Magazinrundschau
Da wurzelt nichts als Wahnsinn
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
29.12.2007. Im Merkur erklärt Rainer Paris, wie bescheuert es ist, immer recht zu haben. Il Foglio erzählt eine katholische Heldengeschichte aus Sibirien. Prospect beschreibt die Folgen des irischen Reichtums. Literaturen fragt Autoren, wie sie überleben. ADN cultura stellt bloggende Schriftsteller aus Brasilien vor. Elet es Irodalom leuchtet die dunkelsten Ecken der ungarischen Krise aus. Die London Review of Books macht uns die internationale Kreditkrise verständlich. Reset.doc debattiert über die westliche Linke und den Islam. Die New York Times hätte um ein Haar die Wahlen in Kenia gesprengt.
Merkur (Deutschland), 01.01.2008

Leider nicht online zu lesen ist Ivan Krastevs Artikel über Putins "Souveräne Demokratie": "Russland setzt auf den Zerfall der Europäischen Union."
Foglio (Italien), 22.12.2007
Piero Vietti erzählt eine katholische Heldengeschichte aus Sibirien. Dort hat der italienische Missionar Ubaldo Orlandelli seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder eine Gemeinde aufgebaut. "Es vergingen Jahre, in denen er im unendlichen Sibirien von hier nach dort reiste, per Flugzeug oder Schiff, auf Flughäfen mit Schotterpisten landete oder schäumende Flüsse hochfuhr. Er fing mit fünf Angestellten und fünf Freiwilligen an. In jedem Ort, in dem er ankam, suchte er die Katholiken. Er redete mit ihnen, las die Messe und ernannte einen Verantwortlichen. Er grub Jesus aus. Bald waren es zweihundert Angestellte und sechshundert Freiwillige. 1995 organisierte er die erste öffentliche Prozession in den Straßen Nowosibirsks. Es war Fronleichnam. Es nahmen insgesamt etwa zehn Leute teil, vielleicht weniger. Aber diese zehn waren außergewöhnlich in Russland."
Prospect (UK), 01.01.2008

In einer langen Liste erklären Prospect-Autoren, welche sie für die über- und welche für die unterschätztesten Kulturereignisse des Jahres 2007 halten. Nur der Autor Julian Gough weigert sich, etwas beizutragen - und zwar aus gutem Grund: "Eine der Annehmlichkeiten, die das Leben in einem perfekten freien Markt mit einer perfekten freien Presse bietet, in der vorurteilslose Kritiker informierte und gebildete Verbraucher auf genau die Dinge hinweisen, derer sie bedürfen, ist es, dass kein einziger kultureller Gegenstand je unter- oder überschätzt wird."
Weitere Artikel: Raymond Tallis schildert die Revolution des Denkens, die der Gedanke des antiken Philosophen Parmenides, dass es das, was nicht ist, gar nicht gibt, ausgelöst hat - und fordert mit Blick nicht nur auf die Quantenphysik eine radikale Abwendung von Parmenides. Der Historiker Bernard Wasserstein blickt zurück aufs Jahr 1968, in dem er als Student den sowjetischen Dichter Jewgeni Jewtuschenko als Poetik-Professor in Oxford vorschlug - Jewtuschenko wurde bei der Wahl dann nur - oder immerhin - Dritter.
Literaturen (Deutschland), 01.01.2008

Weitere Artikel: Besprochen werden unter anderem Annette Pehnts Roman "Mobbing", die deutsche Erstübersetzung von Edgar Bernays' PR-Klassiker "Propaganda". Aus den festen Rubriken und Kolumnen: Bundestagspräsident Norbert Lammert liest Urs Widmers Buch "Shakespeares Königsdramen", Sibylle Berg fragt sich, was man über die Welt von heute wirklich wissen muss, Jan Koneffke berichtet aus der dem Westen vielfach fernen rumänischen Parallelwelt, Aram Lintzel geht es um Websites des Scheiterns, Franz Schuh hat Flavio Sorigas hochliterarischen Kriminalroman "Der schwarze Regen" gelesen und Daniel Kothenschulte die erneute Western-Verfilmung "Todeszug nach Yuma" gesehen.
Im Editorial wird ein neues, einmal im Jahr erscheinendes Literaturen-Format angekündigt: Literaturen-Special mit Originaltexten von Autoren. Das erste Heft, eine von Daniel Kehlmann zusammengestellte Kurzgeschichten-Sammlung, wird im Sommer 2008 erscheinen.
Gazeta Wyborcza (Polen), 24.12.2007

