Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.04.2006. Die FAZ bringt eine scharfe Polemik Andrzej Stasiuks gegen das Desinteresse der Westeuropäer an den Ereignissen von Minsk. In der Berliner Zeitung exhumiert Max Gallo den französischen Patriotismus. Kritikerkritiken erreichen heute außerdem ein kritisches Stadium: Die FAZ weist nach, dass die Kritiker anderer Zeitungen den Unterschied zwischen Jamben und Trochäen nicht kennen. Die FR greift die Literaturgeschichten des FAZ-Kollegen Volker Weidermann als "Schriftstellerlebensgeschichtskitsch" an.

FR, 04.04.2006

Die Schriftsteller Giwi Margwelaschwili und Said denken im Interview über Literatur und Erkenntnis nach. Kommt sie aus der Fülle oder dem Mangel? Said schmerzt die "Indifferenz", mit der deutsche Leser iranischen oder georgischen Autoren begegnen. Laut Margwelaschwili weiß der gebildete Georgier "natürlich sehr viel über die deutsche Literatur. Mehr als viele Deutsche. Wenn ich aus meinem Buch 'Der ungeworfene Handschuh' vorlese und frage: 'Woran erinnert Euch der Buchtitel?', dann herrscht unter den jungen Deutschen großes Schweigen. Russische Soldaten hingegen, die einmal mit im Publikum standen, riefen sofort: Das ist Schiller! Die Literatur schafft wohl erst aus dem Defizitären Erkenntnis. Die Forderung, dass Erkenntnis aus der Fülle kommen müsse, stimmt so nicht."

Heute abend stellt Elke Heidenreich in ihrer Sendung Lesen die umstrittene kurze Literaturgeschichte von Volker Weidermann vor. Für Ina Hartwig bietet das Buch keine Literaturgeschichte, sondern "Schriftstellerlebensgeschichtskitsch". "Diskretion, Angemessenheit - das sind Kategorien, die einer solchen Herangehensweise, die sich 'leidenschaftlich' nennt, die 'begeistert' sein will, nicht zu Gebote stehen. Stattdessen wird behauptet und geschwärmt, wie der folgende Absatz über Gottfried Benn zeigen mag: 'Seine Gedichte strahlten ja wirklich. Sie klangen wie sonst nichts. Das konnte, kann sonst keiner. So klar, einsam, stark, hell, wundersam, hoffnungslos, weise, wissend, fragend und einfach sehr, sehr schön.' Hier herrscht offenbar die Auffassung vor, es mögen sich doch bitte sehr andere damit abquälen, über literarische Werke nachzudenken, ihre Struktur zu ermitteln und die Kriterien ihrer Urteile transparent zu machen. Weidermann hat als rühriger Literaturredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Leidenschaft zum Programm erhoben. Ich und der berühmte Schriftsteller beim Italiener! Was aber ist das für eine Leidenschaft, die sich ständig selbst beschwören muss. Eine langweilige Leidenschaft."

Weitere Artikel: Abgeklärt meint Christoph Schröder über die Aufregung um die 300.000 Euro, mit der der Literaturfonds eine Sonderausgabe der Zeitschrift Volltext unterstützen will: "Die Beurteilung darüber, ob das gerecht ist oder nicht, kann nur subjektiv sein." In Times Mager freut sich Harry Nutt, dass selbst Focus, das in 12 Heftchen Klassiker der Weltliteratur vorstellt, dieser noch eine Bedeutung zuerkennen will.

Besprochen werden drei Ausstellungen von Konzeptkunst-Varianten Jonathan Monks im Kunstverein Hannover, im Kunstverein St. Gallen und in der in der Kunsthalle Nürnberg, eine Ausstellung von Editionen der kanadischen Künstlergruppe General Idea im Kunstverein München und politische Bücher, darunter Barbara Ehrenreichs Bericht eines Selbstversuchs "Qualifiziert & arbeitslos" und die politischen Aufsätze von Jean Amery (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 04.04.2006

