Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.04.2006. Die taz stellt Siebtklässler einer ganz normalen Hauptschule vor. Die Welt steht ergriffen vor einem Jesus mit rotgeweinten Augen. Die FR beneidet Italien um sein Copyright auf das organisierte Verbrechen. Was will das Goethe-Institut, fragt die SZ. In der FAZ berichtet der weißrussische Journalist Andrej Dynko von den interessanten Bekanntschaften, die er im Knast gemacht hat.

TAZ, 05.04.2006

Auf einer großartigen Seite 1 stellt die taz die beklemmenden Biografien von Siebtklässlern einer ganz normalen Hauptschule vor: "Zeynep lebt bei der Mutter. Der Vater hatte die Mutter und sie regelmäßig verprügelt. Zeynep galt als verschlossen, träumerisch. Sie bekam jahrelang Ritalin... Veronika war schon mehrfach in der Kinderpsychiatrie. Depressionen, Selbstverletzungen, aggressive Schübe. Die Eltern scheinen machtlos... Lahanes Familie stammt aus dem Kosovo. Zu Hause spricht man kein Wort Deutsch, auch im Fernseher laufen nur albanische Sendungen."

Auf der Meinungsseite erklärt die im Exil lebende tibetische Sängerin Yungchen Lhamo im Interview, was die Zukunft ihres Landes angehe, setze sie auf die jüngere Generation: "Die alten Chinesen wissen doch gar nicht, was Freiheit heißt, deshalb können sie auch nicht über ein freies Tibet reden. Aber die jungen Chinesen sind gebildet, reisen um die Welt und informieren sich durch das Internet. Sie werden die Politik ihres Landes in Frage stellen."

Im Kulturteil freut sich Michael Braun über George Clooneys Film "Good Night, and Good Luck", ein Porträt des Anchorman Edward R. Murrow, der sich nicht von Senator Joseph McCarthys Paranoia infizieren lassen wollte. "Clooneys Film ist in vielerlei Hinsicht die vollkommenste Manifestation politischen Unterhaltungskinos; ein lang gehegter Traum in Hollywoods linksliberaler Kolonie, der es seit Warren Beatty und Robert Redford auch entschieden an charismatischen Figuren mangelte."

Weiteres: Robert Misik berichtet aus Wien, das ob eines Doppelauftritts von Pete Doherty und Adam Green völlig aus dem Häuschen geriet. Besprochen werden die Ausstellung "click doubleclick" im Münchner Haus der Kunst und das neue Album "Fishscale" von Ghostface Killah.

Schließlich Tom.

NZZ, 05.04.2006

Andrea Köhler informiert, wie der Stillstand an New Yorks Ground Zero nach den jüngsten Verhandlungsrunden zwischen Investor Larry Silverstein und der Hafenbehörde fortgeschritten ist: "Zumindest die Wahrscheinlichkeit, dass aus dem verwundeten Ort eine Festung der Zänkereien wird, wächst mit jedem Tag."

Besprochen werden die "nervenkitzlerische" Ausstellung zum Dokumentarischen in der Fotografie "Click Doubleclick" im Münchner Haus der Kunst, Thomas Jonigks von Godard inspirierter Husarenritt gegen die Götzen der westlichen Warenwelt "Weekend" und Bücher, darunter Gottfried-Karl Kindermanns Geschichte "Der Aufstieg Koreas in der Weltpolitik", Kinderbücher von Joke van Leeuwen und zwei Jugendromane über amerikanische Erziehungsanstalten (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 05.04.2006

Einen "magischen Tunnel der Kunst- und Literaturgeschichte" hat Paul Badde betreten, als er in den Scuderien des Quirinal in Rom die Bilder des Sizilianers Antonello da Messina sah: "Es ist unsere Zeit, die uns hier in zwei abgedunkelten Etagen aus der Tiefe der Geschichte entgegen kommt: Ein Horizont zum Himmel hin. Jesus mit rot geweinten Augen an der Geißelsäule, mehrmals, immer mit einem Kälberstrick um den Hals wie ein Stück Vieh, jedes Mal in empörendem Realismus. Seht, welch ein Mensch! Oder verkrümmte, bizarr verdrehte Körper gefolterter Schächer am Kreuz, zwischen ihnen, zum Himmel erhöht, der Menschensohn, unter ihnen eine Landschaft übersät mit abgenagtem Gebein."

