Heute in den Feuilletons

Abwehr - Angriff - zack!

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.09.2013. Große Trauer allenthalben über den Tod Marcel Reich-Ranickis. Die SZ hebt sein komödiantisches Talent hervor und beleuchtet das schwierige Verhältnis Polens zu Reich-Ranicki. Selbst seinen Opfern wird er fehlen, glaubt die FAZ, denn von MRR verrissen zu werden, war ein Beweis für Relevanz. In der Zeit plädiert Nora Bossong dafür, Parlamente weiterhin durch Wahlen und nicht durch Würfeln zu bestimmen. In der Pädophiliedebatte stellt die taz fest: die frühen Grünen rekrutierten sich nun mal an den Rändern der Gesellschaft.

TAZ, 19.09.2013

"Man darf und muss sagen: Er ermöglichte, unterband und unterbrach im Laufe der Jahre etliche Schriftstellerkarrieren", schreibt Ina Hartwig in ihrem - genreunüblich wohltuend differenzierten und faktenreichen - Nachruf auf den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. "Was er nicht verstand, was ihm nicht gefiel, wurde verdammt, aussortiert, ignoriert. Oder, wie Peter Rühmkorf zusammenfasste: 'Abwehr - Angriff - zack!' ... Alles, was sich Avantgarde nannte oder vermeintlich unsinnlich auf ihn wirkte, prallte an Reich-Ranicki geradezu lüstern ab. In Zuspitzung und Abwehr war er ein Meister, immer bereit, sich um der Pointe willen dümmer zu stellen, als er war."

Eine ganze Seite widmet die taz Leserreaktionen auf die Berichterstattung über das frühere Verhältnis der Grünen zu Sex mit Kindern, die aus etwa 1000 Zuschriften ausgewählt wurden. In seinem Kommentar wirft Martin Reeh dem Politikwissenschaftler Franz Walter, den die Partei neben Stephan Klecha mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte betraut hatte, vor, kurzsichtig Zeitgeschichtsforschung als Kriminalwissenschaft zu betreiben. "Walter und Klecha scheinen an das Agieren in den Grünen der Gründungszeit dieselben Maßstäbe anzulegen wie an eine Tätigkeit in der SPD. Als hätten die Grünen damals nicht halbbraune Biobauern ebenso angezogen wie Freunde des Realsozialismus, Ökofundis ebenso wie die Gegner des staatlichen Gewaltmonopols ... Und das konnte auch heißen: weiter für die Grünen zu kandidieren, obwohl man Teile des Programms ablehnte."

Lisa Maucher unterhält sich mit dem Theaterschauspieler, Musiker und Kabarettisten Serdar Somuncu, der keine Probleme mit Judenwitzen hat ("Jede Minderheit hat ein Recht auf Diskriminierung") und dessen neues Album "Wir Beide" morgen erscheint.

Und Tom.

NZZ, 19.09.2013

Mit Marcel Reich-Ranicki verliert der deutsche Literaturbetrieb seinen mächtigsten Kritiker, der mit seinen prägnanten Urteilen polarisierte wie kein zweiter, schreibt Andrea Köhler in ihrem Nachruf: "Womöglich lässt sich an den vielen Karikaturen die Bedeutung dieses Meisters der Selbstkarikatur einmal am besten ermessen. Denn Marcel Reich-Ranicki war originell wie sonst kaum einer. Papst, Priester, Herr der Bücher: Vielleicht war es der Triumph und die Tragik dieses zuweilen erstaunlich zartbesaiteten Mannes, dass niemand ihm seine Rollen und Selbstbilder nahm bis zum Schluss."

Besprochen werden die Filme "An Episode in the Life of an Iron Picker" von Danis Tanovic (eine "heftige Anklage gegen Gleichgültigkeit", findet Christina Tilmann) und Joshua Michael Sterns Biopic "Jobs" (der "romantisch-hagiografischen Ecke" nicht herauskommt, bedauert Till Brockmann) sowie Bücher, darunter David Albaharis Antikriegsroman "Der Kontrollpunkt" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 19.09.2013

Ulrich Weinzierl porträtiert im Nachruf Marcel Reich-Ranicki als "Spätgeborenen", als Literaturkritiker aus der beißenden Heine-, Tucholsky- und Kerr-Schule, die auch im Alter nicht milder wurde: "Sein wichtigster Text aus jüngster Zeit war ein Interview, das sein Biograf Uwe Wittstock mit ihm führte. Nach eventuellen Vorteilen des Greisentums befragt, gab er so bündige wie radikale Antwort: Altersweisheit, Altersmilde - das sei bloß 'sentimentales Geschwätz. Das Alter ist fürchterlich. Es raubt einem nach und nach alles, was einem lieb und wichtig war, alles, worauf man glaubte, sich verlassen zu können.' Mit dem 'Gedanken an den Tod' könne man nicht fertig werden. 'Er ist völlig sinnlos und vernichtend.' So war er: Schmerzhaft klare, deutliche Worte bis zuletzt."