Im Interview mit Johannes Wetzel setzt der französische Historiker Max Gallo gegen die Krise des Landes auf den französischen Nationalstolz: "Es gilt, die Stärke und Modernität des Patriotismus wiederzuentdecken. Weil Frankreich die älteste Nation Europas ist, leisten wir mehr Widerstand als andere gegen die Globalisierung und auch gegen die Art, wie sich die europäische Einigung vollzieht. Es wird in Frankreich keine Lösung für die nationale Krise geben, die nicht - wie der Historiker Fernand Braudel sagt - der 'zentralen Problematik' der Nation Rechnung trägt. Dazu gehört, dass der Staat und die Nation, die er geschaffen hat, eng verbunden sind. Dazu gehört auch das Bedürfnis nach Gleichheit - gerade das steckt hinter den Unruhen. Und dazu gehört drittens der individuelle Bezug des Bürgers zum Staat, der zunehmend bedroht wird von Gruppen-Identitäten: Die Bürger fühlen sich von ihren Vertretern und vom Staat nicht mehr repräsentiert. Und wenn man eine Demokratie daran misst, in welchem Maße sie ihre Eliten erneuert, dann steht es um Frankreich nicht gut."

FAZ, 04.04.2006

Die FAZ bringt - warum nur auf Seite 3 und nicht auf Seite 1 ihres Feuilletons? - eine bittere Bilanz Andrzej Stasiuks über die Ereignisse von Minsk: "Das demokratische Weißrussland hat verloren. Wer nur halbwegs einen Begriff davon hat, was im Osten unseres Kontinents vor sich geht, musste damit rechnen." Scharf kritisiert Stasiuk das Desinteresse der Westeuropäer an den EU-Sehnsüchten der Osteuropäer vor ihren Grenzen und fährt fort: "Europäer ist, wer sich zu den europäischen Werten bekennt und um sie zu kämpfen versteht. Wer die eigene Freiheit und das Leben dafür riskiert. Wenn andere Kriterien für das Europäertum gelten sollen, können wir den alten Kontinent vergessen. Man muss wirklich blind, taub und ohne Witterung sein, um das nicht zu merken. Um nicht zu merken, dass Europa immer schwächer und bedeutungsloser wird, dass sein militärisches, wirtschaftliches, innovatives und demografisches Potential abnimmt...."

Die deutschen Literaturkritiker streiten weiter. Diesmal greift der Bielefelder Literaturprofessor Friedmar Apel die Verrisse in der SZ (hier), der Welt (hier) und der FR von Durs Grünbeins Großpoem "Porzellan" an. All diesen Kritikern, die Apel nicht beim Namen nennt, fehle das Basiswissen über Reim und Metrik. Nein, Grünbein habe keine Jamben und keine Blankverse geschrieben: "Für mit Lyrik wenig vertraute Kritiker hier des Rätsels Lösung: Es handelt sich bei Grünbeins Versen mit nur wenigen Abweichungen um trochäische Sechsheber, also um ein fallendes Versmaß. Gelegentlich verwendet Grünbein Auftakte, also unbetonte Silben vor dem ersten Versfuß. Seit Klopstock kann dieses Maß als eine liberale Variation des Hexameters gesehen werden, einem bevorzugten Vers antikisierender Lyrik, besonders auch des elegischen Genres, der sich in Gedichten von Goethe über Hölderlin, Platen und Mörike bis zu Borchardt, Bobrowski und Brecht findet." Und der Dativ ist dem Genitiv sein Tod.

Weitere Artikel: Im Aufmacher verweist Jordan Mejias auf das Buch "The Empty Cradle - How Falling Birthrates Threaten World Prosperity" (Auszug) des Demografen Phillip Longman, der eine Wiederkehr des Patriarchats vorhersagt, da aufgeklärtere Segmente der Bevölkerung und Feministinnen sich nicht fortpflanzten. Dieter Bartetzko freut sich über die Restaurierung weiterer Räume im Dresdner Schloss. Jürg Altwegg nimmt in der Leitglosse französische Journalisten wie Franz-Olivier Giesbert aufs Korn, die es charakteristischer Weise erst in der Spätdämmerung von Jacques Chiracs Mandat wagen, den Präsidenten scharf zu kritisieren. Martin Kämpchen macht in einem Hintergrundartikel auf eine Schwachstelle der indischen Demokratie aufmerksam: die korrupte und viel zu langsame Justiz.

Auf der DVD-Seite werden neue Editionen von Filmen Zbig Rybczinskis, Wolfgang Bülds, Robert Thalheims, Chris Delportes und eine Betty-Davis-Kassette besprochen. Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über Kritik an der amerikanischen Journalistin Jill Carroll, die sich auf Videos ihrer irakischen Entführer verständlicher Weise etwas anders äußerte als nach ihrer Befreiung. Tilmann Lahme porträtiert die Journalistin Bettina Wündrich, die für Gruner und Jahr ein Heft namens Emotion macht. Und Peer Schader lobt die Reportagenreihe "Hundert Tage" bei RTL 2.

