Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2004. In der NZZ warnt Katja Lange-Müller: Wer an Literaturinstituten schreiben lernen will, muss seine Kanten schärfen. Die FR bewundert das Funkeln von Teresa Margolles' Seifenblasen im Angesicht des Todes. In der taz will A.L. Kennedy partout von ihrem Sockel.  Bären statt Kinder - die FAZ stellt sich Usedom im Jahr 2020 vor. Die SZ findet deutsche Filmregisseure sensibel.

NZZ, 23.04.2004

Kann man schreiben lernen? Katja Lange-Müller (mehr hier) berichtet über ihre Erfahrungen als Studentin und Dozentin am Leipziger Literaturinstitut und bestätigt: Ja, man kann schreiben lernen an einem solchen Institut, aber achte auf die Lehrer: Denn "wenn Lehrer sich bedroht fühlen sollten von der Konkurrenz, die sie - gegen Gehalt und die eigene begrenzte Lebens-, also Schreibzeit - 'an ihrem Busen nähren' wie die sagenhafte 'Schlange', werden sie ihre ach so geringe und flüchtige Macht daransetzen, Sätze glätten, Eigenheiten abschleifen zu wollen, auf dass bloß noch Texte entstehen mögen, die technisch nicht zu beanstanden sind, Leser und erst recht schreibende Leser aber völlig kalt lassen."

Weitere Artikel: Andrea Köhler begeht den hundertsten Geburtstag des Times Square (Webcam) und auch diesen selbst. Roman Hollenstein besucht die Eröffnungsausstellung "Greek Gold" in der Hermitage Amsterdam, einem Ableger der Petersburger Eremitage, die mit Leihgaben aus ihren Beständen künftig Geld verdienen will. Peter Hagmann zeigt sich stolz und verzückt über den Erfolg des Zürcher Tonhalle-Orchesters, das eine Million CD-Boxen seiner Aufnahmen der Beethoven-Sinfonien unter David Zinman verkauft hat und nun zur Amerikatournee aufbricht.

Besprochen wird Heiner Goebbels' Spektakel mit dem unaussprechlichen Titel "Eraritjaritjaka" nach Elias Canetti in Lusanne.

Auf der Filmseite blickt Heinz Kersten auf die "zu Unrecht unbekannte" Kinematographie Russlands. Anlass ist der Schweizer Start von Andrei Swiaginzews Film "Die Rückkehr", der rezensiert wird. Besprochen werden außerdem der Film "Daybreak" von Björn Runge, der Film "Sternenberg" von Christoph Schaub, der Film "Pieces of April" von Peter Hedges, das Dokudrama "Touching the Void" von Kevin Macdonald und der Film "Khamosh Pani - Silent Waters" der Pakistanerin Sabiha Sumar, ein Film über die Lage der Frauen im Zeitalter religiösen Fanataismus.

Auf den Medien-und-Informatik-Seiten sieht der Medienwissenschaftler Christoph Bauer das Geschäftsmodell Zeitung durch das Internet - besonders durch die Entwicklung in den Rubrikenmärkten, die von den Zeitungen verschlafen wurden - gefährdet: "Für viele Verlage ist der Zug bereits abgefahren. Das Anzeigengeschäft ist bis heute eine wesentliche Einnahmequelle für Zeitungen, doch ein strukturelles Wachstum ist hier nicht mehr zu erwarten." Außerdem in der Beilage: "ras." resümiert die Kritik des ehemaligen New York Times-Chefredakteurs Howell Raines an seiner ehemaligen Zeitung, vorgebracht in Atlantic Monthly (leider nur auszugsweise online, ein interessanter Artikel über diesen Artikel findet sich in der LA Times). Gemeldet wird, dass die Welt demnächst in NRW eine Versuchausgabe im Tabloid Format herausbringen wird.

FR, 23.04.2004

Silke Hohmann beginnt ihre sehr schöne Rezension einer makabren, aber offensichtlich faszinierenden Installation der vom Tod begeisterten mexikanischen Künstlerin Teresa Margolles im MMK Frankfurt mit der folgenden tiefen Einsicht: "Wenn jede Seifenblase den ihr eingehauchten Wunsch erhört hätte, sie möge ewig halten, wäre längst eine böse wuchernde Entsorgungskatastrophe eingetreten. Mit der Gewissheit um ihr unausweichliches, gewaltsames Ende jedoch konnte die Seifenblase zum bezaubernden, schillernden Star der Vergänglichkeitssymbolik werden, zur Ikone des funkelnden Übermuts im Angesicht des Todes."

Weitere Artikel: Silvia Staude resümiert "die gewaltige Ära Forsythe", die nun durch die Ignoranz der Frankfurter Kulturpolitik zu Ende geht. Martin Krumbholz gratuliert George Steiner (mehr hier) zum 75. Geburtstag. Und in Times mager begeht Ina Hartwig den Welttag des Buchs durch eine Beschwörung der schwärmenden Beschwörerin Elke Heidenreich.

