Heute in den Feuilletons

Durchblutete Maschine

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.11.2011. Warum kamen auch die Medien nicht auf die Idee, dass die Morde an türkischen (beziehungsweise deutschen) Mitbürgern rechtsextremistische Taten sein könnten?, fragt selbstkritisch die FAZ. Die Medien waren am Thema Rechtsextremismus überhaupt nicht interessiert, meint ein anonym schreibender Journalist in der SZ. In der NZZ fragt sich Gertrud Leutenegger, warum Kleists Sätze sie so aufwühlen. Und Felix Philipp Ingold wirbt für eine Wiederentdeckung der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector.

NZZ, 19.11.2011

In einem wunderbaren Essay über Kleists Sprache zitiert die Autorin Gertrud Leutenegger eine Order von Napoleon, der - nach zwei Selbstmorden aus Liebeskummer - seine Armee ermutigte, den "Leiden der Seele" mit demselben Mut zu begegnen wie dem Geschützfeuer. "Welch unzeitgemäße Order; welche Hochachtung der Leidenschaft. Kleist hat andere, aber ähnlich fremde Sätze geschrieben. Warum wühlen sie mich derart auf, obwohl heute niemand mehr sich so ausdrücken würde? Vielleicht gerade deshalb; weil es eine verlorene Sprache ist. Eine alte Freiheit ergreift uns darin, mit der ganzen Strahlkraft des großen Abstands. Etwas Ungestümes und Unbedingtes schwingt in diesen Sätzen, eine Spannweite der Gefühle, wie wir sie so nicht mehr wagen. Aber dass zugleich Nüchternheit und Rigorosität in ihnen herrschen, macht sie uns unbegreiflich wie Musik."

Felix Philipp Ingold wirbt für eine Wiederentdeckung der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector: "Zu den staunenswerten Qualitäten ihrer Texte gehört gerade die Tatsache, dass sie in stilistischer wie in kompositorischer Hinsicht zwar mangelhaft ausgearbeitet sind, dass aber ebendiese künstlerische Unbedarftheit so frisch und dreist und wahrhaftig zur Wirkung kommt wie in manchen Werken der sogenannten primitiven Kunst. Als literarische Vergleichsgröße dazu bietet sich am ehesten ein Jean Genet an, auch eine Marguerite Duras, deren genialische Graphomanie bei Clarice Lispector eine gleichrangige Entsprechung findet." Hier ein Gedicht von Lispector: "Wortdinge"

Außerdem in Literatur und Kunst: Andrea Köhler zeichnet den kurzen Lebensweg Kleists nach. Die Reporterin Maria Sonia Cristoff erzählt von den Nazis in der "argentinischen Schweiz".

Im Feuilleton fasst Joachim Güntner den Streit zwischen Ditib und dem Architekten Paul Böhm über die Moschee in Köln-Ehrenfeld zusammen. In der Reihe "When the music's over" erinnert sich Andrzej Stasiuk daran, was die Musik von Hendrix, Dylan oder Joplin für ihn und seine Freunde bedeutet hat: "Ich versetze mich zurück in jene Zeit und sehe ganz deutlich, wie wir unsere Eltern betrügen, aus ihrem Leben heraustreten, um nie wieder dorthin zurückzukehren."

Besprochen werden zwei Ausstellungen zur klassischen Moderne in Paris: "Cezanne et Paris" im Musee du Luxembourg und "Matisse, Cezanne, Picasso - L'aventure des Stein" im Grand Palais, ein Konzert des Zürcher Tonhalle-Orchesters in der Suntory Hall Tokio und Bücher, darunter E. O. Wilsons "Ameisenroman" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 19.11.2011

Konflikte spielen sich nicht zwischen, sondern mehrheitlich innerhalb von Zivilisationen ab, behauptet der Historiker Niall Ferguson im Gespräch, ansonsten herrsche in der Welt "ein ganzes Bündel interagierender und komplexer adaptiver Systeme". Wie erklärt er sich da den Siegeszug der westlichen Demokratie? "Obwohl die Europäer zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Zivilisation mit Waffengewalt auszudehnen versuchten, vor allem während der beiden Weltkriege, hat sich die westliche Zivilisation maßgeblich ohne Zwang ausgebreitet. Weil sie attraktiv ist. Deshalb entschieden sich nichtwestliche Völker, sie zu kopieren."

Weitere Artikel: Rene Martens verweist auf eine Diskussion zum Urheberrecht und zum Verhältnis zwischen Künstler und Medienunternehmen, die Berthold Seliger mit seinem Konkret-Artikel "Die Leistungsschutzgelderpresser" losgetreten und auf den wiederum Mark Chung als Musikindustrievertreter mit diesem umfasssenden offenen Brief reagiert hat. Für Andreas Fanizadeh sind die Zwickauer Nazis Kinder der dunklen 90er Jahre in Ostdeutschland. Peter Unfried plaudert beim Mittagessen am Berliner Weinbergspark mit Klaus-Lemke-Schauspielerin Saralisa Volm über ihren neuen Film, den per Crowdfunding (und von arte co-) finanzierten "PorNeo" "Hotel Desire", in dem es um Sex mit Niveau geht. Ulf Ermann Ziegler porträtiert Mark Kubitzke, der "von den wenig bekannten Künstlern Berlins (...) zu den Unbekanntesten" gehört.

