Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.03.2005. In der Welt begründet Friedbert Pflüger, warum ihn die RAF-Ausstellung in den Berliner Kunstwerken fast zu "spontanen Regelverletzungen" inspiriert hätte. In der NZZ meditiert die Lyrikerin Olga Martynova über das Nachleben Joseph Brodskys. Die FAZ setzt die Debatte zu den Berliner Gedenkstätten mit einem Plädoyer für die "authentischen Orte" des Gedenkens fort. Die SZ verabschiedet mal wieder jene Zeiten, da man noch zu Pink Floyd auf dem Flokati bumste.

NZZ, 12.03.2005

In Literatur und Kunst meditiert die Lyrikerin Olga Martynova (ein Gedicht) über das Nachleben Joseph Brodskys: "Zu Lebzeiten Puschkins sagte man oft: Dieser oder jener ahme Puschkin nach, und allen war klar, was damit gemeint war. Eine Generation später schon verstand man diesen Vorwurf nicht mehr. Puschkin war zu dem geworden, was er auch heute noch ist - ein Dichter ohne eigene Intonation, ein Proteus, der alles kann und auf nichts festzulegen ist. Ähnliches geschieht heute mit Brodsky. Das sichere Gefühl für die vor ein paar Jahrzehnten klaren Merkmale seiner Poetik scheint verloren gegangen zu sein."

Gabriele Busch-Salmen schreibt zum 250. Geburtstag des Komponisten Philipp Christoph Kayser. Wolfgang Dömling denkt über Haydns "Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuze" nach. Martin Meyer publiziert einen Essay über die Herausforderung des Westens durch den Islamismus. Es werden auch einige Bücher besprochen, darunter zumal Juri Andruchowytschs Roman "Zwölf Ringe".

Im Feuilleton schreibt Gerhard Gnauck über das schwierige Gedenken der Polen an den Marschall Jozef Pilsudski, der das Land 1918 in die Unabhängigkeit führte, aber nicht in die Demokratie: "Als autoritärer Herrscher, der wie viele seiner Zeitgenossen von der parlamentarischen Demokratie tief enttäuscht war, ist der Marschall im Grunde eine umstrittene, sperrige Gestalt. In den letzten Jahren wurde er mit Denkmälern geehrt, doch der Senat der Warschauer Universität entschied sich nach 1989 dagegen, der Hochschule wie vor dem Krieg den Namen Pilsudskis zu verleihen."

Weiteres: Roman Hollenstein berichtet über einen in Lausanne geplanten Neubau des Musee des Beaux-Arts durch Kazuyo Sejima. Besprochen werden die Ausstellung "Bordell und Boudoir" in der Kunsthalle Tübingen und eine Ausstellung zu Martin Walser im Literaturhaus München.

SZ, 12.03.2005

Am meisten los ist heute im Samstagsmagazin, das sich auf Rock und Pop konzentriert. Im Aufmacher denkt der Autor und Erfinder der Popliteratur Joachim Lottmann über den Stand der Popmusik nach, und über vergangene Zeiten: "Ein gerade ausgemusterter Jugendfunkchef der Öffentlich-Rechtlichen Senderkette drückte es vor zwei Tagen in Hannover auf seine Weise aus: 'Worüber ich viel grübeln muss, meine Freunde, sind diese sakralen Zeiten, wo man Pink-Floyd-Alben noch mit Samthandschuhen aus Läden trug, die Uwes Music Shop hießen. Man trug diese Platten heim, um dann zu ihnen in gleißenden Bewegungen auf dem Flokati zu bumsen. Sind die Zeiten vorbei? Ich fürchte: . . . ', hier nun machte der ausgemusterte Jugendfunkchef eine bedeutungsvolle Pause und sagte dann fast tonlos, ': . . . ja.'"

Dazu passt: Alexander Gorkow hat in London einen der Helden aus der Zeit gleißender Bewegungen auf dem Flokati besucht und interviewt: den einstigen Dire-Straits-Gitarristen Mark Knopfler. Der Protagonist in Georg Kleins (mehr) neuer Erzählung "Wir kommen und holen dich heim" neigt zu Gitarrensoli: "Aus Justins Ohrstöpseln quäckte mein Solo, jenes Gitarrensolo, das ich damals in Tokyo gegen unsere feste Abmachung dann doch angestimmt hatte..." Dirk Peitz übt sich in popjournalistischem Berlin-Bashing. Über Pariser Verkehrsverhältnisse informiert uns, pop-resistent, Johannes Willms. Im Interview unterhält sich Oliver Fuchs mit Billy Idol über Manieren: "Ich und Manieren? Haha! Na, dann mal los."