Weitere Artikel: "Was vor allem auffällt, sind Bücher. Überall Bücher. Zeitungsausschnitte, Hefte, Notizblöcke." So sieht das Arbeitszimmer des vor knapp einem Jahr verstorbenen Ryszard Kapuscinski, das Artur Domoslawski aufgesucht hat. "Alles so, wie er es hinterlassen hat, als er ins Krankenhaus ging", beteuert die Witwe. Außerdem: ein Gespräch mit dem Dichter Marian Pankowski, der kontroverse Themen wie Religionskritik nicht scheut, weil er seit 1945 in Brüssel lebt und sich nicht nach dem polnischen Zeitgeist richtet; und dem Schriftsteller Jacek Dukaj, dessen letzter Science-Fiction-Roman "Lod" ("Das Eis"), in dem es keinen Ersten Weltkrieg gibt und Polen als Staat nicht wiedererrichtet wird, begeistert aufgenommen wurde.
ADN cultura (Argentinien), 22.12.2007
Blogs, oder "die Kunst, das Leben zu erzählen": Susana Reinoso stellt in ihrer Kolumne mehrere argentinische Blogschriftsteller bzw. -journalisten vor, deren Internetproduktionen ein zweites Leben in Buchform begonnen haben. In publizistischer Hinsicht besonders effektiv zu sein scheint Hernan Zin, der nach erfolgreichen Blogs bzw. Büchern über Kindesmissbrauch und Sextourismus in Kambodscha und über die katastrophalen Lebensbedingungen der Bewohner des Gaza-Streifens nun ein Projekt über neue Mauern weltweit in Angriff genommen hat. "Das Besondere an diesem Buch ist, dass es ganz offen die Beiträge der Blog-Leser integriert. Die Art, wie auf diese Weise Daten über die Schandmauern des 21. Jahrhunderts - zwischen Mexiko und den USA, Indien und Pakistan, Saudiarabien und dem Jemen - zusammengetragen werden, hat etwas völlig Neuartiges. Kommunikation heute ist eine beeindruckende Bewegung aus zwei Richtungen, die genau in dem Moment aufeinandertreffen, in dem es zwingend notwendig wird, das Leben zu erzählen."
Währenddessen beschreibt der Schriftsteller Javier Marias, durchaus selbstkritisch, wie unangenehm es sein kann, wenn sich auf einmal "alle Welt" für die gleichen Autoren begeistert wie man selbst: "Am schlimmsten ist es, wenn Leute, die wir für Vollidioten halten, auf einmal ausgerechnet einen unserer Lieblingsschriftsteller entdecken und anfangen, ihn ständig zu zitieren und vor sich herzutragen: Es ist, als würde man enteignet. Anderen geht es umgekehrt zweifellos genauso."
Währenddessen beschreibt der Schriftsteller Javier Marias, durchaus selbstkritisch, wie unangenehm es sein kann, wenn sich auf einmal "alle Welt" für die gleichen Autoren begeistert wie man selbst: "Am schlimmsten ist es, wenn Leute, die wir für Vollidioten halten, auf einmal ausgerechnet einen unserer Lieblingsschriftsteller entdecken und anfangen, ihn ständig zu zitieren und vor sich herzutragen: Es ist, als würde man enteignet. Anderen geht es umgekehrt zweifellos genauso."
Elet es Irodalom (Ungarn), 21.12.2007

