Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.07.2007. In der taz erzählt Ernst Tugendhat, warum ihn der Gedanken an den Tod schreckt. In der Literarischen Welt stellt Cees Nooteboom einen Klassiker der niederländischen Moderne vor, Ferdinand Bordewijks Roman "Charakter". In der NZZ fragt sich Adam Zagajewski, warum Zbigniew Herbert in einem späten Gedicht ausgerechnet das hässliche Städtchen Rovigo besang. Die SZ besucht das Dorf Kienbaum, wo die DDR ihre Olympiasieger machte.

TAZ, 28.07.2007

Im Dossier des taz mag findet sich ein großes Interview, das Ulrike Herrmann mit dem Philosophen Ernst Tugendhat geführt hat. Er zieht eine Bilanz seines Lebens und spricht über Tod und Abschied: "Den ersten Vortrag zum Tod habe ich mit 64 Jahren geschrieben. Ich war damals in Chile, allein, und hatte das Gefühl, dass ich nur noch den Tod vor mir habe. Aber vielleicht war ich sowieso für das Thema Tod offen, weil ich ja als Heidegger-Schüler angefangen habe, wo der Tod auch eine große Rolle spielt. Wenn ich mir vorstelle, dass ich nur noch kurze Zeit zum Leben habe, dann erschrecke ich. Nicht weil ich unbedingt weiterleben will, sondern weil ich finde, dass ich mich verzettelt habe und eigentlich ganz anders leben müsste."

In der Kultur: Der bulgarische Historiker Ivaylo Ditchev erklärt, dass Bulgariens Machtlosigkeit der Grund dafür ist, dass es immer wieder - wie zuletzt in Libyen - Opfer internationaler Machenschaften wird. Und er berichtet, wie die Sache mit den Krankenschwestern zu eher unheimlicher nationaler Einigkeit führte. Ronald Berg erzählt von Geschichte und Gegenwart des modernen Berliner Siedlungsbaus der zwanziger Jahre, der nun ein Kandidat fürs Weltkulturerbe ist. Für seine Spreebogen-Serie hat sich Dirk Knipphals diesmal mit einer Fahrradrikscha durchs Regierungsviertel kutschieren lassen. Auf der Meinungsseite zeigt sich Heide Oestreich gar nicht einverstanden mit allzu coolen männlichen Popkritikern, die rassistische und sexistische HipHop-Texte eher nicht so ernst nehmen. Und im Interview erklärt der Historiker David Blackbourn, warum es nicht weiter schlimm ist, wenn deutscher Wald an chinesische Investoren verkauft wird.

Besprochen werden Etienne Balibars Essays "Der Schauplatz des Anderen" und zu Paul Austers Roman "Reisen im Skriptorium". Abgedruckt wird ein Auszug aus Jan Costin Wagners neuem Roman "Das Schweigen".

Und Tom.

Welt, 28.07.2007

In der Literarischen Welt stellt Cees Nooteboom einen Klassiker der niederländischen Moderne vor, Ferdinand Bordewijks Roman von Vater und Sohn "Charakter": "In den niederländischen Literaturgeschichten wird der Roman 'Charakter' der Neuen Sachlichkeit zugerechnet, einer Strömung aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, die eine Reaktion auf die lyrische und symbolistische Prosa der vorangegangenen Epoche war. Jetzt, nachdem ich das Buch nach so vielen Jahren wieder gelesen habe, berührt mich vor allem der emotionale, dramatische Unterton, in dem die Geschichte erzählt wird, noch verstärkt durch den Stil, den man als notariell bezeichnen könnte, als sei das Buch mit einer Kaltnadel geschrieben. Dieser Gegensatz zwischen Juristenprosa und dramatischem Geschehen erzielt eine ganz eigene Wirkung, kaltes Feuer ist vielleicht die beste Umschreibung."

Weiteres: Im Aufmacher unterhalten sich Michael Maar und Hannes Stein über den neuen Harry Potter. Michael Pilz besucht Jakob Hein, dessen Buch "Antrag auf ständige Ausreise und andere Mythen der DDR" gerade veröffentlicht wurde. Besprochen werden unter anderem Betsy Udinks Buch über Pakistan "Allah und Eva" ("Sie werden nach der Lektüre schlecht schlafen und ein Gefühl ohnmächtiger Wut empfinden", prophezeit Necla Kelek), Monika Marons Roman "Ach Glück" (Leseprobe) und das "Lexikon des Unwissens" von Kathrin Passig und Aleks Scholz.