Weitere Artikel: Stefan Kirschner berichtet von der unerhört langweiligen Anhörung der Theater-Intendanten Claus Peymann, Frank Castorf, Bernd Wilms, Thomas Ostermeier, Armin Petras und Matthias Lilienthal vor dem Berliner Kulturausschuss. Alle waren so brav, dass Peymann schließlich der Kragen platzte: "Diese Räume färben offenbar ab, denn wir alle reden unter unserem Niveau." Hildegard Stausberg berichtet von einem Streit über den Ort, an dem in Köln ein Jüdisches Museum stehen könnte. Klaus Lüber hat sich mit einem Sprachwissenschaftler über den Einfluss des HipHop auf die deutsche Sprache unterhalten. Berthold Seewald meldet, dass sich in den USA der Skandal um den Kunstraub einer Getty-Kuratorin ausweitet. Michael Pilz stellt "Crazy" von Danger Mouse als den ersten Hit vor, der durch Downloads zur Nr. 1 wurde. Matthias Heine gratuliert Roger Corman zum Achtzigsten. Sven Felix Kellerhoff schreibt einen kurzen Nachruf auf Nina Gräfin Stauffenberg.

Im Forum nimmt Mariam Lau die Integrationspolitik der Regierung aufs Korn: "Viele Unionspolitiker, von denen es gerade noch hieß, endlich lernten sie Deutschland als das Einwanderungsland sehen, das es seit langem ist, wollen im Innersten nicht einmal das; der SPD fällt eigentlich gar nichts zu dem Thema ein."

Besprochen werden George Clooneys Film "Good Night, and Good Luck", Robert Ferrignos Thriller "Prayers for the Assassin", der die Zukunft Amerikas als Islamic Republic of America beschreibt, und die Uraufführung von Kaija Saariahos Oper "Adriana mater" in Paris.

FR, 05.04.2006

Steffen Richter denkt über das blühende Krimiland Italien nach, das "mit der kampanischen Camorra, der kalabresischen Ndrangheta und der sizilianischen Mafia gewissermaßen ein weltweites Copyright auf das moderne organisierte Verbrechen" besitzt. Schon dass "eine politische Anomalie die literarische auf den Beinen hält" könne ein Anreiz sein, weshalb auch so viele nicht-italienische Autoren ihre Krimis in Italien ansiedelten. Allerdings: "Man kann nicht ausschließen, dass ausländische Krimi-Autoren sich auch wegen des Essens, der Landschaft und des Wetters für Italien interessieren."

Weiteres: Mirja Rosenau porträtiert die neue Direktorin des Frankfurter Kunstvereins Chus Martinez, die jetzt ihr ambitioniertes Programm vorstellte. Martina Meister erinnert an die Abtreibungsbekenntnisse prominenter Französinnen, die das französische Nachrichtenmagazin Nouvel Observateur vor 35 Jahren veröffentlichte, und die Vorbild für Alice Schwarzers Aktion im Stern waren. In Times mager rechnet Harry Nutt mit der "Zeit des naiven Danebenstehens" in der Migrationsgesellschaft ab. Und auf der Medienseite wundert sich Tanja Kokoska über die sich häufenden stilistischen Merkwürdigkeiten von Wolfram Siebeck - "glückliches Huhn oder ein Opfer zynischer Großagrarier?"

