Heute in den Feuilletons

Unter Blumen eingesenkte Kanonen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.11.2010. Die FR bringt ein Interview mit Raphael Gross, dem Leiter des Jüdischen Museums in Frankfurt. In der SZ beklagt sich Peter Handke, dass sich die Medien immer wieder mit seinem Verhältnis zu Karadzic aufhalten, wo er doch so schöne Bücher schreibt. Die NZZ erzählt, warum die Nazis Chopin fürchteten. Irights.info fragt vor der Anhörung im Bundestag: Leben Autoren wirklich vom Urheberrecht? Die taz porträtiert Künstlerin Michaela Melian, deren "Memory Loops" von München zwar als Gedenkkunstwerk ausgezeichnet, aber nicht gerade promoted wurden.

TAZ, 27.11.2010

Marianne Halser stellt das NS-Gedenkprojekt (hier im Netz) der Künstlerin Michaela Melian vor, das von der Stadt München als Sieger eines Wettbewerbs in Auftrag gegeben wurde, jetzt aber nicht gerade aggressiv promotet wird: "Angereichert mit Zeitungsausschnitten, Flugblättern und Registereinträgen, unterlegt mit musikalischen Eigenkompositionen der Künstlerin entstand eine Audiocollage, die sich wie ein vielschichtiges Stimmengewirr über die gesamte Stadt legt. Nur am jeweiligen Ort des Geschehens verdichten sich die zum Zweck der künstlerischen Verfremdung von Schauspielern gesprochenen Erinnerungen zu einer geografischen Einheit." Das Problem, so Halser: die Hinweistafeln an den Orten des Geschehens sind extrem übersehbar.

Weitere Artikel: Andreas Fanizadeh klärt die Herkunft des hier und da und auch in der taz und dann wieder hier und da (hier) diskutierten Manifests "Der kommende Aufstand": "Es entstammt altlinker Echtheits-Folklore." Dem "unbedarften Beobachter der Ordensszene" macht Christian Semler klar, was es mit der von Verteidigungsminister zu Guttenberg avisierten "Gefechtsmedaille" auf sich hat. Außerdem stellen taz-Kultur-RedakteurInnen ihre Lieblingsbücher des Jahres vor.

In der beiliegenden literataz geht es unter anderem um zwei Romane von Goran Petrovic und Milovan Danojlic aus dem Leipziger-Buchmessen-Gastland Serbien

Besprochen werden das vierte N.E.R.D.-Album "Nothing, 

Und Tom.

Weitere Medien, 27.11.2010

Am Montag findet im Bundestag eine Anhörung zum Urheberrecht und zum Drängen der Presseverlage nach einem Leistungsschutzrecht statt. Ilja Braun zerstört in einem lesenswerten Essay für irights.info den Mythos, dass das Urheberrecht den Autoren ihre Einnahmen sicherte - in Wriklichkeit hängen diese nämlich von ihrer Position am Markt ab. Es sind vor allem die Verwerter, die mit Pochen auf Rechte Politik machen: "Wenn der Börsenverein des Deutschen Buchhandels das Internet immer wieder als 'rechtsfreien Raum' zu diskreditieren versucht, so verfolgt er damit nicht die Interessen der Autoren, sondern seine eigenen. In Gefahr geraten ist nämlich nicht das Urheberrecht, sondern das Vermarktungsmonopol der Verleger."

FR, 27.11.2010

Im Gespräch mit Arno Widmann erläutert Raphael Gross, Leiter des Jüdischen Museums in Frankfurt, seine Konzepte und seine Vorstellungen davon, was jüdisch ist. Auch um Antisemitismus geht es dabei: "Wir arbeiten mit allgemeinen Charakterisierungen. Von denen kann man immer sagen, es handele sich um Vorurteile. Auch ein jüdisches Museum muss mit Verallgemeinerungen arbeiten. Das ist hier natürlich besonders problematisch, weil es die Auffassung gibt, verallgemeinernde Vorurteile seien der Kern des Antisemitismus. Das ist in meinen Augen aber selbst ein Vorurteil. Beim Kern des Antisemitismus geht es um negative Gefühle, nicht um Vorurteile."