Im Feuilleton singt Hanns-Georg Rodek ein Loblied auf die Schauspielerin Marie Bäumer, die in diesem Jahr in Salzburg die Buhlschaft gibt, und hält dabei fest, dass es Schauspielerinnen in Deutschland mehr als schwer haben: "Nennen Sie vier weibliche deutsche Kinostars der vergangenen 40 Jahre! Romy Schneider, sicher. Hanna Schygulla, die trotz der Starfeindlichkeit des Jungen Deutschen Films einer wurde. Und Franka Potente und Nina Hoss, sofern sie bereit sind, sich den Mühen des Starseins zu unterziehen. Vier Namen, mager für vier Jahrzehnte. Einige blieben auf halbem Wege stecken, die Landgrebe, die Ferres, die Sukowa, die wunderbare Barbara Auer. Und weiter ist das deutsche Kino dabei, Knospen verdorren zu lassen, bevor sie blühen; Nicolette Krebitz ist solch ein Fall."

Weitere Artikel: Stefan Kirschner porträtiert den Schauspieler Thomas Thieme, der am Montag in Salzburg die Hauptrolle in Luk Percevals Inszenierung von "Moliere. Eine Passion" spielt. Bas. sagt dem Acipenser gueldenstaedti (Waxdick) schwere Zeiten voraus: der Fisch, der zu den Kaviar liefernden Stören gehört, schwimmt vor allem im Kaspischen Meer, die UN hat gerade das Kaviar-Export-Verbot für diese Gegend aufgehoben. Thomas Schmid erinnert an den vor hundert Jahren geborenen Politikwissenschaftler Dolf Sternberger. Peter Dittmar erinnert an den vor 500 Jahren gestorbenen Kaufmann und Entdeckungsreisenden Martin Behaim. Wieland Freund gratuliert dem niederländischen Schriftsteller Harry Mulisch zum Achtzigsten. Gerhard Charles Rump weiß, was ein Google ist. Kai Luehrs-Kaiser stellt die Musical-Komponisten Peter Lund und Thomas Zaufke vor, die an der Neuköllner Oper ein kleines Musical-Wunder eingeläutet haben. Peter Dittmar berichtet über Kritik an der Warhol-Foundation. Besprochen wird Winfried Oelsners Handball-Film "Projekt Gold".

Im Magazin unterhalten sich der Filmregisseur Dani Levy ("Alles Zucker") und der Kulturwissenschaftler Jeffrey M. Peck über jüdisches Leben in Deutschland.

NZZ, 28.07.2007

Der polnische Schriftsteller Adam Zagajewski fragt sich in einem sehr schönen Essay für die Beilage Literatur und Kunst, warum Zbigniew Herbert in einem späten Gedicht ausgerechnet das hässliche Städtchen Rovigo im Veneto besang: "Der Bahnhof von Rovigo, der nicht dazu einlädt, den Zug zu verlassen, gemahnt uns an das Ende der Reise des menschlichen Lebens. Rovigo ist ein Ort, den keiner zu besuchen beabsichtigt, ein Stück Hässlichkeit, ein Ort, der keinen Umweg lohnt, um die Sprache des Michelin zu verwenden."

Der Schriftsteller Bora Cosic denkt über die alte Liebesbeziehung der Serben zu Russland und die Solidarität der Russen mit den Serben nach, die in den jüngsten Kriegen Ex-Jugoslawiens pervertierte: "So fand sich die rigide, nur teilweise reformierte Heimat des Kommunismus dazu bereit, das serbische nationalistische Programm zu schützen, das auf der Tschetnik-Bewegung im Zweiten Weltkrieg basiert, die mit dem deutschen Okkupanten zusammenarbeitete. Dies zeigt nicht nur einen albtraumhaften Wirrwarr in den Köpfen dieser gefährlichen serbischen Werwölfe, sondern eine komplette Verwirrung, gesellschaftlich, politisch und mental, des gegenwärtigen Russland."

Außerdem in Literatur und Kunst: Loel Zwecker erinnert an den Soziologen und Ökonomen Thorstein Veblen, der vor 150 Jahren geboren wurde. Und Werner Bätzing liest eine monumentale, in Frankreich erschienene Enzyklopädie der Alpen.