Besprochen werden Bücher, darunter der Briefwechsel von Gottfried Benn und Ernst Jünger zwischen 1949 und 1958, eine Studie über die literarische und psychologische "Mobilmachung der Sinne" zwischen 1914 und 1934 und Francis Fukuyamas neues Buch "Scheitert Amerika? Supermacht am Scheideweg" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 05.04.2006

Arno Widmann war wieder unterwegs, vor allem bei den China-Veranstaltungen im Haus der Kulturen der Welt. Hier hat er den Literaturnobelpreisträger Gao Xingjian lesen gehört und sich noch einmal Zhang Yimous Film "Das rote Kornfeld" angesehen, der 1988 den Goldenen Bären gewann. "Wer den Film heute sieht, ist überrascht. Nicht nur über China, das sich so gewandelt hat, dass heute kaum noch ein solcher Film über den Widerstand gegen die Japaner denkbar wäre, sondern auch über den Westen. Unvorstellbar, dass ein Film mit einer so schwarz-weißen Moral, mit einem so klaren Freund-Feind-Schema einen Preis bekommen würde. Man sitzt im Dunkeln und versucht sich klar darüber zu werden, was 1988 so begeisternd an dem diesem hohen Lied auf den großen vaterländischen Krieg gegen die japanischen Besatzer war. Es war die Absage an die herkömmliche Art der Heldendarstellung im romantischen sozialistischen Realismus. Im 'Roten Kornfeld' waren die Helden keine von der Propaganda blankgeputzten politisch-korrekten Vorbildfiguren, sondern saufende, hurende Männer. Es war dieser Einbruch der Wirklichkeit in die sozialistische Moral, der dem Film seine Kraft gab. Damals."

SZ, 05.04.2006

"Was will das Goethe-Institut?", fragt Thomas Steinfeld im Aufmacher, in dem er über die Hintergründe einer Reform des gesamten Instituts berichtet. Demnach sollen die Aufgaben auswärtiger Kulturarbeit in Europa, das inzwischen "aus eigener Kraft" zusammenwachse, auf den Nahen und Mittleren Osten und nach Asien verlagert werden. Damit ist Steinfeld gar nicht einverstanden: "Europa wird nicht aus der Nachkriegszeit entlassen, nur weil die Buchprüfer des Goethe-Instituts es wollen. Tatsächlich scheint ein politisch und kulturell auch nur halbwegs einiges Europa gegenwärtig viel weiter entfernt zu sein, als das in den neunziger Jahren der Fall war... Es ist mehr als dreist, es ist schon gewollt dumm, das europäische Terrain für kulturell gesichert zu erklären."

Weiteres: Jürgen Oelkers plädiert nach dem Rütli-Brief für einen Umbau der Hauptschule, allerdings "frei von den ideologischen Diskussionen der siebziger Jahre". Alexander Menden porträtiert den britischen Dramatiker Mark Ravenhill, die "Galionsfigur" des Theater-Brit-Pop. Im Interview spricht Tomte-Sänger Thees Uhlmann über die Entzauberung des Musikbetriebs durch Raubkopien. Helmut Schödel stellt die Pläne von Herbert Föttinger für das Wiener Theater in der Josefstadt vor. Alexander Kissler informiert über Pläne, den Nationalen Ethikrat durch ein Ethik-Komitee zu ersetzen. Joachim Sartorius stellt ein Gedicht von Mirko Bonne vor. Ein Geburtstagsgruß zum Achtzigsten geht an Roger Corman.

Als klug, elegant und einen der besten Filme der vergangenen Jahre, die Hollywood hervorgebracht habe, lobt Susan Vahabzadeh George Clooneys "Good Night, and Good Luck". Besprochen werden außerdem eine Ausstellung von Cy Twomblys Skulpturen in der Alten Pinakothek in München, Peter Sellars Inszenierung der Bürgerkriegsoper "Adriana Mater" von Kaija Saariahos und Amin Malouf in Paris und Bücher, darunter Katharina Hackers Roman "Die Habenichtse" und eine auf englisch erschienene Studie über den Geologen Charles Darwin (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 05.04.2006