Besprochen wird außerdem Robert Schindels Verfilmung des eigenen Romans "Gebürtig".

Morgen ist der Gedenktag des Völkermords an den Armeniern. Der Genozidforscher Mihran Dabag kritisiert auf der Standpunkte-Seite unsere Volksvertreter: "Im Gegensatz unter anderem zur Französischen Nationalversammlung oder dem Schweizerischen Nationalrat hat sich der Deutsche Bundestag bisher verweigert, durch einen symbolischen Akt, mit einer feierlichen Erklärung dazu beizutragen, die Erinnerung an diesen Völkermord aus dem Rahmen von Leugnung und Rechtfertigung zu lösen. Begründet wird diese Verweigerung mit dem Hinweis, dass es nicht die Aufgabe des Parlaments sei, eine Interpretation von Geschichte zu sanktionieren. Doch geht es hier tatsächlich um eine Interpretation? Geht es nicht auch darum, wie Deutschland sich zu einem Verbrechen stellt, mit dem es zweifellos eng verwoben ist?"

TAZ, 23.04.2004

Katrin Krise plaudert mit der schottischen Schriftstellerin A.L.Kennedy über Sex, Tod und schlecht geschriebene Kritiken. Very british, wie Kennedy das Undertatement zu pflegen versteht: "Ich weiß einfach nicht, was an Autoren so faszinierend sein soll. Wir sitzen den ganzen Tag und bewegen unsere Finger. Ich finde das lächerlich: Da ist nichts, was sich auf den Sockel stellen ließe."

Weiteres: Katharina Granzin stellt in einem Überblick über neue skandinavische Krimis fest, dass Sjöwall und Wahlöös Erfolgskonzept - Krimi und sozialkritischer Gegenwartsroman in einem - um die feministische Komponente erweitert wurde. Harald Peters hat sich Ushers neues Album "Confessions" angehört. In der tazzwei unterhält sich Clemens Niedenthal mit den Radiomoderatoren Klaus Walter und Thomas Meinecke über die Tendenz, im Format-Radio Musik von Format untergehen zu lassen.

Und TOM.

Tagesspiegel, 23.04.2004

Im Tagesspiegel erklärt der Wirtschaftspädagoge Karlheinz A. Geißler das System der deutschen Berufsausbildung für völlig veraltet. "Verglichen mit unseren Nachbarn besitzt das deutsche Berufsbildungssystem die Elastizität eines Hartschalenkoffers. Was in diesen nicht hineinpasst, wird - wie Chaplin dies einst vorgemacht hat - mit der großen Schere abgeschnitten ... Es fehlt beim deutschen Modell der dualen - zwischen Betrieben und Berufsschulen geteilten - Lehrlingsausbildung ein beweglicher Rahmen, um auf rasch wechselnde Situationen, auf konjunkturelle Schwankungen und neu auftauchende Qualifikationsanforderungen relativ schnell und undramatisch reagieren zu können. Dazu benötigen wir einen breit ausgebauten Bereich berufsqualifizierender Vollzeitschulen mit längeren Phasen für Praktika. Speziell für Berufe bei anspruchsvolleren Dienstleistungen ist das notwendig. Auch der Ausbau von Schultypen, die Doppelqualifikationen vermitteln, wäre sinnvoll."

Welt, 23.04.2004

Gerhard Gnauck berichtet über ein Kommunique der Länder Deutschland, Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei, das eine vertiefte Bildungs- und Kulturarbeit verspricht. Die jüngste Geschichte spielt dabei eine zentrale Rolle. "Bei der Aufarbeitung der Vertreibungen, deren Opfer Deutsche, Polen und andere Völker wurden, steht man noch fast am Anfang. Einigkeit herrscht nur darüber, dass es nicht irgendwo ein einzelnes 'Zentrum gegen Vertreibungen' geben soll, sondern ein Netzwerk."
Stichwörter: Polen, Tschechien, Slowakei

FAZ, 23.04.2004

Wir schreiben das Jahr 2020. Kein Mensch lebt mehr auf Usedom, statt dessen "Wölfe, Luchse und vielleicht auch Bären", träumt Christian Schwägerl. "Schon bald, sagt Reiner Klingholz, Leiter des Berlin-Instituts für Demographie und Autor einer nun in Berlin vorgestellten Studie über die regionalen Folgen des demographischen Wandels, wird man von der Ostsee ins Fichtelgebirge wandern können, ohne vielen Menschen zu begegnen. Die, denen man begegnet, werden im Rentenalter sein, also erfreulicherweise Zeit zum Plauschen haben. In den Dörfern, die heute noch auf der Strecke liegen, werde zuerst das Postamt schließen, dann der Nahverkehr wegfallen, und irgendwann seien dann Zigarettenautomaten das letzte Überbleibsel menschlicher Infrastruktur." Und dann wandern die Bären ein. Es könnte schlimmer kommen. Dietmar Dath prophezeit auf der letzten Seite eine Rückkehr der Werwölfe - vorerst allerdings nur im Kino.

