Heute in den Feuilletons

Von unserer Überraschtheit überrascht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.10.2011. Die FR hat "das Äußerste an visueller und philosophischer Dichte" gesehen, das Film heute zu bieten hat. Der Nachteil: Man mag danach nie mehr ins Kino gehen. The Daily Beast staunt über die neue Kollektion von Rei Kawakubo: lauter Hochzeitskleider - aber nicht nur für glückliche Bräute. Die Welt lauschte in Frankfurt einem schalkhaften Buddhisten. Ein großer Konzern stellt heute ein neues Smartphone vor. Mashable ist aufgeregt. Und die New York Times ist aufgeregt über Mashable. Die FAZ hat einen neuen Internetauftritt. Aber wo ist die Zeitung geblieben?

FR/Berliner, 04.10.2011

Als Kinooffenbarung preist Anke Westphal Lars von Triers schönen Weltuntergangsfilm "Melancholia": "Die ersten zwanzig Minuten von 'Melancholia' sind das Äußerste an visueller und philosophischer Dichte, was das Kino derzeit zu bieten hat. Und der Rest ist auch nicht gerade übel, um hier mal zu untertreiben. Nach dem Abspann möchte man eigentlich nie mehr ins Kino gehen.Was soll da schon noch kommen?!"

Besprochen werden auch die Frankfurter Aufführung von Emmanuel Chabriers Opera bouffe "L'etoile" (der Hans-Klaus Jungheinrich Esprit und Exquisitheit attestiert), Johan Simons Inszenierung von Fellinis "Schiff der Träume" an den Münchner Kammerspielen, die Extrem-Comedy "Bodies of Babel" im Frankfurter Mousonturm.

Die Berliner Zeitung hat ebenfalls (siehe auch FAZ) ein neues Layout verpasst bekommen und ist jetzt genauso unübersichtlich wie die FR - zumindest was das Auffinden der Printartikel angeht.

Aus den Blogs, 04.10.2011

Carta dokumentiert Thymian Bussemers Trauerrede auf Robin Meyer-Lucht, den Mitbegründer des Blogs, der vor einer Woche im Alter von 38 Jahren gestorben ist. Er erinnert sich an die gemeinsame Zeit im Sankt Gallener Medieninstitut von Peter Glotz: "Dort erlebte ich ihn, wie er sich - noch keine 30 - Streitgespräche mit Mathias Döpfner lieferte oder Bodo Hombach argumentativ in die Enge trieb. Das war der positive Effekt seiner alles überwölbenden Sachlichkeit: er wurde von allen von der ersten Minute an ernst genommen - selbst wenn seine Urteile hart waren, trafen sie ins Schwarze." Carta hat auch weitere Reaktionen auf Meyer-Luchts Tod gesammelt.

Die Pret-a-Porter-Schauen in Paris laufen. Robin Givhan schreibt in The Daily Beast über die neue Kollektion von Rei Kawakubo für Comme des Garcons, die ausschließlich aus Hochzeitskleidern bestand: "The first model that designer Rei Kawakubo sent down the runway wore an enormous and cumbersome white gown with a garishly bloated skirt. Her hair was covered by an enormous headdress that looked like an entire wedding cake had melted around her skull. And, startlingly, her hands were seemingly bound by a giant white bow. This was an abrupt indictment of the entirely extravagant, overly commercialized, highly politicized institution of marriage." Style.com präsentiert alle Kleider der Kollektion.

Ein großer Konzern stellt heute ein neues Smartphone vor. Das große Ding daran wird aber nicht die Hardware, sondern die Software sein, meint Ben Parr in Mashable. "With Assistant, you can say to your iPhone, 'Please find me a Chinese restaurant within a mile of my location.'" Und wer wissen will, was Mashable ist, muss die New York Times lesen: Jennifer Preston schreibt einen Jubelartikel über Pete Cashmore, den 36-jährigen (und blendend aussehenden) Gründer des Blogs, das inzwischen mehr Seitenaufrufe hat als Techcrunch - eine Figur, die in Deutschland wohl so nicht denkbar wäre.

Kathrin Passig erklärt auf Google Plus, warum sie nicht an die Zukunft des Buchs glaubt. Einer der Gründe: "Früher drückte ein Buchgeschenk aus 'ich habe mir die Mühe gemacht, was zu dir Passendes zu finden', heute können Algorithmen das besser als Freunde, weil sie dieselbe oder eine sehr ähnliche Technik, aber eine viel größere Datenbasis zugrundelegen."

