Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.06.2003. In der FAZ schildert der amerikanische Schriftsteller Dirk Wittenborn die Freuden des Kokaingenusses. In der NZZ hält Claudio Abbado ein Plädoyer für das Moderne. Die SZ feiert den erotischen Enthusiasten Wilhelm Heinse. In der FR erklärt der amerikanische Soziologe Mark Lilla, wie die Europäer die politische Entwicklung der amerikanischen Rechten verschlafen haben. Die taz porträtiert die 33-jährige Torwächterin der amerikanischen Literatur: Deborah Treisman.

SZ, 21.06.2003

"Man entkleidete die Jungfrauen, die, Glut in allen Adern, sich nicht sehr sträubten, zuerst bis auf die Hemder, und schlitzte diese an beiden Seiten auf bis an die Hüften; und die Haare wurden losgeflochten." Jens Bisky bricht eine Lanze für den Verfasser dieser Zeilen, den vergessenen erotischen Enthusiasten Wilhelm Heinse. "In den zweihundert Jahren, die seit Wilhelm Heinses Tod vergangen sind, hat der 'ästhetische Immoralist' immer wieder Liebhaber gefunden. Durchgedrungen ist er nie. Die Germanisten haben für mäßige Talente der Goethezeit mehr getan als für Heinse, dem Hölderlin immerhin 'Brot und Wein' widmete und außerdem die seltene Mischung von 'grenzenloser Geistesbildung' und 'Kindereinfalt' bescheinigte." Markus Bernauer beglückt uns dazu mit einem Textstück aus dem Nachlass des Dichters, der neu herausgegeben werden soll. "Alle alten Könige sowohl bey Dichtern als in der Wirklichkeit haben einen Schuß."

Weitere Artikel: Rainer Erlinger schätzt, dass die Debatte um die Gesundheitsreform nie zu Ende gehen wird; denn das eigene Wohlbefinden lässt sich nicht diskutieren. Andreas Beyer lässt kein gutes Haar an der Biennale in Venedig samt Direktor. "Konzeptlose Kleinstaaterei in den Giardini, ermüdender Kunst-Marathon im Arsenal." Michael Brenner und Avinoam Shalem befürworten die von Navid Kermani und Wolf Lepenies vorgeschlagene (siehe Feuilletonrundschau vom 10. Juni) Berliner Akademie islamischer und jüdischer Kulturen, aber nur wenn sie von der Gesellschaft mitgetragen wird. Thomas Keilberth befasst sich in der Reihe Briefe aus dem 20. Jahrhundert mit einem Schreiben von Joseph Keilberth an Helmut Grohe aus dem Jahr 1948. Alex Rühle hat für den Verein Deutsche Sprache und ihre "aufgesexte Veranstaltung" "Deutschland sucht den Superdichter" nur Verachtung übrig. Andreas Curtius preist eine Pariser Tagung über die höfische Kultur, wo von echten Schlössern bis zu fiktiven Genealogien alles geboten war. Wolfgang Jean Stock rekapituliert zum Hundertsten die Geschichte des Bundes Deutscher Architekten.

Auf der Medienseite fragt sich Lutz Hachmeister, ob der von Schulden geplagte Bertelsmannkonzern in Zukunft noch bei den Großen mithalten kann. Günter Rohrbach traut ARD und ZDF weder bei der Rettung der Bundesliga noch irgendwo anders etwas zu. "Wer rettet am Ende den öffentlich-rechtlichen Rundfunk?"

