Heute in den Feuilletons

Das sagen wir so nicht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.06.2009. Die FR steht bei der Biennale mehr auf slowakischen Charme als auf Deutsch sprechende Katzen. In der NZZ rühmt Aleksandar Hemon die Schönheit der englischen Sprache. Wo landen eigentlich die 100 Millionen Euro, die Kulturminister Bernd Neumann der Kultur versprochen hat, fragt die Berliner Zeitung. Die Piraten sind ins Europäische Parlament eingezogen, meldet Heise. In der FAZ fordert ein Vertreter der Musikindustrie die Kultur-Flatrate, um sich eine "angemessene" Vergütung zu sichern.

FR, 08.06.2009

Auf der Medienseite berichtet Daniel Bouhs vom Treffen des Netzwerks Recherche, bei dem unter anderem SZ-Redakteur Heribert Prantl die lieben Kollegen aufrief, ihre Aversion gegenüber dem Internet noch einmal zu überdenken: "Blogs etwa seien gar keine Gefahr für den Qualitäts-Journalismus, wohl aber, wie in den USA, 'eine Selbsthilfe', wenn die Presse 'zu lange versagt'. Prantl wünschte sich deshalb: 'Man sollte damit aufhören, Gegensätze zu konstruieren, die es gar nicht gibt.' Der Amateurjournalismus in Blogs sei 'am Ende doch eine Chance für eine fruchtbare Zusammenarbeit'."

Aus Venedig schickt nun auch Sandra Dannicke ihre ersten Eindrücke von der Biennale. Demnach schneidet im direkten Vergleich die Slowakei deutlich besser ab als Deutschland, dessen Pavillon von Liam Gillick gestaltet wurde: "Liam Gillick hat eine äußerst große, sämtliche Flügel verbindende Einbauküche aus Tannenholz hinein gebaut, gedacht, als 'eine Art Diagramm aus Modernitätsbestreben und Funktionalität'. Als solches übernimmt sie angeblich die Aufgabe, "gegen die Ideologie der Pavillon-Architektur zu arbeiten'. Ein Vorhaben, das durch die Banalität der Durchführung gründlich scheitert und durch eine 'sprechende' Katze auf einem der Schränke vollends lächerlich erscheint. Wenn bei dieser 53. Kunstbiennale jemand erfolgreich gegen die Ideologie der Pavillon-Architektur opponiert hat, dann ist das der slowakische Künstler Roman Ondak, der einfach ein Stück der den Repräsentationsbau direkt umgebenden Landschaft genommen und verdoppelt hat... Charmanter kann man die nationale Symbolik nicht negieren."

Weiteres: Christian Schlüter zeichnet 75 Jahre nach seinem Entstehen ein Porträt von Donald Duck. Jamal Tuschick berichtet recht reserviert von der Verleihung des Börne-Preise an FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, die Laudatio hielt Necla Kelek. Christoph Schröder war auf dem Frankfurter Festival "natur, lyrisch". Stefan Keim hat Stücke von Darja Stocker und Werner Fritsch bei den Ruhrfestspielen gesehen. In Times mager erzählt Judith von Sternburg von dramatischen Entwicklungen im Eisverkauf in Weil am Rhein.

Besprochen werden Teles neues Album "Jedes Tier" und Georges Feydeaus Komödie "Floh im Ohr" bei den Burgfestspielen in Bad Vilbel.

NZZ, 08.06.2009

Die NZZ war heute morgen noch nicht online. Vielleicht sehen Sie später noch einmal selbst nach.

In einem ganzseitigen Gespräch unterhält sich Thomas David mit den beiden amerikanischen Autoren Junot Diaz (mehr hier) und Aleksandar Hemon (mehr hier) über postnationale Literatur, die Great American Novel und die englische Sprache. Hemon findet sie ein bisschen demokratischer als alle anderen Sprachen: "Ich bin im südslawischen Sprachraum aufgewachsen, wo Nationalisten durchaus noch immer behaupten können, dass alles, was man in seiner Sprache sagt, die Seele des Volkes verkörpere. Es gehört zur Schönheit des Englischen, dass es auf diese Weise längst nicht mehr missbraucht werden kann. Jeder kann die englische Sprache zu seiner Heimat erklären, und niemand kann aus ihr verbannt werden. Als ich in den USA mit dem Schreiben begann, gab ich meiner damaligen Frau, einer Amerikanerin, etwas von mir zu lesen, und sie sagte: 'Das sagen wir so nicht.' Woraufhin ich antwortete: 'Jetzt schon.' Jeder kann seine Erfahrungen mit einer fremden Sprache ins amerikanische Englisch einbringen, ohne fürchten zu müssen, aus ihm vertrieben zu werden, und das erscheint mir doch ziemlich einzigartig."

Ulrich M. Schmid sichtet die neuen Dokumente, die zu Marcel Reich-Ranickis Vergangenheit in der volkspolnischen Nomenklatur aufgetaucht sind und entnimmt ihnen, "dass es in der Lustrationsdebatte der ehemaligen Ostblockstaaten keine deutliche Trennlinie zwischen Opfern und Tätern gibt. Gewiss war Marcel Reich-Ranicki für kurze Zeit ein Profiteur des kommunistischen Systems und spielte im konservativen Milieu der Londoner Exilpolen den Maulwurf. Gleichzeitig zeigt sich nun aber, dass er in den fünfziger Jahren zwischen kritischer Ablehnung und opportunistischer Annäherung an das Regime schwankte."

