Magazinrundschau
Die Magazinrundschau
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
28.10.2002. Outlook India denkt über indische Künstler und Intellektuelle nach, die im Ausland erfolgreich sind. Literaturen denkt über Religion nach. Prospect denkt über den Irak nach Saddam nach. Der Economist denkt über Europas Wirtschaftskrise nach. Die NYT Book Review stellt eine Jesse-James-Biografie vor.
New Yorker (USA), 04.11.2002

John Vaillant erzählt uns in seinem "Letter from British Columbia" die Geschichte von Grant Hadwin, der 1997 mit einer Kettensäge einen 300 Jahr alten Baum umlegte. Seine nach dem Massaker an Greenpeace und andere Institutionen verteilte schriftliche Erklärung: "I didn't enjoy butchering, this magnificent old plant, but you apparently need a message and wake-up call, that even a university trained professional, should be able to understand ?I mean this action, to be an expression, of my rage and hatred, towards university trained professionals and their extremist supporters, whose ideas, ethics, denials, part truths, attitudes, etc., appear to be responsible, for most of the abominations, towards amateur life on this planet."
Außerdem lesen wir die Erzählung "Only a Thing" von Antonya Nelson. Und dann viele Besprechungen in dieser Woche: Peter Schjeldahl führt durch eine Ausstellung zeitgenössischer Malerei im Museum of Modern Art. Joan Acocella hat sich die neue Choreografie der Altmeisterin des amerikanischen Modern Dance, Twyla Tharp, angesehen. Judith Thurman besuchte die Pret-a-Porter-Schauen in Paris und eine Versace-Retrospektive in London. John Lahr sah Al Pacino in Brechts "Arturo Ui" sowie die Neuinszenierung des Musicals "Flower Drum Song" von Rodgers and Hammerstein aus dem Jahre 1958. Und Anthony Lane war im Kino und stellt "The Truth About Charlie", den neuen Film von Jonathan Demme mir Mark Wahlberg und Tim Robbins vor, sowie "Rodger Dodger" von Dylan Kidd. Bücher: Nicholas Lemann las die "faszinierende" Dokumentation des amerikanischen Kalter-Krieg-Spezialisten Daniel Ellsberg, "Secrets: A Memoir of Vietnam and the Pentagon Papers", Nell Freudenberger lobt "The Crazed", den dritten Roman des chinesisch-stämmigen Schriftstellers Ha Jin, außerdem gibt es noch Kurzbesprechungen.
Nur in der Printausgabe: der berühmte Essay von W.G. Sebald über die Frage, warum die Deutschen die Zerstörung ihrer Städte vergessen haben, Ian Parker erklärt, was einen Theaterproduzenten ausmacht, und schließlich Lyrik von Czeslaw Milosz und J. D. McClatchy.
Literaturen (Deutschland), 01.11.2002

Gespannt werden Liebhaber des südafrikanischen Schriftstellers J.M. Coetzee die Rezension des neuen Coetzee-Buches "Die jungen Jahre" (Leseprobe hier) von Sigrid Löffler lesen, - und vielleicht etwas enttäuscht sein. Sigrid Löffler ist zwar angetan davon, wie der Protagonist - kein Ich-Erzähler sondern einfach nur "John" - aus der eigenen Kälte weniger herausfindet als sie zur Literatur macht. Dennoch bleibt auch ihre Rezension eher kühl wenn sie zugesteht, dass der Reiz dieses Buchs vor allem darin liegt, "dass der Leser den Ausgang kennt, der Held aber noch nicht".
Ansonsten wartet das Novemberheft mit dem Schwerpunkt Religion auf (Editorial); allerdings sind die Reflexionen von Thomas Macho, Friedrich Schorlemmer und Ulla Berkewicz beziehungsweise Arno Stadler zum Thema nur im Druck zu lesen. Ebenfalls nur im Druck auch das Gespräch mit der schottischen Schriftstellerin A. L. Kennedy, deren Gesicht das Cover schmückt; auch sie erweist sich, so wird es angekündigt, als von Religion geprägt: dem schottischen Calvinismus.
Outlook India (Indien), 04.11.2002

