Heute in den Feuilletons

Wer das Lied der Transparenz singt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.09.2013. In der wahlkampftaktisch geführten Debatte über Pädophile bei den frühen Grünen wird Kindesmissbrauch missbraucht, ärgert sich die SZ. Die FAZ holt prominente Stimmen zum Tod Marcel Reich-Ranickis ein. In der NZZ appelliert der Medientheoretiker Roberto Simanowski an die moralische Pflicht zum Verbergen persönlicher Daten. Die taz widmet sich Karikaturen. Und die Welt würdigt den vor 150 Jahren gestorbenen Jacob Grimm als EU-tauglichen Nationalisten.

Welt, 20.09.2013

"Ein Nationalist - aber ein EU-tauglicher" war Jacob Grimm, schreibt der Germanist Karl-Heinz Göttert in seinem Porträt zum heutigen 150. Todestag des Begründers der deutschen Philologie: "Wenn heute der für seinen Kampf gegen die Anglizismen bekannte Verein Deutsche Sprache zusammen mit einer Stiftung einen Jacob-Grimm-Preis verleiht (u.a. an Rolf Hochhuth und Udo Lindenberg), kann man sich nur die Augen reiben. Wir Germanisten haben jedenfalls einen etwas versponnenen, aber weltoffenen und in jeder Hinsicht vorzeigbaren Ahnherrn."

Weiteres: Gerhard Gnauck fasst osteuropäische Reaktionen auf den Tod Marcel Reich-Ranickis zusammen. Manuel Brug meldet den Wechsel des Intendanten Serge Dorny von Lyon an Dresdens Semperoper. Besprochen werden Robert Wilsons Inszenierung von Helmut Lachenmanns Oper "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" bei der Ruhrtriennale (laut Stefan Keim "ein starkes Raum-Klang-Erlebnis mit einer fast tänzerisch agierenden, wunderbaren Angela Winkler"), die Berliner Ausstellung "Painting Forever!" und Woody Gurthries Roman "Haus der Erde", der lange als verschollen galt und nun auf Deutsch erscheint.

Aus den Radios, 20.09.2013

Der SWR bringt aus Anlass des Todes Reich-Ranickis ein ausführliches Gespräch zwischen dem Literaturkritiker und Peter Voss aus dem Jahr 2005: Hier zum Nachhören (mp3, ca. 60 mb).
Stichwörter: SWR, Mp3

TAZ, 20.09.2013

Die heutige Ausgabe ist einmal wieder eine Karikaturen-taz, vertreten sind unter anderem Hauck & Bauer, Beck, Rattelschneck, Ari Plikat und Andreas Prüstel. Auf den vorderen Seiten erklärt Arno Frank, dass es nur etwa zwanzig Karikaturisten vergönnt ist, von ihrer Arbeit tatsächlich leben können, also "Sachverhalte aus Politik, Kultur oder Gesellschaft 'mit spitzer Feder aufzuspießen' oder 'bis zur Kenntlichkeit zu entstellen', um nur zwei der stets ömmeligen Umschreibungen dieser schwierigen Profession zu zitieren". Auf der Medienseite stellt Isabel Lott die erste und einzige deutsche Galerie für komische Kunst, die Caricatura in Kassel vor. Gabriela M. Keller lässt sich von Mathias Hühn beschreiben, wie man Witze auf Bestellung liefert. Und auf der Wahrheitseite spricht der taz-Haus- und Leib-und-Magen-Zeichner Tom unter anderem über das Problem von Stupsnasen bei Politikergesichtern.

Auf den Kulturseiten porträtiert Ralph Trommer den französischen Comic-Zeichner Emmanuel Guibert, der etwa in seiner Debüt-Graphic-Novel "Braun" das Aufkommen des Nationalsozialismus in Berlin gezeichnet hatte.

Besprochen werden Alain Guiraudies Spielfilm "Der Fremde am See", der Essayfilm "Room 237" von Rodney Ascher, der sich mit der kryptologischen Dechiffrierung von Stanley Kubricks "The Shining" befasst, und die DVD von Marcel Ophüls' vierstündigem Dokumentarfilm "Das Haus nebenan" über Résistance und Kollaboration im Vichy-Frankreich von 1969.

Und Tom.

NZZ, 20.09.2013

Schlimmer als die Überwachung durch Geheimdienste ist die freiwillige Preisgabe von Daten aus "Ignoranz, Geiz und Bequemlichkeit", meint der Basler Medientheoretiker Roberto Simanowski: "Wer das Lied der Transparenz singt, ist moralisch kaltherzig gegen die Ansprüche von Minderheiten und politisch naiv, weil er unterstellt, die geltenden Gesetze und Moralvorstellungen der Gesellschaft seien unantastbar. Sollte es nicht vielmehr Pflicht aller Bürger sein, das Recht des Verbergens zu schützen, indem es selbst praktiziert wird; vielleicht als in der Verfassung verankerte 'Supergrundpflicht'?"

