Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.05.2007. Die NZZ stellt die bekanntesten islamischen Fernsehprediger vor. In der taz will die sebstbewusste fromme Muslima Ayten Kilicarslan kein Mitleid für ihr Kopftuch. In der FAZ schildert der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan die Gleichschaltung des Erziehungswesens im Iran. Spiegel online empfiehlt Alex Gibneys Dokumentarfilm "Taxi to the Dark Side" über einen afghanischen Taxifahrer, der in Guantanamo zu Tode gefoltert wurde. Die SZ hörte Orhan Pamuk einen Satz von 155 Zeilen lesen. Die FR versucht, sich ein Bild von Debbie Tucker Green zu machen. In der Welt erklärt Andre Glucksmann, warum ihm Haudrauf Sarko lieber ist als Madonna Sego.

NZZ, 04.05.2007

Auf der Medien- und Informatikseite stellt Volker S. Stahr die zwei bekanntesten Fernsehprediger des Islam vor: Yusuf al-Karadawi und Amr Khaled. Beide wurde in Ägypten geboren, dürfen aber dort nicht predigen. Via Satellit erreichen sie dennoch jede Woche Millionen Muslime weltweit. Den jüngeren Muslimen gefällt vor allem Khaled. "Bekannt wurde er schon zuvor durch Sendungen mit jungen Leuten, denen er sagt, dass Islam und Disco zusammenpassen - solange die Mädchen Kopftuch trügen und die jungen Männer Respekt vor ihnen hätten... Dass Khaled dabei nicht die 'jelaba' trägt und Hocharabisch spricht, sondern im Straßenanzug, mit offenem Hemd und dem oberägyptischen Slang der arabischen Kinohits daherkommt, gefällt ihnen. Dass er den Jugendlichen nicht Verbote aufzählt, sondern ihnen einen 'Islamic Way of Life' aus traditionellen Werten und modernen Vergnügungen aufzeigt, kommt erst recht gut an... Auch Khaleds Sendungen erreichen via Satellit ein Millionenpublikum. Und nicht selten enden sie damit, dass junge Frauen wieder den Schleier tragen."

Weitere Artikel: ras. berichtet über den unaufhaltsamen Erfolg von im Westen erfundenen Unterhaltungsshows in der arabischen Welt: "Als im jüngsten Superstar-Wettbewerb Ende März eine Irakerin gewann, feierten laut einem Agenturbericht im Norden des Landes Tausende den Sieg auf der Straße. Sieben Millionen SMS wurden während der TV-Wahl verschickt; die Telefongesellschaften senkten die Tarife, um auch Ärmeren die Teilnahme zu ermöglichen." Heribert Seifert berichtet über Bloggs, die gegen die "schleichende Islamisierung Europas" anschreiben. Arian Fariborz schildert die unerfreuliche Lage regierungs- und militärkritischer Medien in der Türkei. Die irakische Journalistin Thichkra Mohammed Nader, seit einem Jahr in der Schweiz, erzählt von ihrer Verfolgung im Irak. Christian Meier stellt das neue amerikanische Wirtschafts-Glamour-Magazin Portfolio vor. Eine Meldung informiert uns, dass die Zahl der verkauften Tageszeitungen in Deutschland weiter sinkt.

Im Feuilleton schildert Hans Maarten van den Brink sein Leben an der Klimafront: "Wer Niederländer ist, wächst mit den Mythen und Legenden vom Kampf gegen das Wasser auf. Ich bin geboren mit einem Finger im Deich. Dieser Kampf hatte von alters her nicht nur eine praktische, sondern auch eine moralische und eine theologische Dimension. Für die Verteidigung des Landes hat der Einzelne sich der Gemeinschaft unterzuordnen. Doch anders als in einem herkömmlichen Krieg geht Verlust hier nicht ausschließlich auf das Konto menschlichen Versagens. Eine Überflutung ist auch eine Strafe Gottes. Und daher immer gerecht. Sollte es Zufall sein, dass die rasche Säkularisierung der Niederlande in den siebziger und achtziger Jahren mit der Fertigstellung der letzten großen Küstenschutzanlagen zusammenfiel?"

Weiteres: Sabine Haupt schreibt zur Eröffnung der 21. Genfer Buchmesse. Uwe Stolzmann gratuliert dem slowenische Erzähler Florjan Lipus zum Siebzigsten. Corinne Holtz stellt den Forscher, Sänger und Dirigenten Rene Jacobs vor, Marianne Wohltat (hier) den Komponisten Dietrich Buxtehude.