Und das Feuilleton: In der Artikelreihe zur Gegenwart der Geschlechterverhältnisse berichtet Jens Bisky, wie die Ostfrauen im Westen ankamen. Christiane Schlötzer informiert darüber, dass in der Türkei Hitlers "Mein Kampf" (türkisch: "Kavgam") dank Billigausgaben derzeit auf Bestsellerlisten zu finden ist. Zum Abschluss der Serie "Vorsprung Deutschland" stellt Gustav Seibt den emeritierten Konstanzer Mediävisten Arno Borst vor, der für die Ewigkeit arbeitet. Gemeldet wird, dass die von der Kultusministerkonferenz eingesetzte Jury dem Bundesrat Essen und Görlitz (und nicht Braunschweig, Bremen, Halle/Saale, Karlsruhe, Kassel, Lübeck, Potsdam und Regensburg) als die beiden Kandidaten für die Wahl der europäischen Kulturhauptstadt 2010 empfiehlt. Thomas Steinfeld gratuliert dem Germanisten Arthur Henkel zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden die neue Platte der französischen Band Daft Punk, ein neues Musical über Ludwig II. in Füssen, das "Messiah Game" der Tanzkompagnie Cie. Felix Ruckert, Chico Mellos Musiktheater "Destino das Oito", der französische Cesar-Gewinnerfilm "L'Esquive", die letzte Ausstellung des jüngst verstorbenen großen Kurators Harald Szeemann mit dem Titel "Visionäres Belgien" in Brüssel, und eine Sartre-Ausstellung in der Pariser Bibliotheque Nationale. Auf der Literaturseite gibt es Rezensionen zu Wilhelm Genazinos neuem Werk "Liebesblödigkeit", zu Pascale Kramers Roman "Zurück" und zu Uwe Walters Studie zur Geschichtskultur im republikanischen Rom. (Dazu mehr in der Bücherschau des Tages.)

Welt, 12.03.2005

Im Feuilleton bekennt Friedbert Pflüger, Mitglied des CDU-Bundesvorstandes, dass er beim Besuch der RAF-Ausstellung in den Berliner Kunst-Werken seltsame Gelüste in sich aufsteigen fühlte: "Fast wäre ich zum Bilderstürmer geworden! In der Ausstellung ... verspürte ich Lust auf ein wenig 'spontane Regelverletzung' und 'Gewalt gegen Sachen'. Aber ich bin eben kein 68er und verzichtete auf den 'befreienden Widerstand' gegen die von den ausgestellten Exponaten ausgehende 'strukturelle Gewalt'. Ich beschloss, diesen Artikel zu schreiben."

Im Forum ärgert sich der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer über die geistige Trägheit, mit der die scheinbar einfachsten Sätze Albert Einsteins interpretiert werden: "'Phantasie ist wichtiger als Wissen' - dieser Satz darf nur von jemandem in den Mund genommen werden, der zum einen genug Wissen erworben hat, um nun auf seine Phantasie vertrauen zu können, und der zum zweiten dabei gelernt hat, dass Phantasie kein Geistesblitz ist, der ohne die mühselige Arbeit des Denkens mal so beim Frühstück einschlägt."

Im Netz präsentiert die Literarische Welt heute Morgen um 10 Uhr noch ihre Ausgabe von letzter Woche. Vielleicht gucken Sie später selbst, was es in der neuen Ausgabe gibt.

TAZ, 12.03.2005

Für ihren neuen Dokumentarfilm über deutsche Türkinnen hatte die Filmemacherin Aysun Bademsoy auch mit Hatun Sürücü gesprochen, die vor einem Monat Opfer eines "Ehrenmordes" wurde. Im Interview antwortet sie auf die Frage, ob es nicht eine große Kluft gebe zwischen türkischen Mädchen, die sich immer mehr emanzipieren, und türkischen Jungen, die zurück in traditionelle Rollen fallen: "Es gibt auch Jungs, die sich davon entfernen. Aber bei denen fällt das weniger auf. Wenn eine Frau das macht, dann wird das als Affront empfunden, weil sie die Ehre der Familie durch ihre Jungfräulichkeit bewahrt oder zerstört. Deswegen ist das eine andere Art der Befreiung, die da stattfindet. Aber wenn man in die türkischen Diskotheken und In-Cafes geht: Die sind voll von jungen Mädchen und Jungs, die ihren Spaß haben. Die leben auch anders als ihre Eltern."