Gleich zwei kürzere Artikel beschäftigen sich direkt oder indirekt mit Amitabh Bachchan, dem größten Bollywood-Star aller Zeiten (hier eine der vielen Seiten), der vor wenigen Wochen unter großer Anteilnahme des Volkes seinen 60. Geburtstag feierte. Besprochen wird ein zu diesem Anlass erschienenes Buch über ihn, halb Biografie, halb Hommage. Und Komal Nahata hat sich, in der Mittagspause der Dreharbeiten zu Bachchans neuestem Film, mit ihm unterhalten.
Weitere Artikel: Die Titelgeschichte beschreibt die Verflechtungen der regierenden hindu-nationalistischen Partei BJP mit dem außerparlamentarischen rechten Rand der indischen Politszene. "Before making any move, many in the government, including cabinet ministers, solicit their approval. When they sneeze in Mumbai, Nagpur or New York, New Delhi catches a cold. Welcome to the new, extra-constitutional world of India?s loony right." Ein weiterer Artikel beschreibt das erwachende Interesse von NGOs im Ausland - nur die US-Regierung zeigt bislang kaum Interesse. Kritisiert werden auch die indischen Medien, die dem verantwortungslosen Gerede gerne eine Plattform bieten. Schließlich beschäftigt sich ein Artikel mit der Hungersnot in Radschastan: Die Regierung des Staates schiebt es auf Krankheiten, nicht auf den Hunger, dessen Folge sie sind; unterdessen mahlen die Menschen Mehl aus fast unverdaulichem Gras.
Espresso (Italien), 31.10.2002

In der Bustina denkt Umberto Eco über die Folgen der kompletten Verschmelzung des privaten (betrogener Ehemann) und öffentlichen (italienischer Imperator) Silvio Berlusconi nach.
Weitere Artikel: Raimondo Pultrini verkündet das politische Erwachen der indischen Eunuchen, die schon einen Abgeordneten und zwei Bürgermeister stellen und nun eine eigene Partei gründen wollen. Enrico Arosio stellt ein gigantisches sakrales Projekt vor: Renzo Piano (mehr hier) baut für den kürzlich heiliggesprochenen Padre Pio eine monumentale Kirche mit Platz für achttausend Gläubige in San Giovanni Rotondo. Und Newcomer-Schauspielerin Asia Argento (hier mehr) spricht über ihr neues Leben in der Glitzerwelt Hollywoods, über Partys, Filme und ein Haus am Meer.
Besprochen wird eine großangelegte Enzyklopädie des renommierten Verlags Einaudi über den Faschismus.
Prospect (UK), 01.11.2002

Der Artikel von James Fallows ist nur in der Print-Edition nachzulesen, vermutlich ist es aber derselbe Artikel, der in Atlantic Monthly veröffentlich wurde. Ebenfalls nur im Print: ein Artikel von Elena Lappin über Milan Kundera und Michael Gross? Aufsatz über Nano-Technologie mit dem schönen Titel "The science of the tiny".
Lesen dürfen wir noch einen Text von Richard Kelly über die Demoralisierung der irischen Protestanten, die von den Katholiken auf politischem, kulturellem und erzieherischem Gebiet überholt wurden, einen Streit zwischen Will Skidelsky und Peter Gordon über die Frage, ob englisches Essen wirklich besser geworden ist. Und Nadine Meisner berichtet über einen Prozess um das Copyright an Choreografien von Martha Graham.
Economist (UK), 25.10.2002

Besonders beachtenswert ist in diesem Heft der Essay von Jeffrey Sachs, dem Direktor des Earth Institute der Columbia University in New York. Jeffrey geht hart ins Gericht mit der derzeitigen amerikanischen Regierung: "One of the reasons why the Bush administration is losing the battle for the world's hearts and minds is precisely that it fights only the war on terror, while turning a cold and steely eye away from the millions dying of hunger and disease. When is the last time anybody heard Vice-President Dick Cheney even feign a word of concern for the world's poor?" Nicht einmal an die von ihm unterschriebene internationale Vereinbarung, 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts zur Unterstützung armer Länder einzusetzen, hält sich das größte und reichste Land der Erde. Sachs sieht Zusammenhänge: " The United States falls $60 billion a year short of that target-a seemingly unbridgeable gap, until one realises that the annual military spending in America has risen by about that amount since Mr Bush entered the White House."
Nur im Druck: Artikel über "Dealing with Iraq and North Korea", "The angst of German bosses" und, mal wieder, "Tony Blair and the unions".
Spiegel (Deutschland), 28.10.2002