Im Feuilleton schreibt Hansgeorg Hermann über den immer noch starken politischen Einfluss der orthodoxen Kirche Griechenlands, die einst der Junta nahe stand, auf die Gesellschaft. Uwe Justus Wenzel erinnert an den Sprachkritiker Dolf Sternberger. Besprochen werden eine Ausstellung über die Architektin Zaha Hadid im Londoner Design Museum und die Ausstellung Ausstellung "Made in Germany" in Hannover.

FR, 28.07.2007

In der Sommerserie zur "Jugend" schreibt heute der Schriftsteller Andreas Maier, der zu der ganzen Sache durchaus eigene Ansichten hat: "Dass es eine Jugend gibt, daran glaube ich bis heute nicht. Vor allem glaube ich nicht daran, dass es so etwas wie ein Erwachsenensein gibt. Der Begriff des Erwachsenen ist ein Euphemismus und steht dem des Kindes meines Erachtens näher als dem Jugendlichen. Dennoch werden die drei Begriffe Kindheit, Jugend, Erwachsenendasein ständig in eine bestimmte Reihenfolge gebracht und teilweise gegeneinander ausgespielt, und zwar, wie leicht zu beobachten ist, stets zugunsten der Erwachsenen, die ja die Diskurshoheit haben."

Weitere Artikel: Arno Widmann erinnert anlässlich seines 500. Todestags an den Globus-Entwerfer Martin Behaim, dessen Bild sich in der neueren Forschung verändert hat: "Hinter dem Originalgenie, wie das 19. Jahrhundert es liebte, erscheint jetzt ein Unternehmer, der es verstand, für die verschiedenen Aufgaben, die er sich oder die andere ihm stellten, immer wieder neue Mannschaften um sich zu scharen." Andreas Bomba würdigt die "Neue Bach-Ausgabe". In Times mager denkt Christian Schlüter über Wald und Wildnis nach und konstatiert: "Jeder gute Wald ist ein Panik-Raum."

SZ, 28.07.2007

Marcus Jauer war im Dorf Kienbaum, nur eine Stunde von Berlin entfernt gelegen. Welche Bewandtnis es mit Kienbaum hatte, einst in der DDR, ist rasch erklärt: "Kienbaum war in der DDR der Ort, an dem die Olympiasieger gemacht wurden. Ein Gelände für Disziplinen jeder Art. Es gab den nahen See, es gab Plätze, Hallen und Bahnen. Außer den Schwimmern, für die es keine Hallen gab, dürfte fast jeder, der für die DDR eine Medaille gewonnen hat, einmal in Kienbaum gewesen sein. Es war ihre Kaderschmiede." Der größte Clou der Anlage war eine riesige Halle, neben der sich ein großer Sauger befand: "Damit wurde die Luft aus der Betonwanne hinausgesogen, und mit jedem Kubikmeter, der dabei nach draußen ging, fiel drinnen der Druck, aber es stieg die Höhe. Bis auf etwa 4000 Meter konnte man die Halle bringen, ohne dass sie sich nur ein Stück anhob."

Weitere Artikel: Jürgen Claus informiert über den Boom der Solar-Architektur. Eine Hymne auf die an den Münchner Kammerspielen tätige Schauspielerin Brigitte Hobmeier (Bilder) hat Christopher Schmidt geschrieben. Helmut Mauro begutachtet das Bayreuth-Debüt des Dirigenten Christoph Ulrich Meier mit dem "Tannhäuser". In Gent hat sich Manfred Schwarz das frisch renovierte Museum für Schöne Künste angesehen. Kristina Maidt-Zinke gratuliert dem niederländischen Autor Harry Mulisch zum Achtzigsten. Auf der Literaturseite erinnert der Autor Peter Esterhazy an George Tabori, Gustav Seibt an den vor anderthalb Jahren sang- und klanglos verstorbenen Literaturkritiker Günter Blöcker.

Besprochen werden eine Inszenierung von Martin Walsers "Ein fliehendes Pferd" in Überlingen und Donnie Johnsons CD "The Colored Section", Mark Jacksons bisher nur auf Englisch erschienener Studie über die Zivilisationskrankheit Allergie und ein Band mit Erzählungen von Gilbert Keith Chesterton.

Für den Aufmacher der SZ am Wochenende war Andrian Kreye in Augsburg. Dort hatte der Schriftsteller Albert Ostermaier zum großen Brecht-Festival geladen. Kreye nutzt die Gelegenheit zum Porträt einer Generation: "Wie noch nie eine Generation zuvor verkörpern die heute Erwachsenen die Chance auf ein Ideal in der Praxis. Was fehlte, waren Parameter. Es war zwar nicht das Ende der Geschichte, das diese Generation mit sich brachte, doch zumindest das Ende der Ideologien und Dogmen. Die Demontage ist geglückt, und ganz so wie ihre kulturellen Vorväter der radikalen Abstraktion und Befreiung steht die postideologische Generation nun vor einem neuen Anfang."