NZZ, 04.10.2011

Im Aufmacher rühmt Angela Schader Jon McGregors unerbittlichen Drogenroman "Als Letztes die Hunde". Andrea Köhler berichtet von einer amerikanischen Studie, die nichts Gutes von der heranwachsenden Generation erwarten lässt, die keine Werte mehr kennt. Außerdem besprochen werden Leon Bloys Erzählungen "Blutschweiß" und Hans Ulrich Gumbrechts Essays "Unsere breite Gegenwart" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Auf der Medienseite gratuliert Christophe Büchi dem Magazin L'Hebdo zum Dreißigjährigen. Rainer Stadler mokiert sich über die Trash-Kultur, die es auch in der Schweiz gibt.

Welt, 04.10.2011

Glänzend amüsiert hat sich Jan Küveler in Emmanuel Chabriers anarchischer Oper "L'Etoile" mit einem wunderbaren Christoph Mortagne in der Rolle des Königs Ouf. "Der Schauspieler-Sänger, der jahrelang an der Comedie francaise spielte, bis man seine Stimme entdeckte und er sich zum Tenor ausbildete, intoniert mit inniger Begeisterung, die ganz bei sich bleibt, quasi im Bannkreis der eigenen Krone. Er hat, um sich zu freuen, die anderen nicht nötig. So ist er ein schalkhafter Buddhist, der, um sein Volk zu belustigen, ohne Wimpernzucken einen armen Teufel pfählen würde."

Weiteres: Die Sängerin Tori Amos erzählt im Interview, dass sie für ihr neues Album eigene Musik mit der von Schubert und anderen romantischen Komponisten vermischt hat. Hannes Stein besuchte für seine Post aus Amerika Franklin Delano Roosevelts Haus in Hyde Park. Tim Ackermann wandert mit dem Berliner Künstler Marc Brandenburg durch die Gemäldegalerie. Elmar Krekeler dröhnt der Kopf nach Frank Castorfs "neuer Dostojewski-Zurichtung". Und Sarah Elsing wird nicht so recht warm mit Miriam Meckels Krisenbuch "Next".

Weitere Medien, 04.10.2011

Über das lange Wochenende haben sich einige interessante Beiträge in der arte-Mediathek angesammelt, zum Beispiel ein spielfilmlanger Porträtfilm über Max Frisch:



In der Gesprächsreihe "Bitte Stören" trifft Thea Dorn hier auf Hans Magnus Enzenberger und hier auf Martin Walser. In der Sendung "Literaturland: Deutschland" trifft die französische Schriftstellerin Mazarine Pingeot deutsche Autoren. Unter den Spielfilmen finden wir in voller Länge das Biopic "Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben" und "Tatort ... Hauptbahnhof Kairo", einen ägyptischen Spielfilm aus den 50er Jahren.

TAZ, 04.10.2011

Klaus Englert stellt Europas anspruchsvollstes Parkprojekt vor: den Uferpark in Madrid. Daniela Zinser berichtet über Andri Snaer Magnasons Ökokampfschrift "Traumland". Micha Brumlik erklärt den "ungebildeten" außenpolitischen Experten der Bundesrepublik, wie Europa Israelis und Palästinenser zu Verhandlungen zwingen könnte. Christian Werthschulte hört Metal beim Essener Musikfest Denovali. David Denk berichtet über die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises. Ekkehard Knörer schreibt den Nachruf auf den Schnittmeister Peter Przygodda.

Besprochen werden das Album "Gedichterbe" von AGF und zwei Inszenierungen von Karin Beier am Kölner Schauspielhaus.

Schließlich Tom.

