Heute in den Feuilletons

Der gläserne Hörer lässt grüßen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.04.2009. In der FAZ sehen Peter Nadas und Peter Esterhazy schwarz für Ungarn. Amerikanische Blogs sind fasziniert von deutscher Kondomwerbung. Jungle World fragt sich, was die UNO unter "Diffamierung von Religionen" versteht. In der Zeit erinnert Alice Schwarzer an eine wenig reflektierte Tatsache aus Winnenden: Elf von zwölf Opfern waren weiblich. Welt und SZ besuchen den Bonner Kanzlerbungalow: Ein flaches Gebäude, das tief blicken lässt.

Berliner Zeitung, 16.04.2009

"Das Erbrechen aus Angst ist eine schöne und erhabene Sache, besonders, wenn es einen Kreativen nicht davon abhält, die Bühne zu betreten", schreibt Daniela Pogade zum achtzigsten Geburtstag Jacques Brels, der gesagt hatte, er müsse aus Lampenfieber dreimal am Tag kotzen.

Welt, 16.04.2009

Das "beste Gebäude der Bundesrepublik", so Rainer Haubrich, nämlich der von Sep Ruf entworfene Bonner Kanzlerbungalow lässt sich nach einer Renovierung jetzt besichtigen. Ein symptomatisches Gebäude: "Hier wurde allerdings auch jener überstrapazierte Topos geboren, nach dem als demokratisch nur die Architektur gelten könne, die sich 'offen und transparent' gibt. Und in manchem Detail kündigte sich bereits jene Verzwergung an, die auch ein Merkmal der Nachkriegsarchitektur wurde (das niedrige Vordach und der runde Waschbetonkübel darunter sprechen Bände)."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr meditiert in der Leitglosse über die unpoetische Natur des Maises, dessen Genzüchtung er aus kulturkonservativen Erwägungen ablehnt. Wieland Freund berichtet über den Prozess gegen die schwedische Downloadseite Pirate Bay.

Besprochen werden die neue CD der noch rüstigen Depeche Mode (hierzu gehört auch ein Interview mit Martin Gore), Puccinis selten gespielte Oper "La Rondine" in Leipzig und Filme, darunter "Il Divo" über das Leben des Giulio Andreotti.

Aus den Blogs, 16.04.2009


Via Slate. Die englischsprachige Welt ist fasziniert von einer deutschen Anzeigenkampagne (Grey) für Kondome. Laut Adfreak spiegelt Kondomwerbung schlicht die Gemütsverfassung eines Landes wieder. Hier lautet die Botschaft: Benutzen Sie ein Kondom, um sicher zu sein, dass Sie nicht den nächsten Osama bin Laden, Adolf Hitler oder Mao Zedong auf die Welt bringen. Kurz: Wir haben Angst.

(Via Immateriblog) Unter großem Wehklagen setzen die Verwerterindustrien immer drastischer Gesetzesverschärfungen, besonders auf europäische Ebene durch, schreibt der österreichische Richter Franz Schmidbauer auf der Website internet4jurists: "Wenn diese Entwicklung in diesem Tempo weitergeht, müssen wir in Kürze damit rechnen, dass bei Autokontrollen auch der MP3-Player und der USB-Stick kontrolliert werden, ob sich darauf allenfalls unlizensierte Musik befindet. Auch könnte es soweit kommen, dass das Abspielgerät zu Hause erst einen Ton von sich gibt, nachdem es in einer Datenbank im Internet nachgefragt hat, ob der User berechtigt ist dazu. Die technischen Voraussetzungen dafür sind schon geschaffen und auch in den diversen Geräten schon integriert, aber man könnte das Ganze vielleicht noch an einen Fingerprint koppeln und Missbräuche gleich online der Verwertungsgesellschaft melden. Der gläserne Hörer lässt grüßen!"

(Via BoingBoing) Bei mobileRead erzählt Ian, dass Amazon seinen Account gelöscht hat, weil er zu oft Ware zurückgeschickt hat. Damit ist auch sein Kindle wertlos geworden: "I have now discovered that I cannot manage my Kindle2 account (I can't log into Amazon) or purchase any new content. In effect, I now have a $359 brick, not covered under any warranty, not able to be used the way it was meant to be, not able to be returned (not that I even want to, I just want to keep reading!) (...) But please let this be a lesson to all of us - when you buy a Kindle, you are really buying a service - and that service can be turned off at a whim."