Weitere Artikel: Barbara Möller mokiert sich über die Schriftsteller, die Bundeskanzlerin Angela Merkel im Regen stehen ließ, als sie ihr gestern eine Unterschriftenliste gegen die NSA-Bespitzelung deutscher Staatsbürger überreichen wollten. Hans Pleschinskis Name soll wegen seines - ins Russische übersetzten - Aids-Romans "Bildnis eines Unsichtbaren" in Russland auf eine "rosa Liste" gesetzt worden sein, meldet Tilman Krause.

Besprochen werden drei Berliner Ausstellungen zum 250. Geburtstag der Königlichen Porzellanmanufaktur (KPM), Denis Dercourts Film "Zum Geburtstag" über vier deutsche Liebende, David Twohys Film "Riddick" und Georg Maas' für den Auslandsoscar nominierter Film "Zwei Leben" mit Liv Ullmann über das Leben in zwei deutschen Diktaturen. In den Short Cuts geht es u.a. um Alain Guiraudies Schwulenthriller "Der Fremde am See" und Rodney Aschers "Room 237", eine Fan-Doku zu Kubricks "Shining".

Perlentaucher, 19.09.2013

Eine "veritable homosexuelle Heterotopie" zeichne der französische Regisseur Alain Guiraudie in seinem in Cannes mit der Queer Palm ausgezeichneten Film "Der Fremde am See", meint Jochen Werner in der Kinokolumne des Perlentaucher und wird ganz nostalgisch: "Die Kultur des schwulen Cruising ist längst eine verschüttete, und wer heute unverbindlichen gleichgeschlechtlichen Sex ausüben will, der drückt sich längst nicht mehr in nächtlichen Parks oder an versteckten Seeufern herum, sondern tippt auf Displays herum und schaut auf Bildschirme. Schade eigentlich."

Im zweiten Beitrag schreibt Lukas Foerster über David Twohys Sci-Fi-B-Movie "Riddick".
Stichwörter: Sex, Queer

Weitere Medien, 19.09.2013

Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler streiten sich (ab Minute 2.23') über Haruki Murakamis Roman "Gefährliche Geliebte". Nach dem Eklat in dieser Sendung im Jahr 2000 hat Löffler das "Literarische Quartett" verlassen:

SZ, 19.09.2013

Auch die SZ steht ganz im Zeichen von Marcel Reich-Ranickis Ableben. Auf Seite Drei zeichnet Thomas Steinfeld Reich-Ranickis Auftstieg zum "Literaturpapst" nach: "Es ist schwer, sich in diesem einzigartigen Verhältnis von Unbelangbarkeit und institutioneller Sicherung nicht auch den Triumph einer Überlebensstrategie vorzustellen: Marcel Reich-Ranicki hatte sich, als Jugendlicher schon, ein polnischer Jude im Dritten Reich, wie Heinrich Heine für die Literatur als transportable Heimat entschieden. Im Aufstieg des Kritikers zur höchsten Instanz des öffentlichen Lebens verwandelte sich diese Heimat in ein Königreich."

Im Feuilleton erinnert sich Gustav Seibt an gemeinsame FAZ-Tage, insbesondere an eine hitzige Redaktionskonferenz, in der es um Ernst Nolte und den Historikerstreit ging. Johannes Willms erzählt von der Gründung des "Literarischen Quartetts" (hier die erste Ausgabe), dessen Erfolg sich Reich-Ranickis "komödiantischem Talent" verdankte. Und Thomas Urban beleuchtet das schwierige Verhältnis Polens zu Reich-Ranicki, der - aus konservativer polnischer Perspektive - nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Stalinismus paktiert und später die falschen Bücher in Deutschland popularisiert habe: "So hat denn ein Teil der polnischen Kritik ein Verdikt gefällt: Reich-Ranicki würden seine Sünden aus der Stalinzeit von den Deutschen verziehen, weil diese Hitler gehabt hätten. Und er werde geliebt, weil er Bücher gefördert habe, die die deutsche Schuld relativierten."

Online bringt die SZ Stimmen zu Reich-Ranickis Tod, sowie zwei weitere Nachrufe von Friederike Stahl und von Ruth Schneeberger.

Weitere Artikel: Claudia Tieschky trifft sich mit der Schauspielerin Thekla Reuten. Peter Richter schreibt den Nachruf auf den Architekten Wolfgang Hänsch.

Auf der Medienseite berichten Hans Leyendecker und Tanjev Schultz, dass neben einigen weiteren Journalisten auch die auf Rechtsextremismus spezialisierte Andrea Röpke vom niedersächsischen Verfassungsschutz beobachtet wurde (mehr hier). Außerdem erklärt Dirk von Gehlen die spottende Mem-Kultur, die sich um den Wahlkampf herum auf Tumblr gebildet hat (etwa hier und hier). Mehr zu Memen schreibt von Gehlen in seinem Blog.

Besprochen werden Alain Guiraudies Film "Der Fremde am See", der von Jakob+MacFarlanes konzipierte Neubau für das FRAC in Orléans und Bücher, darunter Andreas Mayers wissenschaftshistorische Studie über die Erforschung der Bewegung (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 19.09.2013

Die FAZ widmet ihr gesamtes Feuilleton dem Tod von Marcel Reich-Ranicki.