Besprochen werden eine Ausstellung zu Christian de Portzamparc in der Pariser Cite de l'architecture, die Ausstellung "Das Gold der Thraker" im Antikenmuseum Basel, ein Schubert-Konzert mit David Zinman und dem Tonhalle-Orchester Zürich und Bücher, darunter ein Band von Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffel über Hitlers und Stalins Reiche im Vergleich (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 04.05.2007

Vor den Wahlen in Frankreich am Sonntag trommelt Andre Glucksmann noch einmal für den Kandidaten Nicolas Sarkozy. Fünf Jahre unter Segolene Royal wären verschenkte Jahre! "Von Sarkozy sagt man, er spalte, von Royal hingegen, sie integriere. Der Haudrauf und die Madonna! Dass wir es mit zwei völlig unterschiedlichen Ansätzen von Politik zu tun haben, ist dabei völlig unstrittig. Welcher der beiden ist nun demokratischer? Der von Sarkozy, der vor keiner Auseinandersetzung zurückschreckt, der es hasst, den Wähler mit einem ewigen Einerseits-andererseits zu langweilen? Oder der Ansatz von Royal, die einen Konsens um jeden Preis verspricht und damit letztlich nur die politische Unbeweglichkeit fördert? Seit 30 Jahren leidet Frankreich unter der Phraseologie seines postpolitischen Establishments. Seine Akteure wollen niemanden überfordern." (Hier Glucksmanns Essay über Russlands Dissidenten auf den Seiten des Perlentauchers).

Berthold Seewald blickt auf die historischen Hintergründe des Konflikts zwischen Estland und Russland, das seit Jahrhunderten versucht hat, sich seinen Nachbarn einzuverleiben: "Gestützt auf ihre mit dem Finnischen verwandte Literatursprache begann die estnische Nationalbewegung, die Idee eines eigenen Staates zu artikulieren. Es wurde ein Kampf mit zahllosen Opfern: gegen zaristische Truppen in der russischen Revolution von 1905 sowie deutsche Freikorps und bolschewistische Verbände 1919. Politische Morde, Deportationen, Enteignungen prägten auch das estnische Leben unter NS- und sowjetischer Herrschaft. 1934 lag der Anteil der Russen an der Bevölkerung Estlands bei acht Prozent, heute beträgt er ein Drittel. Man kann den Konfrontationskurs vieler Esten gegen ihre russischen Nachbarn und Mitbürger unklug nennen. Man kann ihn aber auch verstehen."

Weitere Artikel: Vor der Vergabe der heutigen Filmpreise bringen sich im gemeinsamen Gespräch Bernd Eichinger und die Produzentinnen von "Vier Minuten", Alexandra und Meike Kordes, in Stellung. Hanns-Georg Rodek stellt den Schauspiel-Coach Frank Betzelt vor und bekundet in der Randglosse eine gewisse Sympathie für Hans Weingartners "hinterfotzig suberversiven" Vorschlag, die Deutsche Filmakademie weiter die Lolas vergeben zu lassen, die hoch dotierten Deutschen Filmpreise aber sollten an künstlerisch innovative Filme gehen. Stefan Grund berichtet von Orhan Pamuks Lesetour, auf der der Nobelpreisträger allerdings kein Wort zu aktuellen türkischen Krise verlor.

Besprochen werden eine Aufführung von "Wie es euch gefällt" in Hannover, Tilman Köhlers Uraufführung von Thomas Freyers "Separatisten" im Berliner Maxim-Gorki-Theater und ein Band über die italienische Botschaft in Berlin.

TAZ, 04.05.2007

Heide Oestreich hat die von Feridun Zaimoglu angemahnte selbstbewusste fromme Muslima gefunden. Sie heißt Ayten Kilicarslan und erzählt im Interview, was sie als Vertreterin des größten islamischen Dachverbandes Ditib auf der Islamkonferenz erreichen will. "Ich möchte die Belange der muslimischen Frauen einbringen. Diese Frauen werden wegen ihres Aussehens in vielen Bereichen der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie finden keinen Ausbildungsplatz, keinen Arbeitsplatz. Sie werden schlechter bezahlt. Wer sie sieht, denkt automatisch, sie seien arm und unterdrückt. Ich möchte nicht, dass auf der Straße jemand meint, er müsste Mitleid mit mir haben, weil ich ein Kopftuch trage."

Weiteres: Klaus Irler erlebt zum Auftakt der Vorlesetour in Hamburg einen betont unpolitischen Orhan Pamuk. Cristina Nord stellt eine ästhetisch bestimmte Alternativauswahl für den Deutschen Filmpreis zusammen. Auf der Medienseite schildert Friederike Böge die prekäre Lage der afghanischen Medien, deren Unabhängigkeit im Spannungsverhältnis von Regierung, Aufständischen und UN bedroht wird.