Neuigkeiten gibt es auch von der RAF - nämlich ihre Beziehung zu palästinensischen Terroristen in den siebziger Jahren. Peter-Jürgen Boock, einer der Schleyer-Entführer, hat dem Spiegel von vielen bisher nicht bekannten Details berichtet und resümiert: "Ohne die Unterstützung der Palästinenser wäre die RAF von Mitte der siebziger bis Anfang der achtziger Jahre nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt aktionsfähig gewesen." Die Verbindungen waren eng und gingen zurück auf die Jahre der Studentenrevolte. Der Kontaktmann war Wadi Haddad von der PLFP ("Volksfront für die Befreiung Palästinas"): er lieferte Maschinengewehre und Sprengstoff - und forderte schmutzige "Söldnerdienste" von den RAFlern: "Es ging um Erpressung, Lösegeld und Handlangerdienste bei der Vorbereitung von Anschlägen gegen Passagierflugzeuge."
Weitere Artikel: Verbrechen und Terror hinterlassen auch im Rest des Heftes ihre Spuren. Gerhard Spörl trägt zusammen, was über John Williams, den Heckenschützen von Washington bisher bekannt ist. Lars-Olav Beier stellt zwei neue Hollywood-Filme vor, in denen Sniper eine wichtige Rolle spielen - und berichtet, dass der Start erst einmal um Monate verschoben wurde. Außerdem gibt's ein Porträt der steil abgestürzten Stars der New Economy, der Haffa-Brüder, die nun in München - vor derselben Richterin übrigens, mit der es gerade Boris Becker zu tun hatte - vor Gericht stehen.
Im Heft, aber nicht im Netz: Ein Gespräch mit Marius Müller-Westernhagen zur neuen Platte, ein Bericht über den zweiten Frühling der New Economy. Ex-FAZ-Herausgeber und Hitler-Biograf Joachim Fest schreibt über Anthony Beevors Buch zum Untergang Berlins 1945, und Volker Hage stellt den Fund von Heinrich-Mann-Briefen in Prag ausführlich vor.
New York Times (USA), 27.10.2002

Weitere Artikel: Richard E. Nicholls zeigt sich beeindruckt von T. J. Stiles' großer Jesse-James-Biografie, die dem legendären amerikanischen Outlaw des Bürgerkriegs bisher ungeahnte Seiten abgewinnt. "Er war gut gekleidet, ein schlauer Publizist und Politiker, ein glänzender Reiter und und ausgesprochen cool." Jeffrey Eugenides (hier mehr) bejubelt Joanna Scott, die sich mit ihrem neuen Roman "Tourmaline", wo sie die Fragen eines Sohnes zu einer Erkundung über die grundlegenden Fragen des Lebens werden lässt, erneut als eine berufene Schriftstellerin erweist. Ruth Franklin würdigt "The Crazed" als radikal und den Verfasser Ha Jin als verwirrendsten Autor der englischen Sprache, der, indem er alle Regeln des Schreibens wie selbstverständlich bricht, Werke von außergewöhnlicher Moral und Schönheit vorlegt.
Times Literary Supplement (UK), 25.10.2002

Interessant auch, aber leider nur auszugsweise zu lesen ist Michael Fairclough Besprechung von Michael Dawsons "Black Visions" über die Wurzeln schwarzer Gegenöffentlichkeit. Dawson (mehr hier) sieht die schwarze Community der USA in ihrer bisher schwersten politischen Krise, die er vor allem an der Entfremdung vom weißen Liberalismus festmacht.
Auch die Titelgeschichte von Patrick Allitt über die religiöse Restauration in den USA, über Moral Majority und christliche junge Männer ist nur in einem wenig hilfreichen Auszug zu lesen. Und Neil Powell schließlich stellt eine neue Biografie über den "Poeten des Krieges" Wilfred Owen (mehr hier) vor.
Nouvel Observateur (Frankreich), 24.10.2002

"Lange hatte er den Wunsch gehabt, Philosophie zu unterrichten. Bis es ihm eines Tages unmöglich wurde, die Schule zu betreten". So beginnt die Rezension eines Buches von Frederic Schiffter, Philosophieprofessor an einem Gymnasium, dem eben jenes passierte. Eine plötzliche "lähmende Angst" habe es ihm unmöglich gemacht, "weiterhin Schülern, die es gar nicht wollten, eine Materie zu vermitteln, von der er selbst bezweifelte, dass sie nützlich oder notwendig" sei. Schiffter, Autor mehrerer Publikationen ("Lettre sur l?elegance", "Guy Debord, l?atrabilaire", "Sur le blabla et le chichi des philosophes") erzählt in seinen "Pensees d?un philosophe sous Prozac" nicht nur die Krankengeschichte einer Depression, sondern deren Verknüpfung mit einer Disziplin und einer Tätigkeit, die ihm zunehmend sinnlos erscheint. Laut Rezensent habe er sich "der Instition Schule entfremdet, die nicht mehr auf Lebenskunst basiert, sondern auf der einzigen Frage, die der Nachfolger seines Verächters, Luc Ferry, heute stellt: 'Was ist ein erfolgreiches Leben?'". Dieses neue Buch des Philosophen und gegenwärtigen französischen Erziehungsministers, "Qu?est-ce qu?une vie reussie?", wird übrigens ebenfalls besprochen.