In Ungarn gibt es keinen Konsens über die Regeln der Demokratie, meint der Philosoph Janos Kis. Er sieht den Grund im zu schnellen Übergang von einem System zum anderen: "Die ungarische Gesellschaft war auf eine Wende nicht vorbereitet, und beide Seiten, rechts und links, starteten in die frische Demokratie als Gefangene ihrer widersprüchlichen Geschichte, ihrer anachronistischen Weltbilder und ihrer Vorstellungen vom jeweils anderen - und haben seither viel zu viel Zeit verschwendet. Diese anachronistischen Ideologien könnten nicht aufrechterhalten werden, würden sie sich nicht ständig gegenseitig rechtfertigen." Doch liege die Verantwortung nicht allein bei den Politikern, weshalb Kis vorschlägt, mit dem Nachdenken noch einmal von vorne anzufangen: "Auch die Intellektuellen sind verantwortlich."
Und die Journalisten, ruft der Journalist Janos Szeky. "Vor 25 Jahren gab es in Ungarn manch gute Journalisten, einige lesbare Zeitungen, den Rest kauften die Menschen aus Gewohnheit. Die Partei dachte, der Journalist diene der Politik der Partei und ist er dazu nicht in der Lage, so soll er sein Maul halten. Den Großteil der Presse durchdrang eine grinsende Gemütlichkeit. Heute gibt es manch gute Journalisten, einige lesbare Zeitungen, den Rest kaufen die Menschen aus Gewohnheit. Die Parteien denken, der Journalist diene der Politik der Partei und ist er dazu nicht in der Lage, so soll er sein Maul halten. Den Großteil der Presse durchdringt ein grinsender Zynismus. In der Zeit dazwischen hätte die politische Presse in Ungarn für einen historischen Augenblick lang die Chance gehabt, erwachsen zu werden. Aber der Augenblick verging, das arme Würmlein konnte nicht wachsen. ... Die überwiegende Mehrheit unserer Politiker konnte sich von Anfang an nicht vorstellen, dass es in den Medien souveräne Individuen geben kann, die ohne zentrale Anweisung schreiben oder reden - und sorgte nach Möglichkeiten dafür, dass es sie auch nicht gibt. Daraus wird bei uns aber keine demokratische Kontrolle mehr entstehen können, keine vierte Gewalt, kein Wachhund.?
Für ein tieferes Problem als die politische Krise hält der Medienwissenschaftler Peter György die Unfähigkeit, sich in zeitgenössischen gesellschaftlichen und kulturellen Räumen zurechtzufinden: "Die schwere und komplizierte Existenz in der intensiven kulturellen Dichte - die Toleranz fordert und schafft - ist unsere gemeinsame Zukunft. Ungarn bewegt sich aber heute in die entgegengesetzte Richtung. Seine absurden, veralteten und agressiven monokulturellen Manien gehören zum dunkelsten und letzten Erbe des Kadar-Regimes, an dem sich Rechte und Linke gleichermaßen beteiligen. Erstere träumen den hoffnungslosen Traum der Gemeinschaft, des Nationalstaates weiter: Manche zeitgenössische rechte Kulturbeschreibungen scheinen die Xenophobie der ehemaligen Staatspartei zu beschwören. Die Linke hingegen hat ihre Kompetenz bezüglich der Modernität verloren und glaubt im Gegensatz zum nostalgiegläubigen rechten Lager an nichts mehr, demzufolge sie auch nichts mehr von jener Kultur versteht, die uns durch die Krisen der zeitgenössischen Gesellschaften vermittelt wird. Hier befinden wir uns jetzt. Der Ort, an dem wir leben, treibt in der Tat weg vom Gleichzeitigkeitserlebnis zeitgenössischer Gesellschaften, weg von einer grundsätzlichen Bedingung des Dialogs, der Erfahrung einer gemeinsamen Gegenwart."
London Review of Books (UK), 27.12.2007

Weitere Artikel: Im British Museum hat, wie Craig Clunas berichtet, die Ausstellung "The First Emperor" zu bieten, was es so nicht überall gibt: siebzehn echte Krieger der chinesischen Terracotta-Armee. Abgedruckt wird ein Tagebuch des BBC-Reporters Ben Anderson von seinem Aufenthalt in Afghanistan, wo er eine Dokumentation drehte. Adam Shatz porträtiert die US-Außenministerin Condoleezza Rice. Julian Bell bespricht den dritten Band von John Richardsons Picasso-Biografie.
Espresso (Italien), 21.12.2007