Besprochen werden das neue Album ".limbo.messiah" der erfolgreichen Punkrock-Band Beatsteaks sowie Björks Album "Volta".

Und Tom.

Spiegel Online, 04.05.2007

Claus-Christian Malzahn fühlt sich durch Alex Gibneys Dokumentarfilm "Taxi to the Dark Side" über einen afghanischen Taxifahrer, der im schändlichen Lager Guantanamo zu Tode gefoltert wurde, an das "flammende Plädoyer eines zornigen Staatsanwalts" erinnert: "Die Nörgler in Europa, die seit Jahren das dumme Lied vom amerikanischen Faschismus singen, sollten sich deshalb nicht zu früh auf Gibneys Film freuen. Sie haben zur Aufklärung der amerikanischen Verfehlungen in Afghanistan und im Irak so gut wie nichts beigetragen. Die Enthüllungen fanden vor allem in den liberalen Medien der Ostküste statt, im New Yorker, in der New York Times, in der Washington Post, Atlantic Monthly oder Vanity Fair."

Außerdem in Spiegel Online ein Interview mit Wikipedia-Gründer Jim Wales, der offensichtlich - trotz der guten Behandlung von Wikipedia durch Google - eine konkurrierende Suchmaschine aufbauen will und dazu eine nicht ganz verständliche Erklärung gibt: "Im Moment ist die Websuche ein redaktioneller Prozess. Die Suchmaschine präsentiert einem eine Rangfolge. Websuche sollte aber transparenter und offen sein. Wir brauchen niemanden, der uns sagt, was wichtig ist. Unsere Suchmaschine wird ein Open-Source-Projekt sein, das jedem offen steht. Sie wird eine offene Plattform für Innovation sein." Amazon.com bezahlt das Projekt.

FAZ, 04.05.2007

Im Iran protestieren die Lehrer. Der Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan schildert die Gleichschaltung des Erziehungswesens im Lande unter Ahmadinedschad: "Im vergangenen Jahr wurden mindestens dreihundert Studenten mit massiven universitären Disziplinarmaßnahmen belegt, siebenundfünfzig Studentenzeitschriften wurden verboten, und siebzehn Magisterstudenten wurden der Universität verwiesen. Die letzte Demonstration der Lehrer, die seit einigen Wochen ihre Proteste gegen ihre Einkommensverhältnisse und die desolate Lage des Erziehungswesens öffentlich vortragen und sich dazu mehrmals zu Tausenden vor dem Parlament in Teheran versammelt haben, endete mit dem Angriff der Polizei und der Verhaftung eines erheblichen Teils der Lehrkräfte."

Weitere Artikel: Im Aufmacher kommt Sandra Kegel noch einmal auf die jüngst diskutierten Fälle von Kindesverwahrlosung in Berlin zurück. Jürg Altwegg glossiert den Schweizer Abschied von der Buchpreisbindung. Andreas Rossmann zitiert Erkenntnisse, nach denen der umstrittene Wuppertaler Kunstsammler Eduard von der Heydt, dem die Stadt ein Museum verdankt, kein Nazi war. Gemeldet wird, dass Frank Schirrmacher für das gute Deutsch seiner Bücher und Artikel und sein tägliches Wachen über die Sprachqualität des Feuilletons dieser Zeitung den mit 30.000 Euro dotierten Jacob Grimm-Preis erhält. Eduard Beaucamp erinnert sich in seiner Kolumne "Kunststücke" an die erste Documenta im Jahre 1955.

Auf der Medienseite lässt Jürg Altwegg noch einmal das Kandidatenduell im französischen Fernsehen Revue passieren und konstatiert, dass die Spannung beim Thema Europa, das nach stundenlangen innenpolitischen Debatten gestreift wurde, auf den Nullpunkt fiel. Auf der letzten Seite unterhält sich Peter Körte mit dem Regisseur Paul Verhoeven, der nach "Basic Instinct" und einigen Flops erstmals wieder in den Niederlanden drehte. Julia Bähr porträtiert die familientaugliche Punkerin Avril Lavigne. Und Paul Ingendaay berichtet, dass die Opferzahlen in Guernica bis heute höchst umstritten sind.

Besprochen werden eine Ausstellung über den antiken Bildhauer Praxiteles im Louvre, eine Choreografie Philippe Decoufles beim Festival Movimentos in Wolfsburg, Ralf Westhoffs Komödie "Shoppen" und Sachbücher, darunter Glen Mosts Monografie "Der Finger in der Wunde" über den ungläubigen Thomas in der Kulturgeschichte.