Weitere Artikel: Hans D. Barbier plaudert mit dem Verfassungsrechtler Paul Kirchhof über Freiheit, Steuern und das Alter. Matthias Hannemann berichtet von einem Wutausbruch norwegischer Historiker im vergangenen Herbst: Grund war der Schriftsteller Karsten Alnaes, dessen fünfbändige Geschichte Norwegens, die "Historien om Norge", nicht nur von der von der Kritik bejubelt, sondern auch ein Bestseller beim Publikum wurde. Verschiedene Historiker warfen dem Autor darauf hin vor, er habe seitenweise aus ihren Werken zitiert, ohne die Quellen zu nennen. Tobias Döring gratuliert dem Philologen Gerhard Müller-Schwefe zum Neunzigsten. Heute beginnt in Bayern das "bisher größte und ehrgeizigste Literaturfestival des Freistaats", meldet ack.

Auf der Medienseite schildert der Medienwissenschaftler Tilo Prase ohne erkennbaren Anlass die Geschichtsfälschungen Karl-Eduard Schnitzlers. Auf der letzten Seite gratuliert Hans-Dieter Seidel der Schauspielerin Ruth Leuwerik vorsichtig zum achtzigsten Geburtstag ("ihr Geburtsjahr blieb biografisch bis heute etwas eingedunkelt"). Und Oliver Tolmein berichtet, dass ein dreizehnjähriges Mädchen in Australien vor Gericht das Recht erstritten hat, mittels einer "mehrstufigen irreversiblen Hormontherapie" ein Junge zu werden.

Besprochen werden die Aufführung von E.T.A. Hoffmanns Oper "Undine" durch das Teatr Wielki in Bamberg, eine Ausstellung chinesischer Malerei im Pariser Grand Palais, Michael Schorrs ostdeutscher Heimatfilm "Schultze gets the Blues" und Bücher, darunter eine Studie von Stefan-Ludwig Hoffmann über "Demokratie und Geselligkeit" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 23.04.2004

Fritz Göttler glaubt, dass es die "wiedergewonnene Sensibilität" ist, die das deutsche Kino für die Franzosen und das Filmfestival in Cannes wieder interessant gemacht hat. Aus den Cahiers du Cinema zitiert er: "Das Deutschland, das diese Filme schildern, ist ein unsicheres Terrain, bevölkert von Jugendlichen, die es danach drängt, die Grenzen zu überschreiten: in Richtung Osten, nach Polen, Tschechien, Russland und die Satelliten der ehemaligen Sowjetunion, oder nach Süden, Österreich, Türkei, Albanien. Sie haben alle einen neuen Rahmen aufgespannt - aber sie sind sich im klaren darüber, dass sie ihn nicht ausfüllen können."

Weiteres: Alexander Kissler berichtet, dass der Streit zwischen dem Zentralrat und der Union progressiver Juden neue Nahrung bekommen hat. Denn nun wollen Leo Baecks Erben dem Zantralrat verbieten, seinen Preis weiter nach dem liberalen Rabbiner zu benennen. Die Politologin Christine Landfried findet die Angst der Europa-Politiker vor einem Referendum über die EU-Verfassung absolut unbegründet. Jürgen Berger annonciert vakante Intendantenposten in Heidelberg und Freiburg. Jens Bisky meldet eine gemeinsame Initiative der Kulturminister aus Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn und Deutschland, das Thema Vertreibung anzugehen.

Fritz Göttler und Roswitha Budeus-Budde unterhalten sich mit der Schauspielerin Ruth Leuwerik, die heute achtzig wird und sich nur bei "hartem Licht von oben" fotografieren ließ. Andrian Kreye freut sich über Wiedereröffnung des Brooklyn Museum of Art und die Renaissance des Stadtteils. Jeanne Rubner ist Random-House-Chef Peter Olson bei einer Tagung der "Stiftung Lesen" begegnet. Petra Steinberger gruselt sich vor den Fernsehshows im Hisbollah-eigenen Fernsehsender Al Manar, bei denen es eine "Reise nach Jerusalem" zu gewinnen gibt. Evelyn Vogel schöpft neue Hoffnung für die Stuttgarter Bauhaus-Siedlung Weißenhof.

Auf der Medienseite vermisst Theo Waigel den vor einem Jahr gestorbenen SZ-Reporter Herbert Riehl-Heyse.

Besprochen werden die schaurige Schau der Mexikanerin Teresa Margolles im Frankfurter Museum für moderne Kunst, eine Ausstellung über die "Arisierung" in München und Bücher, darunter die ersten Bände der Thomas-Bernhard-Werkausgabe und Anne Webers "Besuch bei Zerberus" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).