Weiteres: Joachim Güntner referiert Reaktionen zu Marcel Reich-Ranickis Tod in der deutschen Presse. Marc Tribelhorn berichtet von der Zürcher Ausstellung über Karl den Großen. Peter Hagmann schreibt den Nachruf auf Hans Landesmann, den ehemaligen Musikdirektor der Wiener Festwochen und Gründer der Salzburger Biennale.

Auf der Musikseite erläutert der Sänger, Pianist und Produzent Allen Toussaint Jonathan Fischer die Rückbesinnung auf den Soul in New Orleans: "Vor 'Katrina' haben wir viel unserer überlieferten Kultur für selbstverständlich gehalten. Nun wissen die Menschen, was sie verlieren könnten. Und das ist gut so."

SZ, 20.09.2013

Volker Breidecker hält die Pädo-Diskussion rund um die Grünen kurz vor der Bundestagswahl für sachte unappetitlich: "Kinder (...) werden für propagandistische Zwecke instrumentalisiert; als gäbe es neben dem 'Missbrauch' von Kindern für triebhaft-sexuelle Motive auch einen rechten politischen 'Gebrauch', der von und mit ihnen zu machen sei. Und so mancher Biedermann von CDU oder CSU, der sich jetzt über das vermeintliche Versagen des Herrn Trittin empört, stammt aus Bundesländern, die sich beharrlich weigern, ihren finanziellen Beitrag zur Entschädigung von Missbrauchsopfern zu leisten."

Weitere Artikel: Jörg Feyer besucht ein Konzert von Laura Marling. Wolfgang Schreiber verabschiedet sich von dem Musikimpresario Hans Landesmann. Außerdem sondiert die SZ die Reaktionen auf Marcel Reich-Ranickis Tod.

Besprochen werden die Ausstellung "Loriots Spätlese" im Literaturhaus München (dazu passend aktuell beim br: ein ausführliches Radiofeature über Loriot), Mareike Mikats NSU-Theaterstück "Unter Drei" am Staatstheater Braunschweig (Till Briegleb ärgert sich über "mit Ironie blasierte Politrechthaberei", die "Verkniffenheit pauschaler Verdächtigungen" und per se über den "Verfall des politischen Reflexionsvermögens"), zwei Andy-Warhol-Ausstellungen in München (hier und hier), ein "Woyzeck" in Zürich und Bücher, darunter Mirko Bonnés Shortlist-Roman "Nie mehr Nacht" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 20.09.2013

Etwas verschnupft reagiert Michael Hanfeld im Medienteil auf die Meldung der taz, sie habe von der FAS eine Unterlassungserklärung erwirkt, die damit nicht mehr behaupten dürfe, Christian Füllers in der taz abgelehnten Artikel über Pädophilie und die Grünen im eigenen Blatt übernommen zu haben. Die Diskussion darum hält Hanfeld für "eine juristische Auseinandersetzung für Feinschmecker, die der taz-Chefredakteurin Ines Pohl vielleicht in den Kram passt, an der Sache aber vorbeigeht. Im Kern geht es nämlich um nichts anderes, als dass ausgerechnet der Autor, mit dem die taz sich zu diesem Thema schmücken könnte, kaltgestellt wird."

Weiteres im Feuilleton: Beim Durchblättern diverser Wahlprogramme stellt Constanze Kurz fest, dass allein FDP, Grüne und Linke vorhaben, bestehende Überwachungsgesetze abzubauen. Andreas Kilb würdigt Kulturstaatsminister Bernd Neumann. Thilo Wydra spricht mit der Schauspielerin Fanny Ardant. Jürgen Dollase schwärmt von den regionalkulinarischen Genüssen in der Jagstmühle. Ansonsten viele kurze Statements: Eine ganze Seite füllen die bei Prominenten eingeholten Notizen zu Reich-Ranickis Tod, eine weitere Stellungnahmen ausländischer Wahlbeobachter zum Stand der Dinge in Deutschland.

Außerdem trägt die FAZ weiterhin Trauer: Auf der ersten Seite verabschiedet sich nun auch Claudius Seidl von MRR, online gibt es einen neuen Nachruf von Felicitas von Lovenberg sowie Gerhard Stadelmaiers Würdigung des einstigen Literaturchefs des Blattes als großer Theatraliker.

Besprochen werden die Ausstellung aus Loriots Nachlass im Münchner Literaturhaus (Hannes Hintermeier ärgert sich über die inspirationslose Zusammenstellung: "reine Kulinarik"), neue Musikveröffentlichungen, darunter ausführlicher das neue Album von Erdmöbel, die Malerei-Ausstellungen der Berlin Art Week und Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).