Besprochen werden Daniela Löffners Inszenierung des globalisierungskritischen Stücks "Das Ding" am Deutschen Theater Berlin, die neue CD von Meshell Ndegeocello und Bücher, darunter eins über den Krimkrieg von Orlando Figes (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 19.11.2011

Andrea Dernbach schreibt zu dem beschämenden Begriff der "Döner-Morde": "Was da geschieht, ist eine symbolische Ausbürgerung. Die 'Döner'-Toten gehören nicht 'zu uns'. Sie sind die Anderen, die Fremden. Und hinter diesem behaupteten Fremdsein wird alles unwichtig, was die Toten voneinander unterscheidet. Ein ermordeter Grieche ist so fremd wie die ermordeten Türken, der Blumenhändler, der Internetcafe-Betreiber, der Schneider, der Gemüsehändler: Döner oder nicht, ist eh alles Döner."

FR/Berliner, 19.11.2011

Einen "irrwitzig wirkenden Wettbewerb" im Tierstillleben vom 17. bis 19. Jahrhundert hat Judith von Sternburg in der Ausstellung "Von Schönheit und Tod" in der Kunsthalle Karlsruhe nachvollzogen: "Die glänzendste Fischhaut, die federndste Feder, das hasenhafteste Beige."

Besprochen werden Christine Mielitz' Inszenierung von Lera Auerbachs "auf geradezu hemmunglose Weise russische" Oper "Gogol" an Theater an der Wien, Willy Pramls "Michael Kohlhaas"-Inszenierung in der Frankfurter Naxoshalle, die Kunstbiennale in Lyon und Susanna Alakoskis Romandebüt "Bessere Zeiten" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 19.11.2011

Der amerikanische Schriftsteller William Gass spricht in der Literarischen Welt über seinen Roman "Der Tunnel", über die Zwölftontechnik in der Literatur und seine Theorie des Bösen: "Mit 'Faschismus des Herzens' meine ich die Summe kleiner Grausamkeiten, Alltagsgehabe, verdeckte Engstirnigkeit, leiser Sadismus. Das ist für mich das Saatgut des Bösen. Wenn das rechte Klima gegeben ist, dann werden diese Samen aufgehen. Immer und überall finden wir ausgesäte Felder."

Außerdem: Zum Kleists zweihundertstem Todestag kommt Hermann Kurzke auf eine große Verlegenheit zu sprechen: Dass Preußische an Kleist, der sich den Staat als "durchblutete Maschine", als "von Gefühl gerötete Konstruktion" wünschte. Besprochen werden unter anderem Angelika Neuwirths erster historisch-kritischer Koran-Kommentar, Christopher Hitchens Autobiografie "The Hitch" und Louis Begleys Roman "Schmidts Einsicht".

Im Feuilleton weisen Hans Evert und Ulrich Machold darauf hin, dass wir in Griechenland und Italien nicht den Sturz unfähiger Politiker erlebt haben, sondern "die Demontage der Politik durch den Kapitalmarkt" Sascha Lehnartz besichtigt das Musee de la Grande Guerre in Meaux, wo einst die erste Marne-Schlacht tobte. Wieland Freund gratuliert dem Kinderbuch-Autor Max Kruse zum neunzigsten Geburtstag, dem wir unter anderem das Urmel verdanken. Andreas Seibel trifft Thomas Lehr zum Tischgespräch und hängt mit ihm Erinnerungen an Speyer nach. Und Kai Luehrs-Kaiser stellt das kleine ambitionierte Mainzer Klassiklabel Myrios vor.

FAZ, 19.11.2011

Endlich spricht es mal jemand aus. "Nicht nur die polizeilichen Ermittler ließen sich offensichtlich von Klischees über Deutschtürken leiten, sondern auch die Öffentlichkeit machte mit", schreibt Karen Krüger selbstkritisch im Feuilletonaufmacher. Medien verorteten die Morde und die Opfer der Zwickauer Nazis in türkischen Kriminellenmilieus. Sie kamen nicht auf die Idee, dass es anders sein könnte. Und sie insistierten nicht bei den Behörden. "Und auch in dieser Zeitung wurde wild über denkbare Hintergründe spekuliert, die Möglichkeit einer rechtsextremistischen Tat aber nicht in Betracht gezogen: Im türkischen Milieu kann es eben auch mal knallen."