FR, 04.05.2007

Tom Mustroph stellt die britische Dramatikerin Debbie Tucker Green vor, die vom Guardian bereits als Nachfolgerin Sarah Kanes gepriesen wird und um ihre Person ein Geheimnis macht wie Thomas Pynchon. "Ihr Alter, ihre Adresse, selbst eine E-Mail-Adresse sind nicht zu erfahren. Ihre Agentur antwortet auf Anfragen nicht. Der Link in der ansonsten gut geführten Online-Datenbank doollee.com verweist im Falle Tucker Green ins Leere. In der Öffentlichkeit zirkuliert nur ein Foto von ihr. Es zeigt vor einer roten Wand eine schwarze Frau im Profil. Die Haare sind unter einem schwarzen Tuch verborgen, die Augen geschlossen und der Kopf nach unten geneigt. Immerhin ist die Aufnahme nicht so verpixelt wie der legendäre Schnappschuss des abgetauchten ehemaligen Flugzeug-Ingenieurs." Greens theatralische Aids-Parabel "Stoning Mary" ist zur Zeit in Berlin und München zu sehen.

Weiteres: Daniel Kothenschulte würde einen Rücktritt Günter Rohrbachs von der Spitze der Deutschen Filmakademie begrüßen. Sylvia Staude lässt die Höhepunkte der kommenden Spielzeit am Schauspiel Frankfurt Revue passieren. In einer times mager informiert Harry Nutt unter anderem über das Netzwerk Rauchen, das unter der Schirmherrschaft des Popmusikers Joe Jackson die Diskriminierung seiner Mitglieder verhindern will. Rolf Wiggershaus empfiehlt zwei Bände zu Ernst Bloch.

SZ, 04.05.2007

Will Winkler berichtet auf der Literaturseite vom Auftakt von Orhan Pamuks Lesereise in Hamburg. "In einer Sprache, in der das Wort für das Amt (müdürlügü) kaum weniger poetisch klingt als jenes für Nachtigall (bülbül), kann ein Dichter nur gewinnen. Der Dichter Pamuk liest in gekonnt atemlosen Tempo einen monströsen Satz, der aus (der Moderator Hubert Spiegel hat nachgezählt) 155 Zeilen besteht, unterbrochen nur einmal vom Beifall jener vielleicht zwanzig Prozent unter den Zuhörern, die das Türkische verstehen. Michael Krüger liest die Passage anschließend mit seiner markanten Stimme auf Deutsch, und der türkische Gesang erweist sich als eine schier unendliche Reihung von poetischen Szenen, aus denen sich für Pamuk das heimatliche Istanbul zusammensetzt, die Stadt seiner Kindheit in den Fünfzigern, die Stadt seines Erwachsenwerdens, die Stadt des in Europa wohlbekannten kranken Mannes am Bosporus. Pamuk häuft diese Bilder an wie Benjamins Lumpensammler in der Morgenfrühe der Revolution."

Im Feuilleton trägt Franziska Augstein kurz vor der zweiten Wahlrunde in Frankreich ein paar Eindrücke zur Ungleichstellung der politischen Frau im Westen zusammen. Jörg Königsdorf nimmt das neu gegründete Opernhaus in Valencia nach einem leidlichen gelungenen "Ring" in die europäische Oberklasse auf. Petra Steinberger das innige Verhältnis vieler Amerikaner zu ihrem Rasen. Alexander Menden annonciert das Stück "A Disappearing Number" über den früh vollendeten indischen Mathematiker Srinivasa Aiyangar Ramanujan, das jetzt bei den Recklinghausener Ruhrfestspielen von der britischen Truppe Complicite aufgeführt wird. "eye" meldet, dass Joan Baez nicht vor Versehrten im Walter Reed Army Medical Center in Washington spielen darf, John Mellencamp aber schon. Thomas Bärnthaler porträtiert Jeff Tweedy von der Band "wilco". Im Literaturteil resümiert volker Breidecker eine Osnabrücker Philologentagung. Und auf der Medienseite feiert Michael Jürgs Andrea Meier, Moderatorin der 3sat-Kulturzeit. Und Claudia Tieschky berichtet über einen Korruptionsfall bei Telefilm Saar GmbH, einer zum Saarländischen Rundfunk gehörende Produktionsfirma, der glatte 15 Millionen Euro und ihr nun der Untreue verdächtigter Geschäftsführer Joachim Schöneberger abhanden gekommen sind.

Besprochen werden die Ausstellung zu "Venice and the Islamic World. 828-1797" im New Yorker Metropolitan Museum, und als Buch Efraim Karshs Studie zum "Imperialismus im Namen Allahs" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).