Alter betrifft, werden die Chancen ab dreißig schon schlechter, ab fünfzig sieht die Sache noch problematischer aus. Negativ: eine nichtösterreichische oder gar eine Nicht-EU-Staatsangehörigkeit; ebenso: gesundheitliche Beeinträchtigungen oder Betreuungspflichten - Letztere allerdings nur bei Frauen. Das klingt alles nicht gut, ist aber noch nicht diskriminierend, zumindest wenn man es entlang des epistemischen Fundaments solcher Systeme betrachtet. Es handelt sich schlicht um eine statistische Analyse vergangener, gruppenbezogener Daten. Diese zeigt, dass der Arbeitsmarkt Menschen mit bestimmten Dateneinträgen strukturell besser behandelt als andere."

Weiteres: Jan-Werner Müller erkennt die Bedeutung des guten Verlierers in der Demokratie.
Archiv: Merkur

The Atlantic (USA), 12.04.2021

Der Politstratege Adam Jentleson befürchtet, dass in den USA das Mehrheitsprinzip in ernster Gefahr sein könnte und damit die Demokratie: "Der dazugehörige Teufelskreis besteht aus vier miteinander verschränkten Komponenten: Kandidaten, die weiße Konservative repräsentieren, in unserer ideologisch geordneten Ära also Republikaner, beginnen jeden Wahlzyklus mit Wählerunterdrückung und Manipulation, was ihnen den Sieg leichter macht. Dann unterstützen antidemokratische Strukturen des Systems, die es immer gab, die aber nie eine Partei systematisch die andere ausstechen halfen, den nämlichen Kandidaten, die Kontrolle über Institutionen wie das Weiße Haus und den Senat zu übernehmen, obwohl sie weniger Stimmen gewonnen haben und weniger Menschen vertreten als ihre Gegner. Sobald diese neu gewählten Beamten die Kontrolle über die Institutionen haben, nutzen sie sie, um ihre Macht außerhalb der Reichweite der Wähler zu verankern. Wenn sie schließlich abgewählt werden, behalten sie ein Veto über die Agenda der Mehrheit, mit dem sie Veränderungen blockieren und das konservative Narrativ nähren, dass die Regierung 'kaputt' sei. Das beschleunigt ihre Rückkehr an die Macht - genau auf dem Weg, den sie mit der Unterdrückung von Wählern vorbereitet haben. Der Nettoeffekt dieser Schicksalsschleife ist eine wachsende Divergenz zwischen der Agenda der Regierung und dem Willen der Regierten, eine unhaltbare Dynamik in jeder Demokratie. Da die demokratische Kontrolle des Kongresses an einer Handvoll Sitze hängt, könnten die nächsten zwei Jahre die letzte Chance des Landes sein, diesen Zyklus zu stoppen."
Archiv: The Atlantic

Respekt (Tschechien), 09.04.2021

Die tschechischen Filmemacher Ondřej Provazník und Martin Dušek wollten ihren Spielfilm "Staříci" (Die Alten), der auf einem vom Tschechischen Zentrum (eine Kultureinrichtung vergleichbar dem Institut Français) ausgerichteten Online-Festival in Budapest gezeigt werden soll, mit einem Videogruß versehen, in dem sie im Hintergrund "Ban Orban!" auf eine Tafel schreiben und den ungarischen Zuschauern ausrichten "Schaut, solange ihr noch dürft!" Die Leitung der Tschechischen Zentren (die dem Außenministerium unterstehen) habe diesen Videogruß jedoch verboten, wie Tomáš Brolík berichtet, da man offenbar aus diplomatischen Gründen eine Kritik an der ungarischen Regierung nicht zulassen wolle. Die Autoren, die sich freilich auf die Freiheit der Kunst berufen, haben daraufhin überlegt, ihren ganzen Filmbeitrag aus dem Festival zurückzuziehen. "Sie hätten noch angeboten, das Video mit einer Notiz zu versehen, dass ihre Meinung nicht die offizielle Haltung der Tschechischen Republik ausdrücke, aber auch das sei für das Ministerium keine akzeptable Variante gewesen." Im Moment werde dort überlegt, die entstehende Aufschrift "Ban Orban!" mit einem schwarzen Balken zu überblenden, womit Filmemacher Martin Dušek durchaus einverstanden sei: Für bizarre Absurditäten sei er immer zu haben, also auch für diese. (Das Video ist in den Artikel eingebettet)
Archiv: Respekt