Weitere Artikel: Jürg Altwegg prüft die Shortlist des Schweizer Buchpreises, der morgen bekannt gegeben wird. Dirk Schümer porträtiert den Schauspieler und Theatermacher Alessandro Gassmann, Sohn des berühmten Vittorio, der mit einem neuen sozialen Theater die italienische Szene aufmischt. In seiner Gastrokolumne informiert Jürgen Dollase über den radikal-regionalistischen Ansatz der "Nova Regio"-Küche, den unter anderem Rene Redzepi vom Restaurant "Noma" in Kopenhagen vertritt. Auf der Medienseite stellt Michael Hanfeld eine bestürzende CNN-Reportage über afrikanische Flüchtlinge in der Sinai-Wüste vor, die von einer ägyptischen Mafia gefoltert und um der Organentnahme willen ermordet werden (mehr hier). Auf Seite 1 gedenkt Gerhard Stadelmaier Kleists: "Ungeschrieben, aber wirksamer als jedes Buch hat Kleists Todes-Stück sich der Nachwelt eingeschrieben wie kein zweites."

Besprochen werden Installationen von Douglas Gordon in Frankfurt, eine Anselm-Kiefer-Ausstellung in Tel Aviv und ein Auftritt der Band Band Okkervil River in Köln.

In Bilder und Zeiten berichtet Andreas Platthaus von einer Journalistenreise nach Chengdu, in die Hauptstadt der westchinesischen Provinz Sichuan. Andreas Rossmann beschreibt , wie die "Landmarken" der Internationalen Bauausstellung Emscher Park (1989 bis 2000) das Ruhrgebiet veränderten. Auf der Schallplatten-und-Phonoseite geht"s unter anderem um Korngolds "Tote Stadt" und ein neues Album von Kate Bush. Und Uwe Ebbinghaus spricht mit Ulrich Matthes über Kleist, dem der Schauspieler ein Programm gewidmet hat.

In der Frankfurter Anthologie stellt Silke Scheuermann ein Gedict von Nelly Sachs vor:

"Einer
wird den Ball
aus der Hand der furchtbar
Spielenden nehmen.
Sterne
haben ihr eigenes Feuergesetz
und ihre Fruchtbarkeit
ist das Licht (...)"

SZ, 19.11.2011

Ein Journalist beschreibt unter dem Pseudonym Thomas Kuban, wie geschickt und international vernetzt die rechtsradikale Szene in Deutschland arbeitet und wie wenig der Verfassungsschutz ausrichtet: "Solange Verfassungsschutz-Ämter Neonazis a la Sebastian Seemann als Informanten anwerben und finanzieren, werden sie unterirdische Arbeitsergebnisse erzielen wie im Fall des "Nationalsozialistischen Untergrunds". Wer professionell Kenntnisse gewinnen will, setzt geschulte Beamte als verdeckte Ermittler ein. Gegenwärtig könnten womöglich fünf bis zehn Fachjournalisten mehr zu einem NPD-Verbot beitragen, als sämtliche V-Leute des Verfassungsschutzes zusammen. Doch die Medien hatten die Neonazis in den vergangenen Jahren - ähnlich wie der Verfassungsschutz - nur punktuell im Blick." (Auf der Seite 3 gibt es außerdem eine Reportage zum Thema)

Alex Rühle hat den in den 70ern nach einem Überfall erblindeten Künstler Hugues de Montalembert in dessen Pariser Wohnung besucht und dabei einen ganz erstaunlichen Zeitgenossen kennengelernt, der überdies auch genau weiß, welche die größten Gefahren für blinde Menschen darstellen: ""Die Lebensangst, die so viele Blinde für den Rest ihres Lebens in ihren Wohnungen und in der Sorge ihrer Eltern verschwinden lässt. Aber eine noch größere Gefahr ist unsere Heiligkeit." (...) "Der Krankheitskitsch. All dieses Erhabenheitsgetue. Die Pfarrer, die dir verschwörerisch zumurmeln, als würdest Du mit ihnen ein Geheimnis teilen. Jesus und du. Was für eine Hochstapelei!""

Hier ein Porträt auf Englisch und hier ein Interview mit Montalembert auf Youtube:



Weitere Artikel: Zum Ausklang des Kleist-Jubiläumsjahrs würdigt Jens Bisky den Dichter als "großen Modernen". Almuth Spiegler läuft durch das wiedereröffnete, aber noch etwas kahle 21er-Haus in Wien. Fritz Göttler gratuliert Urmel-Autor Max Kruse zum 90. Geburtstag.

Auf der Medienseite finden wir ein Porträt von Patrick Chappate, Karikaturist der Herald Tribune. In der SZ am Wochenende blickt Jan Bielicki auf die Geschichte des rechtsextremen Terrorismus von der Weimarer Republik bis zu den heutigen Taten der Zwickauer Terrorzelle. Titus Arnu läuft beim Marathon in Athen mit. Miriam Stein trifft Florence Welch, Frontfrau der Band "Florence+The Machine". Kerstin Holzer unterhält sich mit dem Palliativmediziner Gian Domenico Borasio angeregt über das Sterben.

Besprochen werden Douglas McGraths Filmkomödie "Der ganz normale Wahnsinn" mit Sarah Jessica Parker, ein Konzert von Bejun Mehta in München sowie eine Performance des Cedar Lake Contemporary Ballet bei den Tanzwochen in Neuss.