Heute in den Feuilletons

Schwester Lüge und Bruder Schmerz

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.11.2010. Tolstoi in allen Feuilletons: Welches war der Grund seiner allerletzten Flucht?, fragt die Übersetzerin Rosemarie Tietze in der Welt. Die Atmosphäre unter Rumänen und Rumäniendeutschen ist heute vergifteter als unter der Diktatur - ein posthumer Sieg der Securitate, schreibt Claus Stephani in der FAZ. In der taz erklärt der Künstler Bill Drummond, warum er einen "No-Music-Day" ausgerufen hat.  Die NZZ berichtet über den Fall des Historikers Michael Richter am Dresdner Hannah-Arendt-Institut, der als einstiger Stasi-IM enttarnt wurde.

Welt, 20.11.2010

Bis heute, schreibt die Tolstoi-Übersetzerin Rosemarie Tietze, wird über Tolstois letzte Reise gerätselt, auf der er vor hundert Jahren starb. Die Ehekrise allein kann es nicht gewesen, meint sie: "Vor allem aber war Flucht ein Reflex, dem Tolstoi im Leben mehrfach nachgab, durch radikale Kehrtwenden befreite er sich aus unerträglich gewordenen Lebenslagen. So, als er lange vor seiner Ehe in den Kaukasus aufbrach; der Entschluss kam derart plötzlich, dass er nicht einmal die notwendigen Papiere mitnahm. Auch in seinen Werken gestaltete er solches Verschwinden, zuletzt im 'Lebenden Leichnam' und den 'Aufzeichnungen des Starez Fjodor Kusmitsch'. Unterzutauchen, als namenloser Wandermönch durch die Lande zu ziehen..."

Weitere Artikel: Die Literarische Welt bringt einen Auszug aus der Berthold-Beitz-Biografie von Joachim Käppner. Der Soziologe Wolfgang Sofsky denkt in einem kleinen Essay über die Widersprüche der repräsentativen Demokratie nach. Besprochen werden unter anderem Ulrich Noethens Einlesung von "Krieg und Frieden", Amartya Sens Buch "Die Idee der Gerechtigkeit" (hier eine Leseprobe) sowie zwei Bücher über Jazz, nämlich Wolfgang Sandners Miles-Davis-Biografie und Wynton Marsalis' Buch "Jazz, mein Leben".

Auf der Feuilletonseite warnt Paul Jandl vor den Folgen der Kürzungen im österreichischen Wissenschaftsbetrieb. Sven Felix Kollerhoff hat die Gedenkstätte zu den Nürnberger Prozessen besucht, die morgen eröffnet wird.

NZZ, 20.11.2010

Joachim Güntner berichtet über den Fall des Historikers Michael Richter am Dresdner Hannah-Arendt-Institut, der als einstiger Stasi-IM enttarnt wurde, "ein Ex-Spitzel ausgerechnet an einer Einrichtung für Totalitarismusforschung. Einst Handlanger der Repression, nun ihr Analytiker, ein Dunkelmann als Aufklärer".

Weiteres: In der Reihe "Digitaler Alltag" erzählt der Internetgegner Peter Bürger von einer Bekannten namens Felicitas, die mit ihrem Blog glücklich wurde. Samuel Herzog berichtet über das Goethe-Institutsprojekt "The Promised City" in Bombay, das sich mit der Frage befasst, warum Menschen in Städte kommen. Barbara Villiger Heilig berichtet am Beispiel des Teatro Nuovo Giovanni da Udine unter Cesare Lievi von den Schweirigkeiten der Theaterarbeit in der verfallenden Kulturnation Italien. Besprochen wird Hindemiths Oper "Mathis der Maler" in Paris.

In Literatur und Kunst feiert der Slawist Urs Heftrich das Doppeljubiläum Leo Tolstoi und Anton Tschechow ("sogar eine quasi verwandtschaftliche Linie lässt sich ausmachen: Tschechows Großvater, ein Leibeigener, hatte der Familie von Tolstois Nachlassverwalter Wladimir Tschertkow gehört"). Außerdem schreibt der klassische Philologe Klaus Bartels über das in lateinische und griechische Zitate herabgesunkene klassische Bildungsgut. Und Paul Sigel unterhält sich mit dem Architekten David Chipperfield.