Weiteres: Marion Löhndorf besichtigt die rundumerneuerte Whitechapel Gallery im Londoner East End. Barbara von Reibnitz liest die neue Ausgabe der historischen Zeitschrift Traverse. Besprochen werden die beien in Zürich aufgeführten Kurzopern von Mascagni und Leoncavallo "Cavalleria rusticana" und "Pagliacci".

Welt, 08.06.2009

Wolf Lepenies würdigt George Orwells Roman "1984", der vor 60 Jahren erschien. Michael Wohlgemuth berichtet über eine Konferenz zur Frage "Ist die Freiheit noch zu retten" auf dem Hambacher Schloss. Hannes Stein besucht Hannah Arendts Grab auf dem Friedhof des Bard Colleges. Peter Dittmar beschreibt im Kommentar das vorsichtige vorsichtige Spinnen neuer Fäden zwischen China und Taiwan. Nichts von Bedeutung hörte Manuel Brug bei den Hallenser Händelfestspielen. Hildegard Stausberg informiert über den neuesten Stand in Sachen Kölner Stadtarchiv: mehrere Jahrzehnte soll die Restaurierung des Materials dauern und einen "Betrag im dreistelligen Millionenbereich" kosten. Hannelore Crolly war bei einem Kongress über die "Kulturen von James Bond" in Saabrücken (klingt, als sei er Bazillenforscher gewesen). Matthias Heine gratuliert Günter Amendt zum Siebzigsten.

Besprochen werden "Der Zauberlehrling" von Rimini-Protokoll in Berlin, die Uraufführung von Sibylle Bergs Satire "Helges Leben" als Oper in Bielefeld und eine Ausstellung in Münchens Alter Pinakothek, die einem ihrer Sammlungsgründer huldigt, dem Kurfürsten Johann Wilhelm.

Auf der Forumsseite erinnert der Philologe Theo Stemmler an den rebellischsten der amerikanischen Gründerväter, Thomas Paine, der vor 200 Jahren starb.

Berliner Zeitung, 08.06.2009

Kulturminister Neumann hat stolz verkündet, dass er einen großen Batzen des jüngsten Konjunkturporgramms für Kultur abzweigen konnte, aber davon kommt nichts bei den Kulturtreibenden an, schreibt Birgit Walter: "100 der 500 Millionen Euro aus dem jüngsten Konjunkturpaket hat er für die Kultur erobert. Zugleich erreichte uns der offene Brief von Künstlern aus Pankow mit der Nachricht, dass sie in diesem Jahr von ihrem Bezirk kein Geld mehr bekämen. Die Fördermittel seien vollständig gestrichen, auch die schon versprochenen. Wer hat die 150.000 Euro eigentlich, die in die Projekte von Künstlern fließen sollten? fragen sie sich. 150.000 - das ist die Summe, um die es im Kulturleben des Bezirkes Pankow (auch Prenzlauer Berg und Weißensee gehören dazu) geht, während ein offensichtlich anderes Berliner Kulturleben durch Millionensummen aufgemöbelt wird."
Stichwörter: Geld, Prenzlauer Berg

TAZ, 08.06.2009

Der Rapper Samy Deluxe spricht im Interview über seine Autobiografie "Dis wo ich herkomm". Jeanne Guerot hat sich die Vorschläge für eine neue Stadtplanung von Paris in der Cite de l'Architecture et du Patrimoine angesehen. Brigitte Werneburg berichtet über den Streit um den Welfenschatz. Stefan Heidenreich denkt über Kunst und Geld nach. Helge Schwarz besucht das Hamburger Jugendmusikzentrum "Trockendock".

Besprochen wird der von Willi Jasper herausgegebene Sammelband "Wieviel Transnationalismus verträgt die Kultur?" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Aus den Blogs, 08.06.2009

Nun haben die Piraten einen Vertreter im Europäischen Parlament, meldet Heise: "Die schwedische Piratenpartei hat bei der Wahl zum Europaparlament in ihrem Land aus dem Stand 7,4 Prozent der Stimmen geholt. Das berichtet Sveriges Television auf Basis von Prognosen. Danach kann die Piratpartiet einen Abgeordneten ins EU-Parlament schicken. In der Altersgruppe der 18- bis 30-Jährigen holte die Partei laut der Prognose 19 Prozent der Stimmen." In Deutschland erreichte die Piratenpartei immer hin 0,9 Prozent.

(Via 3quarks daily). Wer den Tag mit einer richtig guten Geschichte beginnen möchte, lese Marc Weingartens Reportage über den Eintreiber Nick Popovich in Salon. "Nick Popovich is a repo man, but not the kind that spirits away Hyundais from suburban driveways. Popovich is a super repo man, one of a handful of specialists who get the call when a bank wants back its Gulfstream II jet from, say, a small army of neo-Nazi freaks."