(Via Medienlese) Das Musical zum Zeitungssterben "Saving Newspapers":


Jungle World, 16.04.2009

Die aktuelle Jungle World legt ihren Schwerpunkt auf die nächste Woche in Genf stattfindende Durban-Folgekonferenz. Für Lukas Lambert haben die Vorbereitungen die schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Die UN haben mit den Menschenrechten nichts am Hut: "Die Länder der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) verabschieden mit ihrer Mehrheit seit mehreren Jahren Resolutionen, die sich gegen die so genann­te 'Diffamierung von Religionen' richten. Diese Staaten verlangen, Religionen und vor allem den Islam zum Träger von Menschenrechten zu erklären, deren 'Verletzung' z.B. durch 'beleidigende Bilder' von Staaten verfolgt und bestraft werden kann. Im selben Kontext verlangen sie die 'freiwillige' Beschränkung der Pressefreiheit. Eine entsprechende Resolution verabschiedete der Menschenrechtsrat erst vor zwei Wochen und verlieh damit der Verfolgung von Oppositionellen oder Minderheiten in diktatorischen Staaten einmal mehr den Segen der Vereinten Nationen."

Im Interview erklärt Israels UN-Botschafter in Genf Aharon Leshno-Yaar den Antisemitismus der arabischen Staaten als Mittel der Herrschaftssicherung: "Sie benutzen sie, um Kritik an der Menschenrechtssituation in ihrem Land abzuwehren."

FR, 16.04.2009

Anders als die Mohammed-Karikaturen druckt die FR den taz-Spaß mit dem gekreuzigten Klinsmann nach, und Matthias Tieme konstatiert, dass sich nicht mal die Kirchen richtig drüber aufregen können. In times mager beschreibt Arno Widmann einen fernsehhistorischen Moment bei Kerner: Ein Richter präsentierte sich dort mit einem ehemaligen Angeklagten, den er zu Unrecht verurteilt hatte. Sylvia Staude gratuliert Merce Cunningham zum Neunzigsten.

Besprochen werden Nora Bossongs Roman "Webers Protokoll" und Filme, darunter Paolo Sorrentinis Film "Il Divo".

TAZ, 16.04.2009

Auf der Meinungsseite beschreibt Julia Grosse die Proteste in London gegen den G20-Gipfel, die eher lahm ausfielen, obwohl die Medien es sich anders gewünscht hätten. "Evening Standard oder Guardian veröffentlichten ganze Doppelseiten mit Infos und komplizierten Grafiken zu den Aktionsorten der jeweiligen Gruppierungen, und es war, als betrachte man topografische Karten eines Kriegsgebiets. Schweppes lieferte zum Politevent sogar die postpostmoderne Stadionwerbung und plakatierte mitten in das Finanzherz der Stadt eine riesige Werbung, in der verschreckte Manager auf schmelzenden Eisschollen kauerten wie eine aussterbende Spezies. Ausgerechnet ein Multikonzern verhöhnt hier die Manager in der gleichen Schärfe wie die Protestlinke. Dass die Werbung in den Hetzchor allein und ausschließlich eingestiegen ist, um Neukunden zu gewinnen, die wütend auf ihren Kreditschulden sitzen, verdeutlicht wunderbar, wie beunruhigend leicht sich Kritik in der mächtigen britischen Finanzmetropole aneignen lässt. Die Hetze als Mainstreamtrend."

Im Kulturteil protokolliert Dietmar Bartz den zweiten seiner vier Tage Einsatz bei der streng abgeschirmten "Erstversorgung" der geretteten Urkunden und Akten aus dem eingestürzten Kölner Stadtarchiv. Am 7. April notiert er: "16 Uhr. Die Kaffeepause schrumpft auf ein schnelles Heißgetränk im Stehen. Die Archivarin vom Dienst in ihrem roten T-Shirt läuft herum, ermuntert, lobt, freut sich. Die Frauen unserer Putztruppe fragen sich, warum sie immer die Fetzen bekommen. Wir entdecken eine Gender-Problematik. Zuvorkommend nehmen die Männer die schweren Kisten, in denen komplette Akten liegen. In den leichten Mädchenkartons warten die Problemfälle."

Weitere Artikel: Daniel Schreiber erklärt den aktuellen Kunstmarkt, dem die Krise mitnichten so gut tue, wie herbeibeschworen, und ruft Hedgefonds-Manager, Schwarzgeldbesitzer und Investmentbetrüger dazu auf, Renditen mit Klassikern zu vergessen und ihr Geld in notleidende Museen, Galerien und vor allem junge Kunst zu investieren. Jan Feddersen beschreibt in tazzwei, wie sich die Bedeutung von "Isch schwör" in seiner Nachbarschaft ändert. Auf der Medienseite berichtet Michael Braun über die Empörung, die ein italienischer Reporter mit kritischen Fragen zum Erdbeben in L'Aquila ausgelöst hat.

