Heute in den Feuilletons

Mit diesem üblen Ingrimm

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.11.2011. Die Welt fragt, warum dieser geradezu physische Ausländerhass in Ostdeutschland noch immer nicht eingehegt ist. In der taz bekennt der frühere Leiter der Münchner Mordkommission seine ganze Ratlosigkeit. In der FR erklärt Eric Hobsbawm, er hätte Irland und Griechenland nicht einmal in die EU aufgenommen. Die SZ wünscht sich Durchstich in der Literatur. Im Tagesspiegel verwahrt sich Hermann Parzinger gegen den "perfiden" Demontageversuch Heinz Berggruens.

Welt, 16.11.2011

Eine maue Stimmung macht Thomas Schmid nach den Enthüllungen um die Zwickauer Terrorgruppe aus. Am rätselhaftesten ist Schmid aber die staatliche Seite und dass "bei den Ermittlungen zu den neun Morden die Erwägung offensichtlich keine leitende Rolle gespielt hat, dass alle Erschossenen Ausländer waren. Dieser Umstand wurde... sogar auf empörende Weise gegen die Opfer und ihre Familien gewendet: Vermutlich handle es sich um "Milieuverbrechen", also Mafia, Schutzgelderpressung, krumme Geschäfte." Und Schmid rät, der Frage nicht auszuweichen, "warum in Teilen Ostdeutschlands der geradezu physische Ausländerhass noch immer nicht eingehegt und geächtet ist, sondern zu Teilen auf klammheimliche Zustimmung setzen kann."

Im Feuilleton mokiert sich Alan Posener nochmal über die theologischen Passagen in Martin Walsers letzte Woche in der FAZ groß verpuffter Harvard-Rede. Henryk M. Broder schreibt zum Tod von Franz Josef Degenhardt (""Franz Josef" war genau die Autorität, nach der wir, die jungen Antiautoritären, uns sehnten").

Besprochen werden Andreas Dresens neuer Film "Halt auf freier Strecke" (mehr hier), eine Ausstellung über die "Die Kunst des Zitierens" im ZKM Karlsruhe, ein Konzert von Alice Cooper und die Ausstellung "Angelo Soliman - Ein Afrikaner in Wien" im Wien Museum.

Tagesspiegel, 16.11.2011

Als "perfides Machwerk" bezeichnet Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Vivien Steins Buch über Heinz Berggruen, das sich an der Demontage des Kunsthändlers und Mäzens versucht: "Man möchte sich Wut und Scham gleichermaßen von der Seele schreiben, doch wichtiger ist es, die Fakten in Erinnerung zu rufen: Nach Berlin gab Heinz Berggruen seine umfangreiche und herausragende Sammlung zur Klassischen Moderne zunächst als langfristige Leihgabe, und ab 1996 waren mehr als 180 vortreffliche Werke, die Vivien Stein als 'Lagerbestand' abtut, in der Obhut der Nationalgalerie, ein seltener Glücksfall für die Berliner Museen! Für öffentliche Einrichtungen ohne nennenswerte Ankaufsetats sind solche Konvolute höchster Qualität auf dem freien Kunstmarkt seit jeher unerschwinglich."

Weitere Medien, 16.11.2011

(via Jezebel) Die Performance-Künstlerin Marina Abramovic hat für das Museum of Contemporary Art's in Los Angeles eine Wohltätigkeitsveranstaltung ausgerichtet. 2,5 Millionen Dollar wurden eingenommen, aber mein lieber Schwan, hat man den 750 Gästen was geboten! "Weibliche Models lagen nackt auf einer rotierenden Platte in der Mitte eines runden Esstischs", berichtet Marcy Medina in Women's Wear Daily, "halb bedeckt von einem Anatomie-Modell, einer Variante von Abramovics Arbeit 'Nude with Skeleton' aus dem Jahr 2001. An den langen Tischen waren wechselseitig zum Mittelstück alle paar Meter Köpfe lebender Modelle postiert. Diese Modelle waren offenbar auch nackt und knieten auf einem Drehteller unter den Tischen. [...] 'Ich finde es toll, dass sich jeder irgendwie unbehaglich fühlt', erklärt die in Rodarte gekleidete Tavi Gevinson ... 'Ich versuche ihn niederzustarren', sagt sie über ein stoisches männliches Modell neben ihrem Teller." (Darüber hätte Walser in Amerika schreiben sollen!)