Weitere Artikel: Dirk Knipphals eröffnet eine Artikelserie mit dem Titel "kleine schillerkunde". Von der zweiten Podiumsdiskussion zum Thema Flick-Collection berichtet Jan-Hendrik Wulf. Er stellt auch das neue Heft der Zeitschrift "Scheidewege" vor. In Sachen deutsche Kulturhauptstadt Europas wirft sich die taz für Görlitz in die Bresche. Und für Essen. Besprochen wird der Film "Wodka Lemon".

Im taz mag geht der in Cambridge lehrende Wirtschaftshistoriker J. Adam Tooze bei allem Respekt recht hart mit Götz Alys "provozierender Studie" über den "Volksstaat" ins Gericht. Alys Rechnungen, versucht er nachzuweisen, stimmen einfach nicht: "Auch dieses Buch ist unbedingt lesenswert. Mit seiner dramatischen Scheinrechnung zu den fiskalischen Grundlagen von Hitlers Volksstaat setzt Aly jedoch einen gewaltigen Irrtum in die Welt. Sein wohlverdienter Ruf wird diesem Irrtum die nötige Autorität verleihen. Ein großer Irrtum bleibt es dennoch."

Weitere Artikel: Beate Niemann berichtet in einem großen Interview, wie sie die Vergangenheit ihres in der DDR inhaftierten Vaters Bruno Sattler recherchierte und dabei erfahren musste, dass der Mann, um dessen Rehabilitierung sie lange kämpfte, tatsächlich ein NS-Massenmörder gewesen ist. Vorabgedruckt ist ein Auszug aus Oliver Gehrs' Biografie des "Chefredakteurs von Deutschland" Stefan Aust.

Besprochen werden Ehrenfried Kluckerts Studien zu Schiller und zu Mörike, Diane Broeckhovens Roman "Ein Tag mit Herrn Jules" und Jochen Tills "ziemlich unerträgliches" erstes Nicht-Jugendbuch "Der letzte Romantiker" (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 12.03.2005

Im Aufmacher bespricht Martin Lüdke den Abschlussband von Walter Kempowskis "Echolot" und streicht heraus, wie sehr es gerade der Mangel an daraus zu ziehendem Sinn ist, der dieses Werk so wichtig macht: "Aber Kempowski zielt nicht auf überlieferte Modelle. Die ehrwürdige Vorstellung von 'Totalität' interessiert ihn nicht. Er will kein Ganzes abbilden, nicht den Krieg beschreiben, sondern nur seinen Chor zum Sprechen bringen. Das einzige Prinzip ist die Gleichzeitigkeit. Keine Wechselwirkung, keine Kausalität, keine Vermittlung. Was nichts miteinander zu tun hat, steht synchron nebeneinander. Weitergehende Schlüsse sind daraus nicht zu ziehen. Sinnstiftung bleibt aus."

Weitere Artikel: Christian Thomas macht sich Gedanken zur Kulturhauptstadtauswahl und zum immer wichtiger werdenden "Branding". Trost für das unterlegene Kassel spendet unterdessen Joachim F. Tornau unter der dann doch verblüffenden Überschrift "Kassel zieht aus dem Jury-Urteil neues Selbstbewusstsein". Den Nachruf auf den Fotografen Peter Keetman hat Ulf Erdmann Ziegler verfasst. Joachim Lange stellt das neue Haus der Königlichen Oper Kopenhagen vor. Über Kriminalität in London denkt Gunnar Luetzow in times mager nach. Auf der Medienseite klagt Stefan Schickhaus über Pläne, das SWR-Vokalensemble auszudünnen.

Besprochen werden neue Choreografien am Wiener Tanzquartier.

Da heute Morgen um 10 Uhr das e-paper noch von gestern ist, gibt's das große Magazin-Interview mit Franka Potente auch noch nicht online zu lesen. Morgen vielleicht.

FAZ, 12.03.2005

Die Debatte um die Berliner Gedenkstätten geht weiter. Anders als Ulrich Herbert und Götz Aly plädiert Christine Fischer-Defoy von der Stiftung "Topographie des Terrors" für die "authentischen Orte" und gegen eine Zentralisierung des Gedenkens: "Denn die Besucher kommen gerade deswegen in das Haus der Wannseekonferenz, um an diesem idyllischen Ort der Entscheidung über den Massenmord an den europäischen Juden nachzuspüren, sie gehen in die Stauffenbergstraße, um im Hof der Erschießung der Männer des 20.Juli 1944 die Möglichkeiten und Grenzen des Widerstehens zu reflektieren, und sie besuchen das Gestapo-Gelände, um hier zu erfahren, wieso aus biederen Nachbarn Schreibtischtäter wurden. Diese Gedenkstätten würden in dem Maße an Besucherinteresse verlieren, in dem sie versuchten, eine Gesamtaussage über den Nationalsozialismus zu liefern."