Besprochen werden einige Bücher, darunter der Roman "Die Gehetzten" des russisch-französischen Exilschriftstellers Michel Matveev (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 20.11.2010

Von der Jahrestagung der großen Häuptlinge des deutschen Printjournalismus berichtet Ulrike Simon. Der eine sah dabei manches so, der andere sah es anders: "Anders als [der Schweizer Verleger Michael] Ringier, der Applikationen und Tablet-PCs als Spielerei betrachtet ('Aber in meiner Generation bedeutete Multitasking ja auch noch, auf dem Klo zu sitzen und Zeitung zu lesen'), sieht Springer-Zeitschriftenvorstand Andreas Wiele darin die Zukunft. Auch er machte ein Geständnis: Nur 40 Minuten verweile ein Nutzer auf Bild.de - pro Monat. Bei Tablet-Magazinen werde sich dies ändern, damit könne wieder die Aufmerksamkeit des Lesers gewonnen werden."

Christian Schlüter hat das nun auch in deutsche Buchform gebrachte (im Internet frei zugängliche) französische Manifest "Der kommende Aufstand" gelesen, nicht ohne Sympathie, und fasst seinen Inhalt zusammen: "Akademiker gestatten sich die Revolte. Das Buch folgt der Maxime strikter Immanenz, es gibt nur noch Verzweiflung, aber keine Ausreden mehr, kein Außerhalb und kein Ausweg. Das kapitalistische System ist total geworden, die Welt ein konsumistisches Spektakel, ein flirrendes Spiegelkabinett unserer Unterhaltungssucht." Zuletzt möchte Schlüter dann aber doch wissen, was eigentlich nach dem Aufstand kommt.

Weitere Artikel: Olga Martynova weiß, warum uns Leo Tolstoi auch an seinem hundertsten Todestag noch angeht. In Peter Michalziks "Times Mager" geht es um das Durchschnittsdeutschsein im Frankfurter Nordend. 

Besprochen werden die Uraufführung von William Forsythes neuer Choreografie "Whole in the Head" in Frankfurt, Olivier Pys Inszenierung von Paul Hindemiths Oper "Mathis der Maler" an der Pariser Bastille-Oper, ein kammerorchstergestütztes Konzert von Peter Maffay in Frankfurt, ein Konzert des Sinfonieorchesters des hessischen Rundfunks unter Frank Strobel mit standbildbegleiteter Musik von Bernard Herrmann und eine Aufführung von Samuel Taylors Stück "Ein Hauch von Frühling" an der Frankfurter Komödie.

TAZ, 20.11.2010

Als scharfer Kritiker der den einzelnen entmündigenden Marktförmigkeit von Musik ist der Künstler Bill Drummond hervorgetreten. Vor fünf Jahren rief er den alljährlichen "No Music Day" ins Leben, der morgen erneut ansteht. Im Gespräch mit Dirk Schneider erläutert Drummond die Hintergründe seiner Kritik: "Die Musikmultis wollen uns klarmachen, dass wir das nicht so gut können wie diejenigen, die zum Beispiel Vivaldi spielen oder zum neuen Michael Jackson und zur neuen Lady Gaga ausgerufen werden. Geniekult ist sehr wichtig für die Schallplattenindustrie. Und das ist ganz ähnlich, als würde man uns sagen: Leute, vergesst das mit dem Sex. Ihr könnt das einfach nicht gut genug. Wir haben hier Profis, die wirklich gut vögeln, und ihr bezahlt ab jetzt, um ihnen dabei zusehen zu dürfen."