Weitere Artikel: Guido Fischer berichtet von den Tagen Alter Musik in Herne

Besprochen werden Tilmann Köhlers Dresdner Inszenierung von Sophokles' "König Ödipus", ein Konzert, bei dem das HR-Sinfoniorchester unter Gianandrea Noseda Mahlers erste Sinfonie flott zum besten gab, ein Konzert mit protestantischen Kantaten, gesungen von Emma Kirkby, in der Alten Oper und (groß) Malte Herwigs "Peter Handke"-Biografie (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 27.11.2010

Die Philosophin Elisabeth Badinter ("Der Konflikt") klingt fast schon verzweifelt, wenn sie im Interview junge Frauen davor warnt, allein auf die Mutterrolle zu setzen: "Man muss doch wissen, dass die Hälfte der Ehen und Beziehungen scheitert. Das heißt, es kommt der Tag, an dem die Frau allein ist mit dem Kind, womöglich angewiesen auf einen spärlichen Unterhalt. Das heißt doch, dass man ein Interesse daran haben muss, seine ökonomische Unabhängigkeit trotz Mutterschaft niemals zu verlieren. Und eines Tages ist das Kind aus dem Haus, wenn Sie dann keine interessante Arbeit haben, finden Sie sich mit 45 Jahren ohne Aufgabe. Was machen Sie dann? Es ist nicht vernünftig, sein ganzes Leben auf zehn oder 15 Jahre Mutterschaft zu setzen."

Welt, 27.11.2010

Im Feuilleton erinnert sich Rotraut Klein-Moquay im Interview an ihren Mann, den 1962 gestorbenen Künstler Yves Klein. Laura Ewert stellt das neue Album des Rappers Kanye West vor. Berthold Seewald weiß von Fernand Braudel, dass Gyros Weltkulturerbe ist. Harriet Köhler geht essen mit Martin Walser, der etwas zu spät kommt: "Er habe sich nicht erinnern können, ob wir um halb sieben verabredet waren oder um sieben ('der kleine Walter Jens in meinem Kopf')".

In der Literarischen Welt (heute morgen nicht online) klagt Jonathan Franzen über Handys und den Niedergang des öffentlichen Raums. Fritz J. Raddatz bespricht Siegfried Unselds "Chronik".

NZZ, 27.11.2010

Gerhard Gnauck erzählt, warum die Nationalsozialisten Chopins Musik fürchteten: "Die deutschen Behörden hatten in ihren 'Kulturpolitischen Richtlinien' von 1940 strengste Auflagen erlassen: Im Musikleben im besetzten Polen sei 'primitive Unterhaltung' gestattet, auch solche erotischer Natur, jedoch nichts, was 'künstlerische Erlebnisse' verheiße. Aus der polnischen Musik seien 'Märsche, Volkslieder sowie klassische Werke' verboten. Überhaupt: Der 'Geist des Polentums' dürfe auf keiner Veranstaltung in Erscheinung treten. (...) Für sich selbst spielten die Polen - illegal, versteht sich - am liebsten die 'Revolutionsetüde' sowie die As-Dur-Polonaise. 'Am interessantesten war, dass man in den Buchhandlungen noch die Werke unserer größten Dichter kaufen konnte, aber nicht Chopin spielen durfte', erzählt [der Pianist] Jan Ekier und erinnert an Robert Schumanns berühmtes Diktum: Chopins Werke seien 'unter Blumen eingesenkte Kanonen'."

Hier beweist es Swjatoslaw Richter:



Weitere Artikel: Marta Kijowska erzählt, wie polnische Schriftsteller Chopin würdigten (meistens "aus der Position des Bewunderers und Dieners" heraus). Der Schriftsteller Michael Mettler fragt, ob Schriftsteller heute noch zu gesellschaftlichen oder politischen Fragen Stellung nehmen sollten: Seine Antwort ist jein, sie sollten jedenfalls nicht damit rechnen, dass ihnen jemand zuhört. In den Bildansichten betrachtet Jürg Halter eine Fotografie von Walter Pfeiffer: "Verwandlungen".

Im Feuilleton berichtet Franz Haas über den großen Erfolg, den Roberto Saviano im italienischen Fernsehen hat: "Zehn Millionen sahen an einem Abend die Sendung 'Vieni via con me' (Komm weg mit mir), in der laut Vertrag der Schriftsteller Roberto Saviano und der Moderator Fabio Fazio in vier Folgen 'Kultur und Unterhaltung' unters Volk bringen sollen."