FAZ, 04.10.2011

Die FAZ hat einen neuen Internetauftritt. Er ist "übersichtlich, meinungsstark und diskussionsfreudig", jubiliert FAZ-Redakteur Jan Hauser, der es ja wissen muss. Die FAZ, die erst vor zehn Jahren ins Netz kam, hat inzwischen 3,5 Millionen Unique visitors (etwa zwölf mal so viel wie der Perlentaucher), und Hauser betont zum Verhältnis von Print und Online: "Der enge Austausch ist programmiert. So schreiben Internetredakteure für die Zeitung und Zeitungsredakteure für das Internet." Was uns auffällt: Ganz oben rechts im breiteren dreispaltigen Layout paradieren die Kommentare - nicht die Blogs, die die FAZ, anders als etwa die SZ immerhin pflegt. Echtes Gewicht im Netz verspricht man sich also durch die Zeitungsgenres. Aber gleichzeitig scheint zumindest bisher die Rubrik "FAZ Texte" zu fehlen, in der Internetleser das Inhaltsverzeichnis der Zeitung fanden und Abonnenten die Zeitungsartikel online nachlesen konnten. Wird sie noch geliefert?

Im Feuilleton macht sich Filmredakteur Dietmar Dath zur Abwechslung mal Gedanken über die Frage, was heute Ideologie sei. Lorenz Jäger extemporiert über Mörderdynastien, die den Namen Brutus tragen. Mark Siemons schreitet über die erste Pekinger Kunstbiennale nach dem Fall Ai Weiwei. Hans Hütt versucht aus der Tatsache, dass Angela Merkel vor einem Opernbesuch das Libretto zur "Frau ohne Schatten" las, Erkenntnisse für ihre Politik zu ziehen. Hildegard Kaulen stellt die drei Medizinnobelpreisträger vor (von denen einer, Ralph Steinman, kurz vor der Kür und ohne Wissen der Jury verstorben war). Xavier Oehmen sucht in Polen nach den letzten Wracks von Lokomotiven der Baureihe br 52, die die Reichsbahn im zweiten Weltkrieg eigens für Russland bauen ließ und mit der auch Deportierte transportiert wurden. Gerhard Rohde freut sich über die Wiederentdeckung von Emmanuel Chabriers komischer Oper "L'Etoile" in Frankfurt. Dirk Schümer schreibt zum Tod der niederländischen Autorin Hella Haasse. Und einige bedeutende Kulturschaffende erhalten zu runden Geburtstagen Nachrufe zu Lebzeiten.

SZ, 04.10.2011

Ringsum Freude über das jüngste Europaurteil des Bundesverfassungsgerichts, das vor allem auch als Stärkung des Parlaments angesehen wird. Doch im allgemeinen Jubel wird eine Sache schnell vergessen, findet der Politologe Jan-Werner Müller: Wegen der Erfahrungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beruht Europa "geradezu auf einem antiparlamentarischen Grundriss", wie er am Beispiel der Verfassungsgerichte zeigt, die überall in Europa große Macht gewonnen haben: "Ein Verfassungsgericht ist keine Kopie des amerikanischen Supreme Court, sondern eine Institution, die größtenteils nichts anderes betreibt als 'negative Gesetzgebung' - also primär das Parlament in seine Schranken verweist."

Weitere Artikel: Von der schwedischen Zeitung Expressen übernimmt die SZ ein Gespräch zwischen dem schwedischen Autor Per Olov Enquist und seinem isländischen Kollegen Jon Kalman Stefansson unter anderem über Lesebiografien und den Einfluss der Natur auf beider Schreiben. Peter Laudenbach unterhält sich mit Robert Wilson anlässlich dessen 70. Geburtstags. Reinhard Brembeck hat sich Pierre Boulez' "Pli Selon Pli" (mehr), dirigiert vom Komponist persönlich, in München angehört. In der Reihe über "verschollene Länder" stellt Burkhard Müller das alte Preußen vor. Wolfgang Schreiber hat sich die Verleihung des Echo Klassik angesehen und dabei über die marketinglüsterne Repräsentation von Klassikmusikern nachgedacht. Der österreichische Kabarettist Alfred Dorfer berichtet, wie ein eigenhändig organisiertes Integrationsprojekt am unterschiedliche Frauenbild scheiterte ("Also organisierten wir Sprachkurse, gratis sowieso, nur für sie. Doch keine kam. Wir waren von unserer Überraschtheit überrascht".

Besprochen werden eine Ausstellung über den Ästhetizismus zu Zeiten Oscar Wildes in England im Musee d'Orsay in Paris und eine über Botticelli im Palazzo Strozzi in Florenz. die Comictrilogie "Für das Imperium" (mehr), Dries Verhoevens' Theaterinstallation "Dunkelkammer" in den Münchner Kammerspielen und Bücher, darunter ein Sammelband mit den Erfahrungen jüdischer Einwanderer in Kanada (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).