Weitere Artikel: Reinhard Wandtner prangert im Aufmacher nachteilige Regelungen für Schmerzpatienten durch die Gesundheitsreform an. Andreas Rossmann meldet, dass Essen und Görlitz als Kulturhauptstadt-Bewerber ins Finale geschickt werden. Hubert Spiegel gratuliert Teofila Reich-Ranicki zum 85. Gerhard Stadelmaier schildert in der Leitglosse eine selbsterlebte Kneipenszene in Dresden. Jürg Altwegg meldet, dass an der Sorbonne ein Lehrgang für Frankreichkunde geschaffen wird, der künftigen Predigern an Moscheen in Frankreich das gute Gift des Laizismus injizieren soll. Andreas Platthaus hat sich den "Zauberer von Oz" in neuer Kopie angesehen - der Film läuft gerade wieder ins Kino. Dokumentiert wird aus der DVD-Reihe "Hundert Jahre Deutschland", die von FAZ und Spiegel herausgegeben wird, ein Gespräch, das Frank Schirrmacher und Stefan Aust mit der Historikerin Brigitte Hamann über den jungen Hitler führten. Hans-Jürgen Schings gratuliert dem Germanisten Arthur Henkel zum Neunzigsten. Rainer Hermann würdigt die Arbeit privater Kulturstiftungen für das Kulturleben in Istanbul (die Kulturstiftung der Bank Yapi Kredi erwartet zum Beispiel 100.000 Besucher für eine Ausstellung mit 145 Zeichnungen von Joseph Beuys, die sie zusammen mit dem Goethe-Institut organisiert). Jörgen Kesting gratuliert der Sopranistin Julia Migenes zum Sechzigsten. Isabel Herzfeld berichtet vom Kurt-Weill-Fest in Dessau. Ellen Kohlhaas schreibt zum Tod der Pianistin Traute Murtfeld. Und Joseph Croitoru liest Zeitschriften aus Osteuropa.

In der ehemaligen Tiefdruckbeilage schreibt Michael Martens einen schönen Text über den Schriftsteller Ivo Andric, der in Sarajewo wiederentdeckt wird, obwohl er ein überzeugter Jugoslawist war. Und Jan-Christoph Hauschild präsentiert eine witzige fiktive Talkshow über Friedrich Schiller. ("A: Bei Schiller denken zum Beispiel viele an die drei großen R, Republikanisch, Rationalistisch, Revolutionär. Linker SPD-Flügel gewissermaßen. Und wenn sie dann im Theater sitzen, merken sie, dass das eigentlich alles gar nicht stimmt. B: Genau. Eher - FDP.")

Auf der Schallplatten- und Phonoseite geht's um Strawinsky- und Gesualdo-Einspielungen, um die Hamburger Band Kettcar, um Bruckners Fünfte unter Nikolaus Harnoncourt. Und Eleonore Büning singt ein Lob des Virtouosentums und denkt dabei an "Tribute to Horowitz", das Debütalbum des Pianisten Denis Matsuev: "Die aberwitzigen 'Carmen'-Variationen, die Wladimir Horowitz sich selbst in die Finger transkribierte, absolviert Matsuev sogar noch vierzehn Sekunden schneller, als dies Horowitz selbst glückte."

Aus der Medienseite weist Michael Hanfeld nach, dass der Auftritt des Skandalschiedsrichters Robert Hoyzer bei Kerner den Gebührenzahler 7.451,21 Euro kostete. Auf der Literaturseite werden Louis de Bernieres' Roman "Traum aus Stein und Federn", ein neuer Erzählungsband von Christoph Meckel und ein Roman von Jeannette Walls besprochen.

Eine weitere Besprechung gilt Felix Ruckerts Tanzstück "Messiah Game" in Düsseldorf (dem Wiebke Hüster einen gnadenlosen Verriss angedeihen lässt).

In der Frankfurter Anthologie präsentiert Eckart Kleßmann ein Gedicht von Mörike - Tag und Nacht:

Schlank und schön ein Mohrenknabe...