Magazinrundschau
Wir verlieren da gerade etwas
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
New York Review of Books (USA), 07.06.2018

Sehr eingehend setzt sich der Romancier und Essayist Darryl Pinckney (Autor unter anderem eines Romans mit dem Titel "Black Deutschland") mit den Essays Ta-Nehisi Coates' auseinander, die ja inzwischen auch auf Deutsch erschienen sind. Verdienstvoll unter anderem, dass er Coates in eine Traditionsline des "Afro Pessimism" einordnet, zu der er etwa Malxolm X oder Frantz Fanon zählt - Denker, die aus der Geschichte der Unterdrückung von Schwarzen die Konsequenz der Segregation ziehen. Ist es auch eine Generationenfrage? Cornell West, Doyen der schwarzen Intellektuellen in den USA, ist jedenfalls mit Coates aneinandergeraten, und Pinckney, selbst 65, stimmt ihm zu: "West hat recht, oder jedenfalls bin ich auf seiner Seite, ein anderer alter Knacker, der glaubt, dass Geschichte von Menschen gemacht wird. Afro-Pessimismus und seine Auffassung des Rückzugs als Transzendenz ist der 'white supremacy' genauso behaglich wie der einst von Booker T. Washington verfochtene Rückzug zur Selbsthilfe. Afro-Pessimismus bedroht niemanden, und das weiße Publikum verwechselt seine Zerknirschung mit einem Lernerfolg. Leider irren sich schwarze Menschen, die die Fantasie vom Fortschritt aufgegeben haben, wenn sie glauben, mit Weißen gleichzuziehen, die stets mit sich zufrieden sind, egal, wer die Wahlen gewinnt. In der 'black church' gibt es keinen Afro-Pessimimus. Eine der überzeugendsten Aktionen gegen Afro-Pessimimus kam von weißen Teenagern gegen Waffen, die sich in die 'March for Our Lives'-Demonstrationen mischten, um alle Jugendlichen einzubeziehen, die unter Gewaltkulturen leiden."
New Yorker (USA), 28.05.2018

Außerdem: Jeffrey Toobin überlegt, ob die Impeachment-Forderungen gegen Trump zum Bürgerkrieg führen könnten. Thomas Mallon vertieft sich in ein Buch über den Fotografen Weegee. Alex Ross hört Mahler mit Simon Rattle und dem London Symphony Orchestra. Und Hua Hsu staunt über die persönliche Sagenwelt des New Yorker Hip-Hoppers Rammellzee.
London Review of Books (UK), 24.05.2018
Am Freitag stimmen die Iren und Irinnen darüber ab, ob sie das rigide Abtreibungsverbot abschaffen wollen, das seit dem Referendum von 1982 Embryos und Föten ein nahezu bedingungsloses Recht auf Leben garantiert - auf Kosten des weiblichen Körpers. Die irische Schriftstellerin Sally Rooney sieht damals wie heute die gleiche Allianz aus irischen Konservativen und amerikanischen Fundamentalisten am Werk, die mit obsessiven Kampagnen die irische Heuchelei in ihrer ganzen Brutalität verteidigen: "Was auch immer am 15. Mai geschehen wird, weiterhin werden Tausende von irischen Frauen jedes Jahr Abtreibungen vornehmen lassen. Das Referendum von 1992 bestätigte das Recht schwangerer Frauen, für Abtreibungen ins Ausland zu reisen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass irgendein Politiker diesen Verfassungszusatz jemals in Frage gestellt hätte. Wenn aber Abtreibungsgegner wirklich glauben, dass ein Fötus eine Person wie jede andere ist, dann sollte doch ein konstitutionelles Recht inakzeptabel sein, das erlaubt, diese Person über die Grenze zu bringen, um sie dort zu töten. Doch die Abtreibungsgegner befürworten einhellig das Recht zu reisen. Der Zugang zu britischem Abtreibungsdiensten nimmt den Druck aus der Angelegenheit in Irland. Die meisten Frauen, die dazu gezwungen sind, kratzen das Geld für eine Fahrt nach Großbritannien zusammen. Die Ungerechtigkeit des achten Verfassungszusatzes bekommen vor allem diejenigen zu spüren, die unter besonders schweren Bedingungen leben: Arme Frauen, kranke Frauen, Migrantinnen ohne Visum."
Nach jedem Militärputsch konnten die Türkei auf die Rückkehr einer zivilen Regierung und demokratische Erleichterungen hoffen, aber nicht unter Erdogan, schreibt Ella George in einem ellenlange Feature zu den türkischen Verwerfungen. Das Land ist zutiefst traumatisiert, mehr als 100.000 Menschen wurden verhaftet, 150.000 aus ihrem Job geworfen, Milliarden an Vermögen eingezogen: "Die Kulturrevolution dieser Tage bedient sich kräftig der kemalistischen Strategie: Auch sie strebt nach der Einparteienherrschaft, diktiert neue Traditionen und steckt Oppositionelle ins Gefängnis. Wie Kemal will auch Erdogan die Macht des Staates vergrößern und zugleich die Institutionen transformieren. Aber während der Kemalismus viel von der sozialen Ordnung der Ottomanen beibehielt, repräsentiert die neue Türkei, die Erdogan in seiner Rede vom 24. August 2014 ankündigte, einen grundsätzlicheren Bruch. Eine Elite wird durch eine andere ausgetauscht, Eigentum wechselt seine Besitzer, für den öffentlichen Dienst werden neue Kader herangezogen, die Universitäten werden von einer Klasse von Intellektuellen gesäubert und durch loyalere Akteure ersetzt und Regime-freundliches Kapital erhält Zugang zu den staatlichen Pfründen. Die neue Türkei setzt die Uhren nicht auf den Zeitpunkt der Staatsgründung zurück, sondern ein Jahrhundert früher, vor der westlichen Modernisierung im 19. Jahrhundert. Sie lehnt nicht nur kemalistische Eliten ab, sondern auch ihre reformistischen Vorgänger im Ottomanischen Reich."
Weiteres: Tariq Ali spricht im Interview mit David Edgar über sein kommunistisches Leben, seine Zeitschrift Black Dwarf sowie die Kämpfe vor und nach 1968. Henry Siegman gibt Benjamin Netanjahu die Schuld am Tod der Zweistaaten-Lösung.
Elet es Irodalom (Ungarn), 18.05.2018

Film Comment (USA), 17.05.2018

The Atlantic (USA), 22.05.2018

Außerdem: In einem langen persönlichen, aber auch mit viel Zahlenmaterial unterfüttertem Text denkt Matthew Stewart über die 9,9 Prozent nach, zu denen er als studierter Philosoph und Berater selbst gehört, die immer mehr Kapital ansammeln und den Abstand zu den unteren 90 Prozent immer mehr vergrößern.
New York Times (USA), 18.05.2018