"Inhaftiert zu sein ist fast wie eine Schwangerschaft: Nur am Anfang und am Ende ist man besorgt." Die FAZ druckt die Notizen ab, die Andrej Dynko, Chefredakteur der weißrussischen Kulturzeitschrift Nascha Niwa, während seines zehntägigen Gefängnisaufenthalts gemacht hat. "Wer sind meine Haftgenossen? Überwiegend Leute, die zum erstenmal in ihrem Leben im Gefängnis sitzen, junge Männer zwischen achtzehn und fünfunddreißig Jahren. Ein Computerspezialist aus Minsk (geboren in Braslau, im Norden von Weißrussland), ein DJ aus Mahilyu, ein Händler vom 'Dinamo'-Markt in Minsk (Offizierssohn, geboren in Russland, kam mit siebzehn nach Weißrussland) - sie alle sind die lebende Widerlegung dummer nationalistischer Klischees. Ein Geschäftsmann im Kaschmirmantel, der zugleich protestantischer Pfarrer ist, ein Arbeiter und Musiker aus Homel, der Journalist Vadzim Alexandrowitsch von der Zeitung Belarusy i Rynok, ein Installateur, der Erfahrung in der Jugendopposition hat und amerikanische Cartoons ins Weißrussische übersetzt."

In Italien ist noch alles offen, erklärt Dirk Schümer, auch weil die Bürger nur die ungeliebte Wahl zwischen zwei Extremen haben. "Einmal mehr zeigt der Wahlkampf überdeutlich, dass Italien die politische Mitte abhanden gekommen ist. Die Wunden des Bürgerkriegs zwischen Faschisten und Resistenza brechen erst jetzt auf. Nachdem die christdemokratische Sammelpartei jahrzehntelang Kommunisten und Faschisten gleichermaßen von der Macht ferngehalten hatte, müssen sich die Bürger nun für eine Konstellation mit Beteiligung der einstigen Ausgesperrten entscheiden: Die Wähler haben keine Wahl. So sind es die Extremisten beider Seiten, welche die Wechselstimmung der Mitte blockieren."

Weiteres: Felicitas von Lovenberg erklärt noch einmal den Aufbau des in die Kritik geratenen Literaturfonds. Richard Kämmerlings meldet, dass amerikanische Kirchen Songs von U2 mit großem Erfolg als geistliche Lieder verwenden. Michael Althen gratuliert dem mit wenig anspruchsvollen Filmen sehr erfolgreichen Produzenten und Regisseur Roger Corman.

Auf der letzten Seite berichtet Renate Klett vom Internationalen Theaterfestival in Amman, das mit der Nationalhymne begann und mit dem Bayerischen Defiliermarsch endete. Lisa Zeit informiert über den Wirbel um die Antikensammlerin Shelby White, deren Spende für die New York University aufgrund von Raubgrabungssverdächtigungen nun disktuiert wird. Mark Siemons stellt den unprätentiösen aber erfolgreichen Blog der Chinesin Xu Jinglei vor (hier ein Interview).

Besprochen werden George Clooneys Film "Good Night, and Good Luck", Richard Strauss' Rosenkavalier unter der musikalischen Leitung von Kirill Pertrenko an der Komischen Oper Berlin "Petrenko hat Staunenswertes geleistet, das Orchester der komischen Oper ist in bester Form", versichert Eleonore Büning, eine Ausstellung mit wenig bekannten Bildern des britischen Malers David Hockney im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm, eine Ausstellung zur Polenbegeisterung der Deutschen nach dem Novemberaufstand 1830 im Museum Europäischer Kulturen in Berlin, Peter Sellars "gefällige" Version von Kaija Saariahos Oper "Adriana Mater" an der Pariser Oper sowie Bücher, Nadja Einzmanns Prosaband "Dies und das und das" und Ulrich Raulffs Sammlung der Utopien "Vom Künstlerstaat" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).