Weiteres: Martin Meyer würdigt 40 Jahre Tatort. Besprochen werden Bücher, darunter Rawi Hages Roman "Kakerlake" und ein Reportageband von Wojciech Jagielski über Kindersoldaten in Uganda (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 27.11.2010

Thomas Steinfeld ist nach Paris gefahren, Peter Handke zu treffen, für ein Gespräch. Er ist immer noch ganz betroffen, dass man seine politischen Stellungnahmen so ernst genommen hat: "Ich habe so schöne Sachen geschrieben, die 'Morawische Nacht', und dann kommt irgendein politisches Ereignis, und das Buch ist weg. Stattdessen taucht so eine absurde Geschichte wieder auf wie die neulich, von meinem Besuch bei Radovan Karadzic im Dezember 1996, und alles bekommt einen falschen Schein."

Weitere Artikel: Niklas Hofmann verweist auf einen Artikel (unser Resümee) von Tim Berners-Lee, der sich zum zwanzigsten Geburtstag des World Wide Web Sorgen macht, dass die Offenheit des Netzes durch die Insularität von Facebook oder Apple verschwinden könnte. Von wegen, das Musikvideo sei tot, schreibt Jens-Christian Rabe: Im Netz lebt es, wie jüngste Beispiele von Spike Jonze (für Arcade Fire) oder Jonas Akerlund (für Kanye West) beweisen. Christine Dössel porträtiert Fitzgerald Kusz, den Vater der fränkischen Mundartdichtung, und schreibt auch über sein neues, allerdings etwas enttäuschendes Stück "Lametta". Gemeldet wird, dass im Nationalmuseum in Peking im nächsten Jahr "Kunst der Aufklärung" aus Berlin, Dresden und München zu sehen sein wird. 

Im Aufmacher der SZ am Wochenende plädiert Heribert Prantl auch in Zeiten der Terrorwarnungen für Augenmaß und interreligiösen Dialoge als "gemeinsamen Aufstand der Religionen gegen einen anmaßenden Terrorismus". Rudolf Neumaier erzählt in einer Geschichte aus dem tiefsten Bayern, wie ein psychisch kranker junger Mann von einem katholischen Orden auf dubiose Weise fast entmündigt worden wäre. Auf der Historienseite geht es um die Kreuzzüge aus islamischer Sicht. Willi Winkler besucht den Beatles-Fotografen Robert Whitaker. Rebecca Casati unterhält sich mit der Sängerin Beth Ditto übers Überleben, vor allem der Highschool.

Besprochen wird eine Ausstellung mit Werken des dänischen Künstlers Poul Gernes in den Hamburger Deichtorhallen.

FAZ, 27.11.2010

Lisa Zeitz wandert durch die Volksboutique der Künstlerin Christine Hill. Mark Siemons erzählt, wie der Sinologe Wolfgang Kubin (Homepage) kürzlich einen chinesischen Fernsehmoderator schockierte mit der Erklärung: "Ich hasse den Markt!". Josef Oehrlein berichtet über die etwas mutlose Biennale in Sao Paulo. Marcus Jauer besucht Konstantin Neven DuMont und bringt die FAZ-Leser auf den Stand der "Affäre".

Besprochen werden die Ausstellung "Lenine, Staline et la musique" in der Pariser Cite de la musique (Video), Suse Wächters "mit hinreißendem Spielwitz" brillierende Inszenierung von "Agrippina" in Köln, die Ausstellung "Revisited" im AlliiertenMuseum Berlin, das Debütalbum des jordanisch-deutschen Komponisten Saed Haddad sowie CDs von Kanye West und Sean Carey.

In Bilder und Zeiten sieht Hannes Hintermeier Bayern und CSU auf dem Weg zur Scheidung. David Gern spielt das Videospiel "Micky Epic", mit dem Disney das Image seine Maus aufpeppen will. Peter Duchamps fährt im Bus durch den Norden Burmas.

Außerdem gibt es heute eine Literaturbeilage. Der Aufmacher ist Vanessa F. Fogels Romandebüt "Sag es mir" gewidmet. In der Frankfurter Anthologie stellt Joachim Sartorius ein Gedicht von Andreas Gryphius vor: "Vberschrifft an dem Tempel der Sterbligkeit".