"Dieser Mann war in Verfolgung und Ruhm die Personifikation des zwanzigsten Jahrhunderts", schreibt Frank Schirrmacher in einem sehr persönlichen Nachruf. Und: "Ob die deutschen Autoren, die unter ihm litten, wissen, dass dieser Schmerz eine Art Existenzbestätigung war? Es ist nicht schön, verrissen zu werden. Aber es bedeutet unendlich viel, wenn eine Gesellschaft der Meinung ist, nichts sei gerade wichtiger als das neue Buch von Günter Grass, Martin Walser oder Wolfgang Koeppen." Der Deutschlandfunk hat Schirrmacher zur Bedeutung MRRs interviewt.

Außerdem: Zur Gänze dokumentiert wird Reich-Ranickis 1974 erschienener Essay über Erich Kästner, der erste, den er als Literaturchef der FAZ veröffentlicht hat: Kästner "gehört zu den Moralisten, die zugleich Spaßmacher sind. Er ist ein Conférencier, der keine Hemmungen hat zu predigen. Und er ist ein Prediger, der gern und stolz die Narrenkappe trägt." Auf zwei reich bebilderten Seiten bringt die FAZ weitere Auszüge aus Reich-Ranickis Rezensionen - online gibt es einige ausgewählte Artikel aus dem Archiv sowie erste Reaktionen auf die Todesnachricht und einen Reich-Ranicki gewidmeten Themenschwerpunkt.

Besprochen werden neue Sachbücher: Daniela Duecks "Geografie in der antiken Welt" und Thomas Tetzners "Der kollektive Gott" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 19.09.2013

Im Wirtschaftsteil nimmt Thomas Fischermann Abschied von der "Vision eines freien, unangreifbaren Internets", und zwar nicht allein wegen der NSA: "Wo staatliche Organisationen absichtlich Schwachstellen in die Technologie des Netzes einbauen, dauert es nicht lange, bis gegnerische Geheimdienste, Industriespione und Verbrecher sie für ihre Zwecke entdecken... Und wenn die NSA das Netz als ein System für die weltweite Überwachung versteht - welches Argument ist dann noch vorzubringen, wenn es auch die Russen und Chinesen tun? Müssen wir damit leben, dass das Internet zum Schauplatz eines Wettkampfes der Schlapphüte wird?"

Für wenig tauglich hält die Schriftstellerin Nora Bossong im Feuilleton den in der vergangenen Woche von Eugen Ruge unterbreiteten Vorschlag, das Parlament auszuwürfeln, anstatt es durch Wahlen zu bestimmen: "Abgesehen davon, dass es unserem Grundrecht auf Berufsfreiheit wohl widerspräche, wenn Bürger ungefragt in ein politisches Amt gelost oder rotiert würden: Gäben wir dadurch unsere Entscheidungsmöglichkeit nicht vollkommen auf? Wie demokratisch legitimiert ist der Zufall?"

Weiteres: Manche Künstler auf der Biennale in Istanbul "finden es bigott, dass die Biennale von einer Stiftung organisiert wird, die Geld von einem Unternehmen erhält, das umzäunte Einfamilienhausquartiere errichtet, also jene Gentrifizierung vorantreibt, gegen die dann die Künstler protestieren dürfen", berichtet Hanno Rauterberg. Peter Kümmel schreibt den Nachruf auf Otto Sander. Außerdem unterhält er sich mit Edith Clever, die nach langjähriger Pause in einer Wiener "Tartuffe"-Inszenierung von Luc Bondy auf die Bühne zurückkehren wird. "I would prefer not to" - die im Mantra des Melville-Helden Bartleby ausgedrückte Verweigerungshaltung hat unter Intellektuellen Hochkonjunktur, meldet Thomas Assheuer. Jo Lendle, der designierte verlegerische Geschäftsführer des Hanser Verlags, schreibt einen Bericht über sein Praktikum in einer Siegburger Buchhandlung.

Ijoma Mangold interviewt Ian McEwan, dessen neuer Roman "Honig" am kommenden Mittwoch erscheint. Peer Teuwesen informiert über die Plagiatsvorwürfe amerikanischer Sachbuchautoren (darunter Nassim Taleb) gegen den Bestsellerautor und gelegentlichen Zeit-Kolumnisten Rolf Dobelli. Bei der Berliner Ausstellung "Painting Forever!" entdeckt Sebastian Preuß eine "Vorliebe junger Maler für das Informel". Besprochen werden die Filme "Zwei Leben" von Georg Maas und "Der Fremde im See" von Alain Guiraudie (dessen "wunderbar schwebender, sommerlicher, lyrischer Erzählrhythmus" es Katja Nicodemus angetan hat), außerdem Robert Wilsons Bochumer Inszenierung von Helmut Lachenmanns "Mädchen mit den Schwefelhölzern" und Bücher, darunter Terézia Moras Roman "Das Ungeheuer" (mehr in unserer Bücherschau heute um 14 Uhr).