Besprochen werden die große Ikea-Möbelschau "Democratic Design" in der Neuen Sammlung München, der vierte Spielfilm des südkoreanischen Filmregisseurs Lee Chang-dong "Secret Sunshine" und ein "besonders schwerer Fall" von romantic comedy: "Liebe auf den zweiten Blick" von Joel Hopkins mit Dustin Hoffman und Emma Thompson.

Tagesspiegel, 16.04.2009

Im Gespräch mit Benedict Maria Mülder diagnostiziert der Soziologe Heinz Bude die "Entprovinzialisierung" Berlins, und zwar ausgerechnet durch die anstehende Abstimmung über den Religionsunterricht in der Stadt: "Die Stadt meldet sich als europäische Metropole zurück: Hier werden Debatten geführt, die für die Welt wichtig sind. Ein verstockter Säkularismus, wie er in einem bestimmten Berliner Milieu gepflegt wird, passt nicht zu den Herausforderungen der postsäkularen Gesellschaft."

SZ, 16.04.2009

Gerhard Matzig hat den nun nach einer Sanierung in öffentlichen Führungen zugänglichen Kanzler-Privatbungalow in Bonn besichtigt. Es beschleichen ihn gemischte Gefühle: "Der Kanzlerbungalow ist zweigeteilt wie die insgesamt gelungene Sanierung: Man spürt vor allem Kohl und Erhard und erlebt einen unfassbar piefigen Privatbungalow sowie einen eindrucksvollen öffentlichen Sehnsuchtsort, dazu ein gebautes, hochinteressantes Missverständnis über Demokratie und Architektur. Das Haus dokumentiert die Bonner Republik als das, was sie war: vergangene Zukunftslust."

Weitere Artikel: Kia Vahland erklärt die Hintergründe der Klage von George Grosz' Erben gegen das New Yorker Museum of Modern Art. Lothar Müller freut sich in einer Glosse, dass das Genre des Nachrufs neuerdings seinen "Geschäftsbereich" erfolgreich auf Konzerne und Firmen ausgeweitet hat. Enver Robelli informiert über den Rassismus-Prozess gegen den serbischen Dichter Dobrica Cosic. Eva-Elisabeth Fischer gratuliert dem Choreografen Merce Cunningham zum Neunzigsten. Johannes Willms schreibt zum Tod des Autors Maurice Druon.

Besprochen werden Ewald Palmetshofers "Faust"-Remix in Wien, die seit 1957 auf dem Programm stehende "Parsifal"-Inszenierung in Mannheim, neue Filme wie die Andreotti-Farce "Il Divo - Der Göttliche" und Joel Hopkins' Romanze "Liebe auf den zweiten Blick", eine 50 Filme umfassende Sammlung mit Werken aus dem "Filmverlag der Autoren" und Bücher, darunter Tobias O. Meißners Roman "Die Dämonen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 16.04.2009

In Budapest hat sich Hubert Spiegel mit den Schriftstellern Peter Nadas (mehr) und Peter Esterhazy (mehr) getroffen. Beide sehen ihr Land in einer tief reichenden Krise. Insbesondere Peter Nadas sieht nicht den mindesten Grund zum Optimismus: "Wenn es nicht so tragisch wäre, müsste man von einer Farce sprechen. Es hat sich nichts geändert, wir leben in den alten Strukturen, es gibt keine Kontrolle der Parteien, es gibt keine funktionierende Mittelschicht, erst recht kein Bürgertum, keine Verantwortung. Verantwortung bedeutet in diesem Land nichts, gar nichts - außer der Verantwortung, für die eigene Tasche und die eigene Familie so viel wie möglich zusammenzukratzen, sobald man eine Position erreicht hat, die einem das erlaubt."

Weitere Artikel: In osteuropäischen Zeitschriften liest Joseph Croitoru stark divergierende Analysen zum Jahr 1989. In der Glosse kommentiert Regina Mönch die Übernahme der Berliner Schloss-Blütenträume durch eine Bundesstiftung und damit letzten Endes die Staatskasse. Andreas Rossmann schreibt knapp zum Tod des Künstlers Stefan Brecht, Joseph Hanimann zum Tod des französischen Sprachtheoretikers und Dichters Henri Meschonnic. Ausführlicher ist Hanimanns Nachruf auf den gaullistischen französischen Autor Maurice Druon.