Besprochen werden : John Singletons automobiler Rennfilm "2 Fast 2 Furious", "Die ägyptische Helena" von Richard Strauss in der Fassung der Uraufführung in Garmisch, eine Ausstellung über die ersten Fotografien mit so vielen Daguerreotypien wie nie zuvor im Pariser Musee d?Orsay, Hartmut Wickerts Teenagerparty "Faust II" in Weimar, und Bücher, darunter Vladimir Jankelevitchs Essays zu Moral und Kultur (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende lesen wir eine Kurzgeschichte von Wolfgang Kemp (Buch). Der vertrauliche Bericht aus dem Leben einer Selbsthilfegruppe. "Die Gruppe möchte nicht Selbsthilfegruppe genannt werden, wie die anderen Zirkel, die sich in demselben Raum treffen. Sie begreift sich im Gegenteil als eine Hilfstruppe, als ein mobiles Kommando, das jederzeit zu einem neuen Einsatz bereit ist. Was ihre Mitglieder verbindet, ist die Tatsache, dass sie schon mehrmals in Nachmittagstalkshows aufgetreten sind. Sie gelten bei den Machern dieser Sendungen als verbraucht oder 'verbrannt', als 'Talkshow-Touristen'. Auch fürchtet man beim Fernsehen Kandidaten und Kandidatinnen, die aufgrund vorausgehender Erfahrungen zu ausgekocht wirken. Die Moderatoren wollen Gesprächspartner, bei denen sich eine Mischung aus Unschuld und Standhaftigkeit die Waage hält, aber gleichzeitig wehre ich mich natürlich gegen eine Haltung, welche die Fernsehtauglichkeit von Menschen auf eine Brenndauer von 15 Minuten begrenzt."

Außerdem: Die ehemalige Gesundheitsministerin Andrea Fischer plaudert über Genussrauchen, ihre neue Arbeit als Journalistin und gibt Tipps, wie man immer wieder neu anfangen kann. Marcus Jauer erzählt die Geschichte von Dean Reed (mehr), der wohl der einzige kommunistische Rockstar aller Zeiten war. Benjamin Henrichs singt eine Ode an das uns abhanden gekommene Fernweh und an seine Verkünder Joseph von Eichendorff und Wolfgang Büscher (Berlin-Moskau). Peter Bäldle gratuliert der Modelegende Chloe zum Fünfzigsten und berichtet über die Palastintrigen zwischen Phoebe Philo und Stella McCartney.

FR, 21.06.2003

Der amerikanische Soziologe Mark Lilla vom Olin Center für Demokratieforschung in Chicago erklärt in einem lesenswerten Interview recht anschaulich, wie die Europäer die politische Entwicklung der amerikanischen Rechten schlichtweg verschlafen haben. "Alle intellektuelle Arbeit, die in die politischen Entwicklungen eingeht, fand erst einmal außerhalb der Bürokratien statt, in den Think Tanks der Universitäten, in Zeitungen etc. Daran beteiligt waren vornehmlich junge Leute, die niemals in Vietnam gedient haben, die mit dem Kalten Krieg sympathisierten, denen es aber nicht mehr, wie etwa noch Kissinger, um einen Machtkampf bezüglich irgendwelcher Einflussbereiche ging, sondern um Ideen. (...) Dieser instinktive Pazifismus, den die Deutschen durch alle gesellschaftlichen Gruppen hindurch teilen, ist wirklich etwas Fremdes für Amerikaner." (Lilla ist Autor des seinerzeit vielbesprochenen Buchs "The Reckless Mind". Kürzlich erschien von ihm auch ein Essay in der NZZ. Einige Essays von Lilla sind bei der New York Review of Books noch kostenlos zu lesen.)

In Zeit und Bild blickt Udo Tietz sachkundig auf den Wahnsinn der sozialistischen Planwirtschaft zurück. "Ich erinnere mich, dass es seinerzeit gerade importierte Levis aus dem Westen gab, die mich jeden Morgen fröhlich in einen nahe gelegenen VEB führten, wo ich als 'Schmiermax' die Getriebe stinkender Fräsmaschinen auswischen musste: Als der Monat verstrichen war und ich im Besitz von ca. 350 Mark-Ost, waren die heiß begehrten Hosen ausverkauft, so dass ich vier weitere Jahre warten musste, bis sich wieder einmal die Gelegenheit bot. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund bezahlte der Westen irgendetwas aus dem Osten mit den besagten Hosen. War das mit der 'Politischen Ökonomie des Sozialismus' zu erklären?"