Hakai (Kanada), 06.04.2021

Boyce Upholt überlegt in einem Beitrag des Magazins, ob uns möglicherweise die Meere ein Zufluchtsort sein könnten, wenn das Festland allzu unwirtlich geworden ist. Der Bitcoin-Händler und Mitbegründer von Ocean Builders Chad Elwartowski etwa plant gerade 20 High-Tech-Wohnpods für sein feuchtes Utopia. Allerdings wirft sein Projekt auch Fragen auf: "Rechtsexperten glauben, dass es keinen praktikablen Mechanismus gibt, durch den eine schwimmende Struktur zu einer anerkannten Nation werden könnte. Surabhi Ranganathan, Juraprofessor an der Universität Cambridge, erklärt die Herausforderungen: Die nationalen Gewässer eines Landes erstrecken sich 22 Kilometer über die Küste hinaus. Dann gibt es noch einen großen Bereich, in dem die Nation die wirtschaftlichen Ressourcen des Ozeans kontrolliert. Jenseits dieser Grenze, 200 Seemeilen (370 Kilometer) von der Küste entfernt, ist man tatsächlich frei von bestehenden Staaten, und jeder kann dort etwas bauen. Doch der Bau wird allerhand Probleme machen - es gibt keinen Ankerplatz, Lebensmittel sind weit weg - und außerdem wird man als eine Art Pirat behandelt, der durch internationale Verträge nicht geschützt ist. Viel sicherer als die Aufgabe der Staatlichkeit wäre es, sich einem Staat anzuschließen, mit dessen Gesetzen man einverstanden ist. Ein Schiff ist wie ein schwimmendes Stück der Nation, dessen Flagge es führt. Deshalb wählen Kreuzfahrtschiffe und Fischereifahrzeuge 'Flaggen der Wahl' und registrieren sich in Ländern, in denen laxe Vorschriften maximalen Gewinng ermöglichen. 2017 hat das Seasteading Institute eine gewinnorientierte Schwesterfirma namens Blue Frontiers ausgegliedert, die darauf abzielte, diese Strategie weiter zu verfolgen: In Französisch-Polynesien sollte eine schwimmende Insel von einem Hektar gebaut werden. Die Gründer des Unternehmens wollten, dass die Insel zur Sonderwirtschaftszone erklärt wird. Als Gegenleistung für Arbeitsplätze und sonstige Vorteile, die die neue Insel für Französisch-Polynesien einbringen könnte, hofften sie, einen Steuersatz von null Prozent auszuhandeln."
Archiv: Hakai

epd Film (Deutschland), 26.03.2021

Schon vor der Pandemie lebte das Kino im Grunde in einem Modus stillschweigender Realitätsverweigerung, könnte man die Ausgangslage von Georg Seeßlens epdFilm-Essay "Manifest: Für ein Kino nach Corona" bündig zusammenfassen: Akribisch weist der Filmkritiker nach, in welchen Widersprüchen, Krisen, Überformungen und Determinanten sich das Kino schon vor der Pandemie befand - und welche durch die Coronakrise nun noch schlagartig verstärkt wurden. Selbst wenn es irgendwann Impfstoff aufs Publikum regnet, "eine Rückkehr zur Normalität nach der Krise wird es nicht geben, schon weil diese Normalität vor der Krise längst nur noch als Retromanie und konservatives Beharren zu haben war, sozusagen im kuschligen Gefühl, in unserem Kino sei die Filmwelt noch in Ordnung, mögen da draußen auch Copyright-Kriege, Monopolisierung und mediale Uberisierung herrschen." Er schlägt stattdessen eine Art Kino-Guerilla vor: wendig, mobil, experimentell, urwüchsig. "Das Kino wird von einem Abspielort mit angeschlossener Gastronomie zu einem multimedialen Experimentierraum, in dem alles möglich sein soll, was mit audiovisueller Gestaltung zu tun hat. Im Wesentlichen ist es immer ein Live-Erlebnis. Dieses Kino und die dazugehörigen Filmereignisse müssen Teil der Rückeroberung des öffentlichen Raums für die Kultur sein. Vielleicht muss das Kino dringend 'kleiner' werden, auch um wieder regionale und urbane 'Identität' zu erzeugen; zugleich muss es aber auch nach draußen gehen, sich neue Räume und Möglichkeiten erobern, nomadisch dorthin gelangen, wo Institution nicht mehr oder noch nicht präsent sein kann. Ein Kino, das nicht auf Publikum wartet, sondern es sucht."
Archiv: epd Film