Für die Kinoseite hat sich Peter Körte mit dem Schauspieler Philipp Seymour Hoffman unterhalten, der wenig von Übertreibungen hält: "Wenn man total in einer Rolle zu versinken glaubt, ist das eher ungesund, man ist ja nicht der andere." Michael Althen schreibt zum Tod der Schauspielerin Marilyn Chambers, die in Pornos und in David Cronenbergs frühem Film "Rabid" reüssierte. Auf der Medienseite empfiehlt Harald Keller den gesamten "Beat-Club" auf nicht weniger als 24 DVDs.

Besprochen werden die Ausstellung "Democratic Design - Ikea" in der Münchner Pinakothek der Moderne, die über die Restaurationsarbeit der Berliner Museen informierende Ausstellung "KulturGUTerhalten" im Pergamonmuseum, Lee Chang-dongs Melodram "Secret Sunshine" und Bücher, darunter Laurent Quintreaus Roman einer Vorstandssitzung "Und morgen bin ich dran. Das Meeting" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 16.04.2009

Das Titelfoto der heutigen Zeit zeigt ein rüstiges Abonnentenpaar am Donnerstag in Erwartung des Zeitungsboten:












Im politischen Teil haut Alice Schwarzer auf den Putz. Und völlig zu Recht. Warum, fragt sie, nehmen nicht einmal die Ermittler es ernst, dass in Winnenden elf von zwölf Opfern weiblich waren. "Was wohl wäre, wenn Tim K. in einer gemischt deutsch-türkischen Klasse elf Türken und einen Türkenfreund getötet hätte, das habe ich bereits zwei Tage nach der Tat gefragt. Die Antwort ist einfach: Die Hölle wäre los! Jeder halbwegs kritische Ermittler und Journalist würde nicht nur auf diesen Umstand hinweisen, sondern dem auch nachgehen. Und Schlüsse daraus ziehen, zum Beispiel eine Verbindung herstellen zwischen dem Einzeltäter und einem gesellschaftlichen Klima, in dem Fremdenhass existiert - der vielleicht nicht zufällig in seiner extremsten Zuspitzung solche Formen annimmt."

Im Aufmacher des Feuilletons ärgert sich der Filmregisseur Andreas Dresen über die Missachtung des Filmerbes der DDR. Dazu hat auch Volker Schlöndorff sein Teil beigetragen, als er im Dezember in der Märkischen Allgemeinen erklärte: "Babelsberg! Ich werde oft als Abwickler beschimpft. Dabei habe ich die Grundlagen für heutige Erfolge legen müssen. Den Namen 'Defa' habe ich abgeschafft, die Defa-Filme waren furchtbar." Dresen findet das borniert, und er hält Schlöndorff entgegen, dass heute sogar amerikanische Filme in Babelsberg subventioniert werden. "Die bisher ebenfalls aus Kostengründen genutzten, billigeren tschechischen Studios in Barrandov verwaisen inzwischen, weil die dortige Regierung keine Möglichkeiten für eine großzügige Förderung besitzt."

Weitere Artikel: Hanno Rauterberg fragt sich, was Kunst heute überhaupt noch wert ist. Peter Kümmel war bei der Aktionärsversammlung des Daimler Konzerns. Jens Jessen rät in der Leitglosse dem Bischof Mixa zu mehr Demut. Evelyn Finger gratuliert dem Choreografen Merce Cunningham zum Neunzigsten. Im Wirtschaftsteil porträtiert Helmut Kuhn den Geschäftsführer der taz, Karl-Heinz Ruch.

Besprochen werden Ottorino Respighis Oper "Marie Victoire" an der Deutschen Oper Berlin, die von Robert Wilson inszenierten und von Rufus Wainwright vertonten Shakespeare-Sonette im Berliner Ensemble, eine Jazz-CD von Henning Sieverts, die Marc-Macke-Delaunay-Ausstellung im Sprengel Museum Hannover und Paolo Sorrentinos Film "Il Divo".

Im Aufmacher des Literaturteils ist ein Auszug aus Claude Lanzmanns Memoiren abgedruckt. Besprochen werden unter anderem Verena Roßbachers hochgelobter Roman "Verlangen nach Drachen" und Ernst Noltes Buch "Die dritte radikale Widerstandsbewegung: Der Islam" ("In Noltes verquerer Entlastungslogik wiegt der NS-Antisemitismus leichter, weil es nun mit dem 'Realantisemitismus' der Islamisten eine 'dritte Widerstandsbewegung' gibt, die den Kampf gegen die Moderne, den Westen - und den jüdischen Staat als dessen 'Statthalter' - fortführt", skizziert Jörg Lau die Tendenz des Buchs, mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).