Weiteres: Daniel Bartezko verabschiedet sich vom VW-Käfer, deren Produktion nun auch in Mexiko eingestellt wird. "Also mach's gut Käfer, Fusca, Beetle, Bug, Vocho, Coccionelle, Maggiolino, Kever." Alexander Schnackenburg wittert Parteidünkel am Werk, wenn nun der anerkannte Kulturbanause Hartmut Perschau zum Bremer Kultursenator ernannt wird. In ihrer Zimt-Kolumne kann Renee Zucker nicht verstehen, warum wir Dieter Bohlen gewähren lassen, aber dabei zusehen, wie Italien zu einer Bananenrepublik verkommt. Meldungen berichten vom Tod der Schauspielerin Christine Harbort und der Aktion "Deutschland sucht den Superdichter".

Auf der Medienseite staunt Udo M. Metzinger, wie die Münchner Seiten der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Krise überleben. Ulrich Glauber schüttelt sich dagegen sichtlich, wenn er an ATVplus denkt, Österreichs grausiges erstes flächendeckendes Privatfernsehen.

Besprochen werden John Singletons benzinlastiger Testosteronstreifen "2 Fast, 2 Furious", die musikalisch-szenische Proletarier-Familiensaga "Sentimenti" in Bochum, Peter Kastenmüllers Inszenierung von Vladimir Sorokins "Schtschi Krautsuppe, tiefgefroren" in Berlin, und Bücher, darunter Bernd-Jürgen Fischers Handbuch zu den "Josephromanen" von Thomas Mann, Wolfgang Kruses anregende Sozial- und Kulturgeschichte des Mittelalters sowie der Sammelband "Freistil - Best of German Commercial Illustration", herausgegeben von Raban Ruddigkeit.

Im Magazin lesen wir eine große Reportage über die Straßenkinder von St. Petersburg. Wolfgang Müller hat sich dafür etwa mit der 12-jährigen Lena unterhalten: "Vor meinem großen Bruder habe ich Angst. Der hat mich mal so mit einem Eisenstock geschlagen, dass mein Rücken ganz blau war, und ich habe immer noch Narben, auch auf dem Kopf. Und mit meiner Schwester bin ich verfeindet, weil sie mich mit sieben Jahren auf die Straße geworfen hat, direkt auf das Pflaster. Zwei Rippen waren gebrochen, nur eine konnten sie wieder hinkriegen. Seitdem sind wir Feinde."

Außerdem: Sky Du Mont (mehr) spricht über Derrick, die Schriftstellerei und seinen wunderschön blauen argentinischen Pass. Andrea Walter schließlich lässt uns wissen, dass Sigurdur Hjartarson aus Island Tier-Penisse sammelt, um sie in seinem Phallusmuseum in Reykjavik auszustellen.

TAZ, 21.06.2003

Viel geboten heute: Die Torwächterin der amerikanischen Literatur ist 33 Jahre alt und heißt Deborah Treisman, verrät uns Tobias Rapp in seinem Porträt der Leiterin des Literaturressorts des New Yorker. "Die Debut Fiction Issue, jene aktuelle Doppelausgabe, in der drei Debütanten vorgestellt werden und die Deborah Treisman in diesem Jahr zum ersten Mal verantwortet, gilt als zuverlässiger Indikator dafür, von welchen Nachwuchsschriftstellern in der amerikanischen Literatur in den kommenden Jahren etwas zu erwarten ist. Wer hier eine Erzählung veröffentlichen kann, steht auf der literarischen A-Liste." Treisman selbst sieht sich dem Nachwuchs verpflichtet, den "rund 200 Autoren, mit denen wir korrespondieren und auf die richtige Geschichte warten. Das sind vor allem junge Autoren, die ihre Stimme noch nicht gefunden haben und deren Geschichten wir erst viel später veröffentlichen."