Weitere Artikel: In seiner großen Würdigung Leo Tolstois zu dessen 100. Todestag sieht Dirk Knipphals in den Werken des Autors gegenwärtiges Erzählen vom Split-Screen bis zur HBO-Serie bereits präfiguriert. Über seine Begeisterung für die Musik der Carpenters schreibt der DJ und Labelbesitzer Daniel Wang. Auf die echt falsche Apple-Seite der Yes Men verweist Diana Aust. Warum staatliche Schauspielschulen belieber sind als die privaten, weiß Tilman Queitsch. Über die Nicht-Erfolgsidee Volksbühnenbewegung, die am Sonntag in der so noch genannten Volksbühne in Berlin ihren 120. feiert, denkt Esther Slevogt nach. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne hält Frauke Böger einen neuen Sammelband über die "Bielefelder Schule" so wenig für einen Brüller wie Bielefeld selbst.

Besprochen werden Bücher, darunter Uwe Wesels Überblicksbuch "Geschichte des Rechts in Europa" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

FAZ, 20.11.2010

Der Autor Claus Stephani wendet sich gegen die scharfe Verurteilung Oskar Pastiors durch Dieter Schlesak vor einigen Tagen, weist daraufhin, dass Schlesak selbst eine Täterakte hat und erzählt dann, wie er von der Securitate psychisch unter Druck gesetzt wurde, bis er eine Einwilligung als IM unterschrieb. Die Atmsphäre unter Rumänen und Rumäniendeutschen findet er heute vergifteter als in der Zeit der Diktatur: "Noch nie gab es unter ihnen so viel üble Nachrede, so viele Stammtischkommentare, Verdächtigungen, Gerüchte ohne Belege, öffentliche Anprangerungen, so viel Neid und Hass. Noch nie waren Schwester Lüge und Bruder Schmerz, die ungleichen Kinder aller Diktaturen, so oft beisammen, Hand in Hand. Es ist ein später Endsieg dieser teuflischen Behörde."

Weitere Artikel: Mark Siemons sieht den Brand eines Hochhauses in Schanghai vor einigen Tagen mit über fünfzig Toten (mehr hier) nicht als Zufall, sondern als Symptom der Korruption am Bau. Der Designer Markus Weisbeck schreibt einen Nachruf auf das Frankfurter Berufsbekleidungsgeschäft Schambach, bei dem einst Grzimek und Beuys kauften und das in diesen Tagen schließt. Joseph Hanimann war dabei, als Jorge Semprun in Paris ein Buch mit Essays über Europa vorstellte. Jürgen Dollase besucht für seine Gastrokolumne das Pariser, von Alain Ducasse konzipierte Fischbistro "Rech" (Abendkarte als pdf-Dokument). Joseph Croitoru verzeichnet das zaghafte Einsetzen einer Bewegung für mehr Frauenrechte in Saudi Arabien, das ihm die Mitgliedschaft des Landes in der neuen UN-Organisation für Frauen gar nicht mehr so absurd erscheinen lässt. Für die letzte Seite trifft Dirk Schümer den Amtsrat Professor Julius Müller, Gestalter des Bestattungsmuseums in Wien.

Besprochen werden Choreografien von William Forsythe in Frankfurt. Auf der Schallplatten- und Phonoseite geht es unter anderem um neue CDs der Countertenöre Bejun Mehta und Philippe Jaroussky und um eine CD der exhumierten Boygroup Take That.

In einem Tolstoi-Essay in Bilder und Zeiten unterscheidet Uwe Tellkamp zwischen zwei Typen von Schriftstellern: "diejenigen, die dicke Bücher schreiben, von denen man nichts wegnehmen kann (Proust, Doderer, Brodkey), und diejenigen, die dünne Bücher schreiben, denen man nichts hinzufügen kann (Nabokov, Capote, Bernhard). Die einen wundern sich über die andern wie Landbewohner über Wasserbewohner."