Point (Frankreich), 20.12.2007

ResetDoc (Italien), 19.12.2007
Resetdoc.org organisiert eine große Debatte über die westliche Linke und den Islam. Die italienische Philosophin Nadia Urbinati wendet sich gegen einen westlichen Manichäismus und plädiert für Multikulturalismus und Dialog. Ihr Modell bezieht sie unter anderem aus der Entspannungspolitik gegenüber dem Kommunismus, eine Politik, die auch italienische Innenpolitik gegenüber dem partito comunista war: "Toleranz und Dialog waren die einzigen Strategien, die einen Wandel in der kommunstischen Ideologie herbeiführen konnten und gleichzeitig bewahrten sie die 'korrekt Denkenden' (also die Liberalen und Demokraten) davor, selbst zu Fanatikern zu werden. Die Politik des Dialogs war keineswegs nur vorsichtig. Sie war normativ und prinzipiengeleitet. Dialog und Toleranz waren nicht nur deshalb wesentlich, weil sie die Kommunisten innerhalb des Verfassungssystems hielten, sondern weil sie auch halfen, die italienische Demokratie selbst zu festigen."
Michael Walzer von der Zeitschrift Dissent erwidert dagegen: "Linke Intellektuelle sollten sich bei ihren Gesprächspartnern Grenzen setzen. Ich bin sicher, dass mir Nadia in Bezug auf die Nazis hier recht geben würde, es trifft auch auf Stalinisten und heute auf islamische Eiferer zu. Wie sollen sich westliche Linke heute gegenüber dem Islam verhalten? Wir sollen linke Prinzipen der Demokratie bei jeder sich bietenden Gelegenheit verteidigen. Ich sehe in dieser politischen Position keine Intoleranz und keinen Manichäismus." Die ganze Debatte kann man hier nachlesen.
Auch Charles Taylor, die Koryphäe des Mutikulturalismus, äußert sich. Er wendet sich gegen Paul Bermans kritischen Essay über Tariq Ramadan (hier unser Resümee), den er als Gesprächspartner des Westens Willkommen heißt.
Michael Walzer von der Zeitschrift Dissent erwidert dagegen: "Linke Intellektuelle sollten sich bei ihren Gesprächspartnern Grenzen setzen. Ich bin sicher, dass mir Nadia in Bezug auf die Nazis hier recht geben würde, es trifft auch auf Stalinisten und heute auf islamische Eiferer zu. Wie sollen sich westliche Linke heute gegenüber dem Islam verhalten? Wir sollen linke Prinzipen der Demokratie bei jeder sich bietenden Gelegenheit verteidigen. Ich sehe in dieser politischen Position keine Intoleranz und keinen Manichäismus." Die ganze Debatte kann man hier nachlesen.
Auch Charles Taylor, die Koryphäe des Mutikulturalismus, äußert sich. Er wendet sich gegen Paul Bermans kritischen Essay über Tariq Ramadan (hier unser Resümee), den er als Gesprächspartner des Westens Willkommen heißt.
Moskowskije Novosti (Russland), 21.12.2007
"Die russische Kultur sollte einen neuen Weg der Entwicklung finden", meint Michail Schvydkoy, Leiter des russischen Kulturministeriums in einem umfangreichen Interview. "Die Leute in Russland geben unheimlich viel Geld für einen Urlaub im Ausland, für schöne Kleidung oder Essen aus. Als ob sie vergessen hätten, dass der Mensch sich nicht nur physisch, sondern auch geistig nähren muss. Früher hat man uns gelehrt einander zu respektieren, weil wir eine Einheit bildeten. Das 20. Jahrhundert hat ein neues Verständnis mit sich gebracht: Wir müssen einander respektieren, weil wir verschieden sind. Darin besteht ein grundlegender Unterschied unserer Zeit zu der damaligen. Deshalb ist die Erhaltung der ethnischen Gemeinschaften heutzutage viel wichtiger als die der Ölreserven."
"In 50 Jahren wird Russland mit der Tatsache konfrontiert sein, dass ein Drittel seiner Bevölkerung Muslime sind ", schreibt Vassilina Orlova in "Position und Prozess". In ihrem Hintergrundbericht betrachtet die Journalistin die Rolle der wachsenden islamischen Gemeinschaft in Russland. "Im Unterschied zu Europa, wo die islamische Bevölkerung aus Immigranten besteht, gehören die russischen Muslime zu den Ureinwohnern. In vielen ex-sowjetischen Republiken ist der Islam längst zur offiziellen Staatsreligion aufgestiegen. Allerdings gibt es in den russischen Islam-Kreisen keinen gemeinsamen Führer. Diese Situation ist nichts Neues, denn was Hierarchie angeht, gehört der Islam zu den demokratischsten aller monotheistischen Religionen. Aber trotz dieser Freiheit, zeigen die Muslime einen erstaunlichen Zusammenhalt, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interesse geht."
"In 50 Jahren wird Russland mit der Tatsache konfrontiert sein, dass ein Drittel seiner Bevölkerung Muslime sind ", schreibt Vassilina Orlova in "Position und Prozess". In ihrem Hintergrundbericht betrachtet die Journalistin die Rolle der wachsenden islamischen Gemeinschaft in Russland. "Im Unterschied zu Europa, wo die islamische Bevölkerung aus Immigranten besteht, gehören die russischen Muslime zu den Ureinwohnern. In vielen ex-sowjetischen Republiken ist der Islam längst zur offiziellen Staatsreligion aufgestiegen. Allerdings gibt es in den russischen Islam-Kreisen keinen gemeinsamen Führer. Diese Situation ist nichts Neues, denn was Hierarchie angeht, gehört der Islam zu den demokratischsten aller monotheistischen Religionen. Aber trotz dieser Freiheit, zeigen die Muslime einen erstaunlichen Zusammenhalt, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interesse geht."
Al Ahram Weekly (Ägypten), 27.12.2007

New York Times (USA), 23.12.2007

Im Aufmacher des Sunday Magazines beobachtet Matt Bai die Clintons beim Wahlkampf. In der Book Review erinnert die Literaturprofessorin aus Harvard Leah Price daran, das vor Internet und Fernsehen das Buch als böses Medium galt - im 18. Jahrhundert war's. Mädchen durften nicht alleine lesen.