FAZ, 08.06.2009

Joachim Keil, Betreiber der Plattenfirma Daredo, fordert wirksame Maßnahmen, um Vergütungen von Youtube und Google einzutreiben. Letztlich visiert er aber eine andere Lösung an: "Wenn [die Musikindustrie] es aber schafft, die Interessen aller Beteiligten der Branche zu bündeln, und ihr bewusst wird, dass sie kein Spielball der großen Softwarekonzerne und Portalbetreiber ist ..., dann besteht eine realistische Chance, angemessene Vergütungsmodelle zu erzielen. Deswegen sollten die Musikindustrie und die Politik endlich gemeinsame Entscheidungen fällen und sich zumindest überlegen, ob man nicht eine Kultur-Flatrate einführen sollte." (Genau, und dann noch eine Zeitungsflatrate und schließlich noch eine Flatrate für Internetmagazine!)

Weitere Artikel: Jakob Dettmar, fünfzehn Jahre alt, versucht, die Faszination der Alltags-Computerspielserie rund um die "Sims" zu erklären. In der Glosse findet es Mark Siemons schon irgendwie seltsam, dass China jetzt mit einer pompösen Zhang-Yimou-Inszenierung von Puccinis Chinoiserie "Turandot" Geburtstag feiern will. Florian Balke hat in Frankfurt Lyriker aus Naturgedichten lesen hören. Arnold Bartetzky bestaunt das jetzt restaurierte ehemalige Kaufhaus Wertheim in Breslau. Abgedruckt wird Frank Schirrmachers im Gestus des Mahners und Propheten gehaltene Dankesrede zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises. Die Geburtstagsglückwünsche der Woche gehen an den Pianisten Emanuel Ax (60), die Sopranistin Ileana Cotrubas (70), den Löwenbändiger Siegfried Fischbacher (70), den Komponisten Josef Anton Riedl (80, vielleicht auch 82) und den Soziobologen Edward O. Wilson (80).

Besprochen werden Andras Fricsay Kali Sons "Macbeth"-Inszenierung in Mannheim, eine Inszenierung von Giuseppe Verdis "Falstaff" in Glyndebourne und Bücher, darunter Barbara Pevelings Romandebüt "Wir Glückspilze" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 08.06.2009

In den "Nachrichten aus dem Netz" erzählt Niklas Hofmann, wie der Popproduzent Danger Mouse wegen Rechtefragen mit dem Label EMI Streit bekam und nun einen leeren C-Rohling in Fetischverpackung verkauft, während er nahelegt, die eigentliche Musik aus dem Netz zu laden, wenn auch, ähem, nicht ganz legal. Gustav Seibt sieht in der jüngst enthüllten Eskapaden Berlusconis nicht das eigentliche Problem Italiens: "Die Schande des heutigen Italiens besteht darin, dass es diesen Nichtpolitiker dreimal legal an die Macht kommen ließ." Stephan Speicher liest eine Studie des Soziologen Berthold Vogel, die sich mit den Sorgen der erodierenden Mittelschicht auseinandersetzt. Kia Vahland meldet, dass der deutsche Künstler Tobias Rehberger den Goldenen Löwen der 53. Kunstbiennale in Venedig erhält. Christopher Schmidt porträtiert den Dramatiker Iwan Wyrypajew, der sagt: "Das Theater hat mich vor einer Karriere als Krimineller gerettet, aber nur deshalb, weil Banditismus und Theater zwei Dinge gemeinsam haben: Romantik und Betrug." Nun hat er sein auch in Deutschland häufig gespieltes Stück "Sauerstoff" verfilmt. Tomas Avenarius interviewt den ägyptischen Kulturpolitiker und Kandidaten für den Unesco-Vorsitz Faruk Hosni, der von Bernard-Henri Levy und anderen (hier und hier) wegen antisemischer Äußerungen angegriffen wurde ("Jüdische Persönlichkeiten halten ihm vor, sich antiisraelisch geäußert zu haben", heißt es im Vorspann). Tobias Lehmkuhl stellt das erste Programm des Galiani Verlags, eines Berliner Imprints von Kiepenheuer & Witsch vor.

Besprochen werden eine Ausstellung des heute fast vergessenen Salonmalers Frederic Lord Leighton in der Villa Stuck, neue Stücke bei den Ruhrfestspielen, die Ausstellung "Emile Zola und Paris" im Museum Georg Schäfer, Schweinfurt, und Bücher, darunter Mathias Rohes Studie "Das islamische Recht".

Auf der Medienseite wird Heribert Prantls Rede zum Kongress des "Netzwerks Recherche" abgedruckt. Prantl verfällt zwar nicht in das übliche Internetbashing, aber ganz ohne Konstuktion eines Gegensatzes kommt er nicht aus " Die Ausweitung des wissbaren Wissens durch das Netz wird auf Kosten ihrer Vertiefung verwirtschaftet. Die Datenmenge nimmt zu, aber die Datenverarbeitung bleibt aus. Da kommt dem Journalismus eine neue Aufgabe zu: Gegen Datentrash hilft nur Reflexion."