Heute in den Feuilletons

Wir haben etwas vergessen im Untergrund

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.11.2010. In der Welt schildert Colm Toibin die irische Katastrophe auch als ein Versagen Europas. Und Alan Posener fordert die Abschaffung des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts. Die NZZ fragt sich, warum die lettischen Russen lieber den russischen als den lettischen Pass beantragen. Die Berliner  Zeitung berichtet über Kultursparzwänge in deutschen Gemeinden. Die SZ druckt eine eher apokalyptisch gestimmte Zukunftsrede von Volker Braun. BoingBoing beobachtet die Reaktionen der Medien auf die jüngsten Wikileaks-Enthüllungen.

NZZ, 29.11.2010

Die Integration der russischen Bevölkerung scheint in Lettland immer noch nicht zu gelingen, berichtet Gerhard Gnauck: "Ein Teil der Russen ist offenbar integrationsresistent. Die Zuwanderer der Sowjetzeit müssen einen Sprachtest ablegen, wollen sie die Staatsbürgerschaft erhalten. Manche fallen durch, andere verweigern sich, so dass bis heute 15 Prozent der Einwohner Lettlands als Staatenlose 'Fremdenpässe' haben. Zugleich setzt Moskaus Diplomatie verstärkt auf die Zusammenarbeit mit den russischen 'Landsleuten' im Baltikum. So wurden 2009 in Lettland erstmals mehr russische als lettische Papiere beantragt: 4000 Personen erhielten den 'roten' russischen Pass."

Weitere Artikel: Navid Kermani schreibt einen atmosphärisch starken Essay über sein multikulturelles Wohnviertel in Köln und die - auch von Martin Mosebach gestützte - Vermutung, dass es so etwas wie einen Glauben brauche, um Literatur zu verfassen. Andrea Amort stellt den französischen Tänzer Manuel Legris vor, der das Wiener Staatsballett erneuert. Besprochen wird die Ausstellung "Die Staufer und Italien" in Mannheim.

Aus den Blogs, 29.11.2010

BoingBoing hat erste Reaktionen auf die von Wikileaks veröffentlichten Dokumente amerikanischer Diplomaten gesammelt:
"- Reuters sums up early reactions from pundits. Most agree that the leaks are unprecedented and will frustrate diplomatic links with certain countries and people. A British think tankee believes that nothing seismic will happen to Earthly geopolitcs because the really secret stuff hasn't and probably won't get leaked. Millions of people already had access to these cables.
- Editorials from newspapers about their 'decision' to publish the leaks have begun appearing! Here's Le Monde's. Of the outlets involved, the New York Times again seems quite resentful at being unable to ignore the scoops Wikileaks feeds it. Compare to The Guardian's exultations."

Der Spiegel behauptet, dies sei ein "ein GAU für die amerikanische Außenpolitik ... Nie zuvor ist das Vertrauen von Amerikas Partnern in aller Welt so erschüttert worden: Nun können sie ihre persönlichen Ansichten und Empfehlungen öffentlich nachlesen - und dabei eben auch erfahren, wie die Weltmacht wirklich über sie denkt."

In TechCrunch streicht Erick Schonfeld heraus, dass die enthüllten Dokumente auch die chinesische Regierung in Verlegenheit bringen könnte, denn es zeigt sich in den Dokumenten, dass sie tatsächlich hinter den Angriffen gegen Google stand, die den Internetkonzern veranlassten, in dem Land wesentlich vorsichtiger zu agieren als bisher.

Welt, 29.11.2010

Auf der Meinungsseite schildert Colm Toibin in einem kurzen Schlaglicht die irische Katastrophe aus der Sicht der Iren: "Die Banken überschütteten uns mit Geld. Die Regierung hielt die Banker für Helden. Niemand in Europa schlug Alarm, um dem Spaß ein Ende zu bereiten."

Nach der Enttarnung eines wichtigen Mitarbeiters als Stasispitzel zählt Alan Posener noch mal die zahlreichen Fehlleistungen des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts auf und plädiert am Ende für dessen Schließung. Schon der Totalitarismusbegriff sagt ihm nicht zu: "Im Totalitarismusbegriff (verschwindet) die Verantwortung der konservativen Eliten, die Hitler die Macht übergaben und seine zunächst schwache und keineswegs 'totalitäre' Diktatur stützten. Genau deshalb zog das Institut Historiker an, denen es um die 'Historisierung' des Holocaust und die Relativierung der deutschen Schuld im Interesse eines neuen 'Kulturpatriotismus' geht.""

Weitere Artikel: Manuel Brug unterhält sich mit Clemens Helberg, Orchestervorstand der Wiener Philharmoniker, die ab Mittwoch unter Christian Thielemann alle Neune von Beethoven in Berlin aufführen. Hanns-Georg Rodek schreibt über den Film "Habermann" des tschechischen Regisseurs Juraj Herz, der die Vertreibung der Sudetendeutschen thematisiert. Hanns-Josef Ortheil bespricht für die Rubrik "Das Wort vom Sonntag" die Predigt des Stuttgarter Prälaten Michael Brock.

Berliner Zeitung, 29.11.2010

Birgit Walter resümiert die Kultursparzwänge in deutschen Ländern und Kommungen (die insgesamt 8 Millarden Euro für Kultur ausgeben, so viel wie wir auch für die öffentlich-rechtlichen Sender berappen): "Natürlich ist es eine unerhörte Kulturleistung, dass jedes siebte Opernhaus der Welt in Deutschland steht, Die Zeit ermittelte: 84 von 560. Solange die Häuser voll sind und begeistern, arrangiert sich die Nation auch mit Zuschüssen von 100 Euro pro Opernticket. Wenn allerdings die Theater zur Hälfte oder einem Drittel leer bleiben und die zugehörigen Städte zeitgleich vor einem Kollaps stehen, müssen auch Fragen nach Kürzungen in der Kultur erlaubt sein."