FR/Berliner, 16.11.2011

Der britische Historiker Eric Hobsbawm kann im Interview auch nicht so genau sagen, wo die Reise der EU hingeht, aber rückblickend weiß er zwei Dinge doch genau: "Schon jene, welche in den 70er Jahren hinzukamen, Irland und Griechenland, waren, wie sich herausstellte, erhebliche Schwächepunkte. Es war wirtschaftlich Unsinn und politisch gefährlich, als nach dem Fall der Sowjetunion die EU nach Osteuropa ausgedehnt wurde." (Das ist ziemlich rüde für einen marxistischen Historiker.)

Der Ton von Vivien Steins Berggruen-Biografie stößt Sebastian Preuss sauer auf, aber die behaupteten Fakten - Steuerhinterziehung und und und - kommen ihm nicht abwegig vor: "Wer hat je geglaubt, dass Kunsthändler Heilige sind? Hätte Vivien Stein ihr Buch kühl und analytisch geschrieben - nur nicht mit diesem üblen Ingrimm. Es hätte ein Sittenbild des Kunsthandels werden können."

Weitere Artikel: Harald Jähner schreibt zum Tod des Liedermachers Franz Josef Degenhardt. Auf der Medienseite stellt Dirk Pilz das neue Philosophie Magazin und das ebenso neue Philosophiemagazin Hohe Luft vor. Marin Majica kommentiert Gerüchte, das nächste große Internetding könnte aus Berlin kommen: "Es scheint recht mühsam zu sein, das nächste Facebook zu gründen." (Im Gegensatz zu einer Kolumne für die FR? Ja, klar.)

Besprochen werden Andreas Dresens Film "Halt auf freier Strecke", die Ausstellung "Marcel van Eeden - Schritte ins Reich der Kunst" im Ausstellungshaus Mathildenhöhe Darmstadt und der Rimini-Protokoll-Abend zu Kleists "Herrmannsschlacht".

TAZ, 16.11.2011

Riesiger Aufwand, ehrlich, um die Morde an den türkischen Kleinhändlern aufzuklären, versichert der damalige Leiter der Münchner Mordkommission Josef Wilfling. "Es gab keine Ermittlungen in der Nachkriegszeit, die mit einem solch gigantischen Aufwand betrieben wurden wie diese. Aber alles, was wir hatten, waren Hinweise auf Radfahrer, die Fahrräder in ein Wohnmobil eingeladen haben. Dass die Täter Wahnsinnige sind, die mit einem Wohnmobil durch die Gegend fahren und Leute umbringen, darauf kamen wir nicht."

Im Kulturteil lauscht K. Erik Franzen beim Münchner Literaturfest der deutschen Literatur auf der Suche nach sich selbst. Jörg Sundermeier schreibt den Nachruf auf Franz Josef Degenhardt. Klaus-Peter Klingelschmitt erklärt, warum ihm seine Liebe zu Degenhardt auch heute nicht peinlich ist. Auf der Medienseite berichtet Felix Dachsel, wie arte die Kritik der Dokumentarfilmer an der Programmreform kontert: Man wolle auch künftig "intellektuell bereichern und intelligent unterhalten".

Besprochen wird das gut halbstündige Konzert von Lana del Rey in Berlin.

Und Tom.

NZZ, 16.11.2011

Hans Hartje stellt die beiden Genter Architekten Paul Robbrecht und Hilde Daem vor, die bisher vor allem in Belgien und den Niederlanden gebaut haben. Susanne Ostwald preist Lars von Triers erst jetzt in der Schweiz anlaufendes Endzeit-Eops "Melancholia".