Auf der letzten Seite bringt der dänische Autor Morton Ramsland nochmal eine Reflexion über den Karikaturenstreit und zeigt Verständnis für die Gefühlslage der dänischen Muslime, die sich durch eine immer populistischere dänische Rechte diskriminiert sähen. Julia Bähr stellt die faszinierende Website Handlungsreisen vor, einen interaktiven Atlas, in dem man herausfindet, welche Romane an welchen Orten spielen. Und Erwin Seitz porträtiert den Koch Harald Wohlfahrt, der bei einem Gourmet-Festival zu Hochform auflief.

Besprochen werden eine Inszenierung von John Cages "Europeras" in Aachen, die Ausstellung "Grafische Arbeiten der Avantgarde, 1918-1934" in der Langen-Foundation und eine Dramatisierung der "Gefährlichen Liebschaften" in Stuttgart.

Welt, 04.04.2006

Kai Luehrs-Kaiser preist den Dirigenten der Komischen Oper Kirill Petrenko als große Ausnahmeerscheinung: "In Gestalt von Petrenko hat der Maestro Bescheidenheit gelernt. Petrenko hat Selbstzweifel wie Woody Allen und das Charisma einer Ginseng-Wurzel." Doch: "Wo immer Petrenko in den letzten eineinhalb Jahren debütierte - einschließlich der Berliner Philharmoniker -, beeindruckte er durch Metiersicherheit, entschiedenes Auftreten und musikalische Tiefenschärfe. 'Ich bin so langsam wie möglich, für mich geht es um eine Antikarriere', bremst er Agenten-Erwartungen ab. Petrenko hasst den Druck des Immer-besser-Werdens. Ihm fehlt stets eine halbe Stunde Vorbereitung zum Glück. Das Orchester der Komischen Oper aber klingt seit 2002 tonschön-geschliffener, eigensinniger und gewichtiger denn je."

Weiteres: "Weshalb passiert mir das nicht?", fragt Uwe Wittstock anlässlich der jüngsten Aufregung um einen als "Arschloch" beschimpften Kritiker. "Man ahnte ja früher gar nicht, was sich aus so einem öffentlichen Schimpfwort für publizistischer Nektar saugen lässt." Der polnische Schriftsteller Jacek Trznadel nimmt Abschied von Stanislaw Lem, der heute in Krakau beerdigt wird: "Er zeigte, dass man von dem künftigen Kosmonauten Pirx und seinen Navigationsproblemen psychologisch nicht anders sprechen kann als dies Joseph Conrad getan hat, wenn er Schiffskapitäne beschrieb, die in einen Taifun geraten waren." Gedruckt wird ein Vortrag von Friedrich Dieckmann über den Niederschlag der französischen Julirevolution in Goethes "Faust II".

Besprochen werden eine Ausstellung zum Werk des niederländischen Architekten Ben van Berkel im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, Karsten Wiegands "Rigoletto"-Inszenierung in Hannover und die Aufführung "Blaiberg und Sweetheart 19" der Theatergruppe Rimini Protokoll im Zürcher Schauspielhaus.

NZZ, 04.04.2006

Überschwänglich preist Hans-Joachim Müller die große Werkschau, die das Kunstmuseum Basel Hans Holbein dem Jüngeren widmet: "Es liegt über dem Werk eine Modernität, die heute auch den Maler viel näher, zeitgenössischer erscheinen lässt. Nie zuvor, in keiner Holbein-Ausstellung, ist es so faszinierend deutlich geworden, wie virtuos dieser Künstler sich Seheindrücke anverwandelte, wie er die Grammatik spezifischer Bildaufgaben beherrschte, sich auf Wünsche einstellen konnte, auf lokale Gepflogenheiten reagierte, dem Zeitgeschmack zuarbeitete, wie er der Lady, der er eben noch mit so geheimnisvollem Lächeln schmeicheln durfte, nun mit lässigem Anstand bei den Travestien der Macht Bildhilfe geleistet hat."