FR, 29.11.2010

Die FR stand heute morgen nicht online.

Klaus Selle
, Professor für Stadtplanung zieht im Interview mit Hans-Hermann Kotte eine klare Lehre aus den Stuttgarter Protesten gegen einen neuen Bahnhof: "Wer der Forderung, dass sich Stadtentwicklung nicht über die Köpfe der Menschen hinweg vollziehen soll, gerecht werden will, muss sich an sehr viel weiter reichenden Standards orientieren als denen, die die Planungsgesetze vorschreiben."

TAZ, 29.11.2010

Gabriele Goettle besuchte für ihre Reportage diesmal den Historiker Wolfgang Dreßen. Es geht um "Arisierungsakten", die als "normale" Steuerakten in Vergessenheit geraten waren, bis Dreßen sie ausgrub und ausstellte. "Aber mal zu den Akten selbst: Also, wenn man da so drübersitzt und blättert in den Originalen, sieht die handschriftlich ausgefüllten Bögen? Ganz vorn ist immer die 'Verfügung', obenauf liegend. Da steht drauf, weshalb das Verfahren rechtens ist. Das ist sehr wichtig, denn die übliche Sicht auf 'Arisierung' ist ja der plündernde SA-Mann, der Mob. Das war die Ausnahme. Hier aber sehen wir sozusagen die Regel, den plündernden Staat, die vollziehende Behörde, die Vorschriften und Verfahren korrekt einhält. Und wie kam die Verfügung, dieses wichtige Dokument ins Haus? Das brachte der Gerichtsvollzieher per Zustellungsurkunde. Derselbe Gerichtsvollzieher, den man auch am Hals hatte als Schuldner. Also der Vollstreckungsbeamte. Oft war er vielleicht nicht mal in der Partei."

Weiteres: Nina Ernst untersucht die wirklichkeitstreue Darstellung von Geschichte in Computerspielen. Tim Caspar Boehme schreibt zum Tod des Designers und Musikers Peter Christopherson. Besprochen wird das neue Album von Calle 13 ("Abrechnung mit den Sehnsüchten der 'clase media baja', der unteren Mittelklasse, ist immer wieder Thema", freut sich Christoph Twickel).

Und Tom.

SZ, 29.11.2010

Nach dem Massaker der Illusionen, wie sieht sie aus, die Zukunft? Volker Braun sieht in seiner Zukunftsrede, die er im Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen gehalten hat, eher schwarz. "Das ist der Kernbereich der Fabrik. Ich habe Zukunft erlebt, die von gestern war, eine höhere Lebensform mit niedrigerm Standard, Gemeineigentum ohne Verfügungsgewalt. Verwerfung der Gegend der Liebe im Sachzwang der Arbeit für morgen; die Republikflucht der Utopien in die Messer der Konsumschlacht. Wir haben etwas vergessen im Untergrund, Hammer oder Sichel oder Zirkel, etwas Unbewiesenes! etwas in Verzückung. Für den Letzten soll die Welt gemacht sein."

Der Soziologe Armin Nassehi findet die "Sehnsucht" nach einer deutschen Leitkultur kleinbürgerlich und unpatriotisch. Man sollte sich für die Lebensformen seines Nächsten nur interessieren, wenn er einem als Bürger ins Gehege kommt. "Eine solche Haltung hat nur das sozialverträgliche Nebeneinander unterschiedlicher Lebensentwürfe im Blick und kann sogar parallele Welten aushalten, solange diese sozialverträglich bleiben."

Weitere Artikel: Woody Allen verkündet im Interview über seinen neuen Film "Ich sehe den Mann deiner Träume": "Alles ist gleichmäßig bedeutungslos, vom Terrorismus bis zu der Frage, ob mein Smoking rechtzeitig für eine Filmpremiere aus der Reinigung kommt." Vasco Boenisch meldet die Verleihung des Deutschen Theaterpreises "Der Faust". Catrin Lorch schreibt zum Tod der Kunstsammlerin Irene Ludwig.

Besprochen werden die Ausstellung "Holbein d. Ä. Die Graue Passion in ihrer Zeit" in der Staatsgalerie Stuttgart, die Ausstellung "Nan Goldin. Berlin Work" in der Berlinischen Galerie, DVDs von Dominik Graf, Kurosawa und Chris Marker, einige lokale Ereignisse und Bücher, darunter Franz Rosenzweigs "Hegel und der Staat" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 29.11.2010

Für den Aufmacher liest Paul Ingendaay Akten der spanischen Zensurbehörde zu den frühen Romanen Vargas Llosas. Als exemplarisch für die Folgen der "Ökonomisierung des akademischen Betriebs" beschreibt Oliver Tolmein den Niedergang der Sexualmedizinischen Ambulanz der Universität Frankfurt. Vom großen Leos-Janacek-Festival in dessen Heimatstadt Brünn berichtet Dirk Schümer. Rolf Dobelli warnt in seiner "Klarer Denken"-Serie vom dem scheinbar "Sinnhaften" von Geschichten. In der Glosse mokiert sich Edo Reents über französische Genderdiskussionen zur Frage, ob eine Ministerin "le" oder "la" ministre ist.

Besprochen werden die Ausstellunf "Tronies - Marlene dumas und die Alten Meister" in München, Jan Bosses Hamburger "Was ihr wollt"-Inszenierung, und Bücher, darunter Theodor W. Adornos aus dem Nachlass veröffentlichte Vorlesung "Einführung in die Dialektik" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).