Stefan Weidner war in Teheran und hofft darauf, dass sich die explosive Stimmung in Reformen entlädt. Aber "wenn schon gegen einige hundert auf dem Universitätsgelände verharrender Studenten die eigens dafür herangezüchteten Schlägertrupps aufgeboten werden, ahnt man, dass es in Teheran schneller einen zweiten Platz des Himmlischen Friedens als einen Sturz des Regimes geben wird."

Zu Michel Friedman hat die taz einen kleinen Schwerpunkt zusammengestellt. Bernd F. Lunkewitz (Kurzporträt), Leiter des Aufbau Verlags, mutmaßt im Interview, dass sein Freund Opfer einer Verschwörung wurde. Ralph Bollmann fasst die Affäre und die Aussagen ihrer Beteiligten noch einmal zusammen. Detlef Kuhlbrodt findet die deutsche Drogen-Hysterie unerträglich und Friedman mittlerweile eher sympathischer.

Ansonsten diagnostiziert Rolf Lautenschläger dem Bund Deutscher Architekten zum Hundertsten heillose Altersschwäche. Und Jenny Zylka stellt eine Schwertschluckerin (Lebenslauf) vor, die mit mehreren Klingen, aber nicht mit dem spezialeffekteverwöhnten Publikum zurechtkommt.

Auf der Medienseite berichtet Christoph Schultheis vom adrenalingeschwängerten Casting für die öffentlich-rechtliche "Deutsche Stimme 2003". Steffen Grimberg beklagt, dass die deutschen Sender auf der Cologne Conference keine ausländischen Produktionen kaufen wollen. Verwiesen wird auf das Erscheinen von Voss, einem metropolitanen und intellektuellen Magazin im Stil des New Yorker, nur halt in Berlin.

Im tazmag dreht sich alles um Fernweh, Aufbrüche und Abschiede. Klaus Chatten schildert die Ausbruchspläne eines 18-Jährigen. Für ein paar Minuten knipse ich die Schreibtischlampe an und blättere im Merian-Heft von der Côte dAzur. Wie ein Omen künftigen Glücks liegt der lila Luftballon, den ich in den letzten Herbstferien in München im Zirkus Roncalli gefangen habe, immer noch - nunmehr verschrumpelt - auf meiner Arbeitsplatte."

Außerdem: Martin Reichert erzählt die Geschichte eines Fünfzigjährigen, der nach Berlin ausbrach und jetzt im heimatlichen Sauerland seine Eltern pflegt. Franza Zeller dankt ihrem Schutzengel, dass sie keine Nonne geworden ist - oder Lehrerin. Friederike Wyrwich hat den Plan, ein Junge zu sein, erst spät aufgegeben. Karl R. Müller hat in der Liebe einen Ersatz für die Heimat gefunden. Und Axel Krämer berichtet von seiner Zeit in der Homohochburg Berlin Motzstraße.

Schließlich Tom.

NZZ, 21.06.2003

Claudio Abbado (mehr hier), der heute siebzig wird, spricht im Interview über Beethoven, Mahler und Wagner und erklärt, nie ein Kommunist gewesen zu sein. Sein Credo: "Ich finde, man sollte das Moderne fördern. Und ich habe einfach versucht, die Türe zu öffnen für alle, nicht nur in der Scala. Ich habe gesehen, dass es Leute gibt, die nicht die Möglichkeit hatten, in die Scala zu kommen, weil es zu viel kostet. Deshalb haben wir die Preise für Studenten gesenkt. Und dann habe ich mit dem Scala-Orchester in Fabriken gespielt, und in Reggio Emilia, bei 'Musica/ Realta', haben wir bei offenen Proben Gespräche mit dem Publikum veranstaltet. Da gab es Musik von Nono, die diese Leute nie gehört hatten - aber auch die 'Eroica' von Beethoven hatten sie nie gehört. Die Reaktionen im Publikum waren unglaublich. Sie versuchten zu verstehen."