Weiteres: Hingerissen ist Peter Hagmann von den Beethoven-Sonaten, die Andras Schiff in der Tonhalle Zürich gab: "Als Denkmal oder als Stück Bildungsgut wirkte diese 'Appassionata' jedenfalls keinen Augenblick." Besprochen werden auch die Erstfassung von Verdis "Forza del destino" im Stadttheater Bern und Bücher, darunter Orhan Pamuks Essays "Der Blick aus meinem Fenster" und Joseph Jungs Biografie des Unternehmers und Politikers Alfred Escher (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 04.04.2006

Klaus Walter untersucht neue Alben von Fehlfarben, S.Y.P.H. und Britta auf bürgerliche Elemente und Alterserscheinungen. Der katholische Konvertit Abdul Rahman ist für den Vatikan ein willkommener Kraftschub, meint Isolde Charim. Detlef Kuhlbrodt erinnert die Neukölln-Debatte an "Neuköln" auf der zweiten Seite des David-Bowie-Albums "Heroes". Ute Scheub berichtet von einer Tagung im Dresdner Hygienemuseum zum zeitgebundenen Verständnis der Evolutionstheorie.

Auf den Tagesthemenseiten spricht Barbara Bollwahn mit dem Schauspieler Thomas Lawinky über seine Tätigkeit als Stasi-Spitzel. In der zweiten taz kommentiert Jan Feddersen die Unruhe um Volker Weidermanns Literaturgeschichte. Und Martin Reichert hofft, dass der Nachwuchs sich ebenso gegen die Atomkraft engagiert wie die Eltern.

Besprochen wird einzig und allein Julia Enckes Studie zu den "Augenblicken der Gefahr".

Und Tom.

SZ, 04.04.2006

Andrian Kreye stellt den jüdisch-orthodoxen Reggaesänger Matisyahu vor, der in der Tracht der Lubawitscher mittlerweile auf Platz vier der Charts angelangt ist. "Ähnlich wie Bob Marley mit seinen vom Rastafariglauben geprägten Texten den spirituellen Nerv der Rockgeneration und der entwurzelten Jugend in den Metropolen der Dritten Welt traf, spricht Matisyahu ein Bedürfnis nach einer spirituellen Heimat an, für die auch schon bei Marley Zion als Symbol diente."

Weiteres: Gerhard Matzig erklärt sich den Erfolg des Fußballs aus seiner Funktion als virtuelles "Allgemeingut", als Erinnerung an die verloren gegangenene Gemeinschaft früherer Tage. Eine offenbar beeindruckende Vergil-Lesung mit dem 85-jährigen Rolf Boysen im Münchner Residenztheater veranlasst Christopher Schmidt dazu, die Renaissance der Antike auszurufen. Die Funktion von Ethikexperten für die Politik besteht nicht darin, darauf hinzuweisen, wie entschieden werden muss, sondern wann eine Entscheidung ansteht, meinen die Technikfolgenabschätzer Alexander Bogner und Wolfgang Menz. Thomas Thiemeyer war auf einer Tübinger Tagung, auf der die Gründe der psychischen Krise des Hamburger Bildwissenschaftlers Aby Warburg 1918 im Ersten Weltkrieg gesucht wurden. Harald Eggebrecht übt sich in der japanischen Kaiserstadt Kyoto am stillen Sehen. Ralf Dombrowski schreibt zum Tod des Jazzmusikers Jackie McLean.

Im Literaturteil erkennt Joseph Hanimann bei Frankreichs Autoren einen neuen Realismus, der sich entweder auf die bloßen Fakten beschränkt oder das erzählende Ich dekonstruiert. Stephan Opitz weist auf Ingar Sletten Kolloens 1.000-seitige Biografie des umstrittenen norwegischen Schriftstellers Knut Hamsun hin. Roswitha Budeus-Budde resümiert die 43. Internationale Jugendbuchmesse in Bologna. Auf der Medienseite porträtiert Christina Maria Berr die Autorin Else Buschheuer.

Besprochen werden eine "unterhaltsame" Ausstellung mit Objekten des Minimal-Pop-Künstlers Thomas Rentmeister im Dortmunder Museum am Ostwall, eine Florentiner Schau zum Städteplaner und Architekten Arnolfo di Cambio, die von Thomas Jonigk selbst besorgte Uraufführung seines Stücks "Liebe Kannibalen Godard" am Theater Luzern, Benito Zambranos Film "Havanna Blues", Samuel Fullers Western "Vierzig Gewehre" auf DVD sowie Michal Glowinskis Studie zu "Mythen in Verkleidung" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).