Außerdem: Tilman Spreckelsen besucht die Kinderbuchautorin Judith Kerr, Tochter von Alfred Kerr, die im Alter von neun Jahren nach London emigrieren musste. Kerstin Holm flaniert über die Buchmesse im sibirischen Krasnojarsk (mehr hier). Auf der Literaturseite geht's um neue Tolstoi-Übersetzungen. Auf der letzten Seite erzählt der Karstadt-Investor und Milliardär Nicolas Berggruen im Interview mit Ingeborg Harms, wie er durch sein Nicolas Berggruen Institute (Website) Einfluss auf die Politik nehmen will. Als Berater dient ihm unter anderem der deutsche Gasmann Gerhard Schröder.

Für die Franfurter Anthologie liest Hans-Joachim Simm ein Gedicht von Wilhelm Busch: "Der Kobold:

In einem Häuschen sozusagen -
(Den ersten Stock bewohnt der Magen)
In einem Häuschen war's nicht richtig.
Darinnen spukt und tobte tüchtig
Ein Kobold, wie ein wildes Bübchen
..."

SZ, 20.11.2010

Roboter regeln unseren letzten Weg, stellt Evelyn Roll im Berliner Krematorium am Baumschulenweg fest: "Ronald Jacob ist ein Mann in den Fünfzigern mit einem freundlichen Gesicht und weißen Haaren. Er trägt eine blaue Hausmeister-Latzhose. Jetzt öffnet er die Tür zur Kühlhalle: raumhoch Regale voller Särge, im rechten Winkel ausgerichtet, aus Kiefernholz die meisten, wenige aus Eiche mit schweren Beschlägen. Dazwischen Gänge. Wie bei Ikea, nur viel kälter. Es passen 658 Särge hier rein. 'Das System sucht sich den Platz selber. Es baut sich Sargnester auf, damit es immer die kürzesten Fahrwege hat.' Es gibt also ein System, das Sargnester baut."

Im Aufmacher des Feuilletons liefern sich Andrian Kreye und Andreas Zielcke ein Pro und Contra zum Thema Streetview-Verpixelung. Der als beliehener Blogger bekannt gewordene Schriftsteller Airen erzählt, wie es ihm erging, als er in seiner neuen Heimat Mexiko-Stadt aus Versehen seine Wohnung an Geiselgangster vermietete. Es gibt da nämlich ein Grundsatzproblem: "Auch herrscht in Mexiko ein anderes Rechtssystem: Man ist schuldig, bis man das Gegenteil beweisen kann." Die Münchner Pinakothek der Moderne ist so arm, stellt Camilo Jimenez fest, dass ein bisher nur als Leihgabe im Museum befindliches Gemälde von Neo Rauch nun mit Hilfe von auf einer "Auktions-Party" eingeworbenen Spenden angekauft werden soll. Karl Bruckmaier gratuliert dem Musiker Mac Rebennack alias Dr. John, Manfred Schwarz dem Kunst-Kurator Götz Adriani und Susan Vahabzadeh der Filmemacherin Helma Sanders-Brahms zum Siebzigsten. Auf der Literaturseite erinnert Hannelore Schlaffer zu dessen 100. Todestag an Leo Tolstoi.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende denkt Christian Nürnberger über Feminismus und Machtverhältnisse nach. Rebecca Casati trifft in Berlin den Schauspieler Mark Ruffalo zum Gespräch. Auf einer Doppelseite geht es um die problematische Beziehung zwischen technischen Geräten und ihren Nutzern. Hans Christian Buch schreibt unter dem Titel "Der Freund meines Vaters" über den NS-Juristen Franz Nüsslein. Dorion Weickmann unterhält sich mit dem Choreografen William Forsythe über "Struktur".

Besprochen werden, passend dazu, ein dreiteiliger Abend mit Choreografien von William Forsythe in Frankfurt, ein Münchner Konzert, bei dem die br-Symphoniker unter Daniel Harding Musik von Beethoven und Bartok zur Aufführung brachten, die Ausstellung "Make Up. Design der Oberfläche" im Museum für Gestaltung in Zürich und der abschließende, von Walter Ruegg herausgegebene Band einer europäischen Universitätsgeschichte.