Besprochen werden eine Ausstellung zu Filippino Lippi und Sandro Botticelli in Florenz um 1500 im Quirinale in Rom, die Tagebücher des Herzogs von Croÿ "Nie war es herrlicher zu leben", Tobias Wolffs Erzählungen "Unsere Geschichte beginnt" und Norbert Scheuers Heimatgedichte "Bis ich dies alles liebte" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 16.11.2011

Literatur lebt von der Sprache, nicht von politischen Stoffen schreibt Ina Hartwig den jungen Gegenwartsautoren ins Notizbuch. Was gute Literatur brauche, sei der Durchstich, das, was Liao Yiwu schaffe, Eugen Ruge eher nicht: "Es wäre das Bild, die Szene, der Vers oder auch die geniale Auslassung, die den Durchstich schafft, die das Tor aufstößt, um eine Euphorie zu erzeugen, die ohne gestaltete Sprache gar nicht möglich wäre. Dazu bedarf es keiner pompösen Erfindung, keines üppigen Surrealismus, keiner apokalyptischen Zukunftsvision. Es bedarf aber eines glaubhaften, komplexen Energiestroms, altmodisch gesagt: eines Gefühls, den oder das durch Sprache freizusetzen das Privileg der Literatur bleibt."

Weiteres: Willi Winkler schreibt eine kleine Waffengeschichte des terroristischen Tötens. "lorc" meldet, dass Ai Weiwei die Strafzahlung leisten wird, zu der er von den Steuerbehörden verdonnert wurde, ihre Rechtmäßigkeit aber weiterhin bestreitet. Hilmar Klute erinnert an Franz Josef Degenhardt. Anke Sterneborg unterhält sich mit Filmregisseur Andreas Dresen über das Sterben, das in seinem neuen, von Martina Knoben besprochenen Film "Halt auf freier Strecke" eine zentrale Rolle einnimmt. Peter Vogt berichtet von den Diskussionen beim Münchner Vortrag des Ideenhistorikers Jonathan Israel über Spinoza und dessen Funktion für die Revolutionen im späten 18. Jahrhundert. Laura Weißmüller hat den neuen Erweiterungsbau des San Telmo Museums in San Sebastian inspiziert. Christoph Haas berichtet von der sechsten Jahrestagung der Gesellschaft für Comicforschung, Helmut Schödel von der Vergabe der "Nestroy"-Theaterpreise in Wien und Franz Himpsl von der Geschwister-Scholl-Preisverleihung in München, die vor allem den chinesischen Schriftsteller Liao Yiwu ehrte. Max Fellmann unterhält sich mit Stuart Baker, der auf seinem Label "Soul Jazz" musikhistorisch essenzielle Compilations zusammenstellt.

Besprochen werden neue CDs, eine Ausstellung mit Roma-Kunst im Berliner Kunstquartier Bethanien und Bücher, darunter der dritte Teil aus Haruki Murakamis Romanzyklus "IQ84" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 16.11.2011

Ex-Bundesinnenminister Gerhart Baum wünscht sich eine europaweite, wenn nicht globale Bürgerbewegung für die informationelle Selbstbestimmung: "Der umfassende Schutz der Privatheit vor staatlicher und privater Macht ist eines der großen Freiheitsthemen dieser Zeit." Rose-Maria Gropp frohlockt über das nach einem Umbau wiedereröffnete Städelmuseum in Frankfurt und dessen Ausstellung "Kunst der Moderne 1800-1945". Olaf Sundermeyer berichtet von Debatten in der rechtsextremen Szene um die NPD. Kerstin Holm schildert die grauenhaften Zustände in russischen Gefängnissen. Marcus Jauer macht sich Gedanken über Alternativlosigkeiten in der Demokratie angesichts der überkomplexen Schuldenkrise. Im Nachruf betrauert Dieter Bartetzko Franz Josef Degenhardt.

Besprochen werden Andreas Dresens neuer Film "Halt auf freier Strecke", eine Ausstellung über den Konflikt zwischen König Friedrich Wilhelm I. und seinem Sohn von 1730 im Schloss Köpenick und Bücher, darunter ein Buch über Cyberanthropologie (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).