Weitere Artikel: Rainer Stephan erinnert anlässlich seines 100. Geburtstags an Walter Pause, den Schriftsteller des Alpenwanderns. Viola Schenz erzählt von Aufstieg und Fall der Zigarette in den USA. Auf der Historienseite geht es um Edward L. Bernays, Neffe Sigmund Freuds und Erfinder der Propaganda. Die Schauspielerin Jessica Alba spricht im Interview über Freundinnen.

FAZ, 28.07.2007

Rainer Hermann wirft in der Reihe "Der Vormarsch des Islamismus" einen Blick auf die Türkei. In einer Meldung wird das Programm der Filmfestspiele von Venedig bekanntgegeben (mehr hier). Heinrich Wefing verfolgte einen Weltkongress der Rechtssoziologen in Berlin. Jochen Hieber sinniert unter Zuhilfenahme von Thomas-Mann-Zitaten über das Verhältnis von Geistesmenschen zum Sport. Dirk Schümer gratuliert Harry Mulisch zum Achtzigsten. Matthias Grünzig besucht das Schloss Wolkenburg bei Glauchau, Sachsen, welches mithilfe der Bürger restauriert wird. In der Leitglosse kommentiert G.P. Meldungen über betrunkene Astronauten im All. Rüdiger Soldt berichtet, dass der Versuch der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Untersuchung der Affäre um kostbare Handschriften, die zugunsten des Hauses Baden verkauft werden sollten, gescheitert ist. Brigitte Löhr hörte den Vorträgen des Dalai Lama auf seiner Deutschlandreise zu. Alexandra Kemmerer verfolgte eine Tagung über "Glaube und Vernunft im Kontext der universitas litterarum" in Regensburg.

Eine ganze Seite feierlichster FAZ-Gedenkprosa ist Dolf Sternberger gewidmet, der heute hundert Jahre alt würde. Frank Schirrmacher schreibt über den Mut, den Sternberger als Redakteur der Frankfurter Zeitung unter den Nazis bewies. Henning Ritter würdigt "Sternberger als Bürger". Günther Nonnenmacher erinnert sich an den Universitätsprofessor Sternberger. Auch ein kurzer Text Sternbergers über Charlie Chaplin wird zitiert.

Besprochen werden eine Ausstellung des Bildhauers Georg Petel im Münchner Haus der Kunst, eine Ausstellung über die Frühzeit des Rock 'n' Roll in der Pariser Fondation Cartier, die Ausstellung "Kurt Wolff - Ein Literat und Gentleman" im August Macke Haus in Bonn, eine an George Maciunas, den Erfinder von Fluxus, erinnernde Ausstellung in der Kunsthalle Bielefeld.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um eine DVD mit einer Bochumer Produktion der "Soldaten" von Bernd Alois Zimmermann, um Kammermusik und Symphonisches von Harald Genzmer, um Countryfolk von Hobotalk (mehr hier). Richard Kämmerlings glossiert die furchtbare Mode der Revivals längst totgeglaubter Bands. Und Klaus Ungerer stellt Alben des Gemini Project vor, die ins Netz gestellt wurden.

In Bilder und Zeiten begeben sich Tilmann Lahme und Holger R. Stunz auf die Suche nach Wagner-Partituren, die verschwunden sind, seit sie Adolf Hitler 1939 zum Fünfzigsten geschenkt wurden. Tilman Spreckelsen wirft einen Blick auf den kommenden Herbst der Kinder- und Jugendliteratur. Auf der Literaturseite wird unter anderem Lilian Faschingers Wien-Roman "Stadt der Verlierer" besprochen. Und für die letzte Seite hat sich Lisa Zeitz mit dem Kurator Klaus Biesenbach über die "Grand Tour" des diesjährigen Kunstsommers unterhalten: "Kassel hat mich vollkommen ratlos gelassen. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Münster war das Highlight dieses Sommers."

In der Frankfurter Anthologie stellt Silke Scheuermann eine Gedicht von Friederike Mayröcker vor - "was brauchst du:

was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie grosz wie klein das Leben als Mensch
wie grosz wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit (...)"