Weitere Artikel: Gabriele Killert schreibt eine Hommage an den "sanftesten Kritiker der Elche", den Zeichner, Karikaturist und Dichter F. W. Bernstein. Hans-Joachim Hinrichsen beschreibt Wege und Umwege der Bach-Praxis im 19. Jahrhundert. Besprochen werden viele Bücher, darunter zwei bisher nur in Englisch erschienene Biografien über George Orwell, eine Furtwängler-Biographie von Herbert Haffner, Gerlind Reinshagens "Kleine Studie über die Impotenz" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Feuilleton erzählt Andrea Köhler von einem Colonel der US-Armee, der von fünfzig Frauen verklagt wird, weil er ihnen fälschlich per Mail Liebe und Ehe versprochen hatte. "Dass diese Briefe schöner als Verse von Yeats oder Shakespeare gewesen sein sollen, wie eine der Frauen der New York Times verriet, wird man nach Einsicht in die Zitate im Ernst nicht wirklich behaupten wollen", meint Köhler und zitiert: 'Du bist die bemerkenswerteste Frau, die mir je begegnet ist. Du bist genau wie meine Mutter'.

Weitere Artikel: Uwe Justus Wenzel schreibt zum Tod des Philosophen Georg Henrik von Wright (mehr hier). "her" freut sich, dass es endlich eine Internetplattform für neueste Informationen "in Sachen verschwundene Kulturgüter aus dem Irak". Schließlich herrsche inzwischen einige Verwirrung darüber, was denn nun verschwunden sei und was nicht. "Auch soll man die Möglichkeit haben, gefundene Objekte direkt bei Interpol zu melden. Die Datenbank ist noch im Aufbau und wird wohl rasend schnell anwachsen. Allerdings erfreut sich die Seite offenbar bereits heute so großer Beliebtheit, dass der Server permanent überlastet ist." Und Jdl. meldet eine Verkündung von Peter Handke bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Salzburg: "Ab jetzt könnt ihr mich vor Gericht bringen, wenn ich noch einmal im Leben öffentlich auftreten sollte."

Besprochen werden die Ausstellungen "Goddess - The Classical Mode" im Metropolitan Museum und das "Tagebuch einer Reise nach Italien" von Wilhelm Heinse.

FAZ, 21.06.2003

Der amerikanische Schriftsteller Dirk Wittenborn, Autor von "Fierce People", beschreibt aus gegebenem Anlass seine langjährige Erfahrung mit Kokain. "Abgesehen davon, dass es Spaß macht, ist es, zumindest anfänglich, auch eine Traumdroge für Narzissten, und wir leben nun einmal in einer extrem narzisstischen Kultur. Mit Kokain fühlt man sich smarter und leistungsfähiger und hält sich für einen besonders guten Liebhaber." Das ging eine Weile, dann zeigten sich jedoch Nachteile, die Wittenborn schließlich zum Aufhören bewogen: "Es ging abwärts. Ich hielt Termine nicht ein, vergaß Verabredungen und kam über den ersten Satz nicht hinaus. Und, in New York besonders unverzeihlich, ich nahm zu." Hier ein Text von Wittenborn über den 11. September aus dem Observer.

Norbert Blüm schimpft auf den neugegründeten "Bürgerkonvent". Diese Männer und Frauen "sind schon etwas Besonderes, was man ihrer Selbsteinschätzung entnehmen kann. Sie sind 'selbstlos tätig'. Sie setzen sich 'mit ihrem guten Namen, ihrer Arbeitskraft, ihrer Zeit, ihren Verbindungen und ihrem Geld' für die Bürger ein. Und was noch wichtiger ist: 'Weder beziehen sie ihren Lebensunterhalt aus politischen Aktivitäten, noch streben sie politische Ämter an.' Den kleinen Schönheitsfehler, dass ihr Sprecher Miegel sich sein Geld mit Politikberatung verdient und der Vorsitzende Langguth nie ein politisches Amt, von denen er viele innehatte, abgelehnt hat, muss man freilich übersehen."

Weitere Artikel: Hubert Spiegel hat einen Vortrag Peter von Matts über den Tod und das Gelächter in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung gehört. Heinrich Wefing wirft einen Blick in amerikanische Zeitschriften, die über Rücktrittsabsichten und ihre Folgen am Obersten Gerichtshof spekulieren. Erna Lackner bilanziert die Wiener Festwochen. Christian Geyer schreibt zum Tod des Philosophen Georg Henrik von Wright. Dieter Bartetzko war bei der Hundertjahrfeier des Bundes Deutscher Architekten (BDA) in Frankfurt. Monika Osberghaus schreibt einen kleinen Willkommenstext für Harry Potter Band 5.

In den Ruinen von Bilder und Zeiten lesen wir die gekürzte Fassung eines Essays, den Thomas Pynchon für die Jubiläumsausgabe von "1984" im Penguin Verlag geschrieben hat. Das Buch wurde bei seinem Erscheinen in den USA 1949 als antikommunistisches Traktat verstanden. Ein Missverständnis, meint Pynchon, den Orwell "stand politisch nicht nur links, sondern links von der Linken". Stalins Totalitarismus war für ihn ein Verrat am Sozialismus. Pynchon: "Orwell gehörte nach eigenem Verständnis der 'dissidenten Linken' im Unterschied zur 'offiziellen Linken' an, worunter er im wesentlichen die britische Labour-Partei verstand, die er schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg in weiten Teilen als potientiell, wenn nicht gar manifest faschistisch zu betrachten gelernt hatte. Mehr oder weniger bewusst stellte er eine Analogie zwischen Labour und der kommunistischen Partei unter Stalin her - beide waren nach seinem Empfinden Bewegungen, die vorgaben, für die Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus zu kämpfen, denen es in Wirklichkeit aber nur darum ging, ihre eigene Macht zu festigen. Die Massen mit ihrem Idealismus, ihrem Klassenbewusstsein, ihrer Bereitschaft, billig zu arbeiten, waren nur dazu da, ausgenutzt und immer wieder verraten und verkauft zu werden."

Abgedruckt ist weiter die Laudatio von Jochen Hieber zur Verleihung des Friedrich-Hölderlin-Preises an Monika Maron. Auf der Medienseite erklärt Sandra Kegel, warum die Zuschauerzahlen von Arte in Frankreich wachsen, während in Deutschland ein Drittel der Zuschauer abgesprungen ist.

Besprochen werden die Uraufführung von Doris Dörries "Happy" in Braunschweig, die Ausstellung "Karl Hofer am Bodensee" in der städtischen Wessenberg-Galerie in Konstanz, Anne Teresa de Keersmaekers Brüsseler Choreografie "Bitches Brew/Tacoma Narrows" und Bücher, darunter Fernando Pessoas "Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite werden CDs vorgestellt von Chaya Czernowin und "Virginia Jetzt!", weiter Aufnahmen mit Werken von Antal Dorati, Walter Fry und Franz Schubert.

In der Frankfurter Anthologie stellt Helmuth Nürnberger ein Gedicht von Heinz Politzer vor:

"Grenzübertritt

Dem Grenzer, der im Nebel lehnt,
Hab ich mit Frösteln meinen Paß gewiesen.
Er sah ihn an, die hohen Winde bliesen.
Und hat dazu kein Sterbenswort erwähnt.

Er trug in ein vergilbtes, schweres Werk
Die Herkunft ein und meines Vaters Namen,
Woher der Ahn, des Ahnen Ahnen kamen,
Doch meines Zieles tat er kein Vermerk..."