Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.05.2006. Die SZ findet: Das Deutsche Historische Museum ist jetzt auch Geschichte. Die FAZ lauscht versonnen und doch enttäuscht einem süß-hysterischen Hahnenschrei an der Komischen Oper Berlin. In der FAZ antwortet Peter Handke kurz und knapp auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Die Welt verteidigt Peter Handkes Engagement für Serbien. In der Berliner Zeitung trägt die Redaktion ihren Konflikt mit der neuen Chefredaktion auf der Titelseite aus.

NZZ, 30.05.2006

Jan-Heiner Tück schreibt über den Besuch Benedikts XVI. in Auschwitz: "In seiner abschließenden Ansprache, die er als Oberhaupt der katholischen Kirche in italienischer Sprache vortrug, verbeugte sich der Papst vor dem unsagbaren Leid der Opfer. Es falle ihm schwer, als Deutscher, als Christ die richtigen Worte zu finden. Dennoch betonte Benedikt, er habe unmöglich nicht nach Auschwitz kommen können. Seine historische Aussage, das deutsche Volk sei von einer Gruppe von Verbrechern ideologisch instrumentalisiert worden, ist gewiss anfechtbar und inzwischen zum Teil scharf kritisiert worden. Falls der Papst andeuten wollte, dass nicht alle Deutschen Nazis waren, so hat er dies in einer Formulierung getan, die für manche Ohren eine entschuldigende Note hat. Bemerkenswerter waren die theologischen Fragen, die sich Benedikt angesichts des Grauens aufdrängten: Wo war Gott in Auschwitz? Warum hat er geschwiegen? Wie konnte der Triumph des Bösen geschehen?"

Weitere Artikel: Roman Bucheli resümiert die 28. Solothurner Literaturtage. Jürgen Brocan schreibt zum Tod des Lyrikers Christian Saalberg.

Besprochen werden Verdis "Aida" im Zürcher Opernhaus und Bücher, darunter Stefan Collinis Studie über Intellektuelle in Großbritannien, "Absent Minds", und Leonid Zypkins "atemberaubender" Dostojewski-Roman "Ein Sommer in Baden-Baden" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 30.05.2006

In der Berliner Zeitung erklärt die Redaktion in einem Brief an die Leser, warum die Zeitung heute in reduzierter Form erscheint: "In der vergangenen Woche hat die Redaktion in einem Schreiben die Geschäftsführung aufgefordert, 'vor dem Abschluss der Verhandlungen über das (Redaktions-)statut davon abzusehen, einen neuen Chefredakteur zu berufen'. Ein solcher Schritt würde von der Redaktion 'als Vertrauensbruch' gewertet. Diese Situation ist mit der Berufung von Herrn Depenbrock eingetreten." Der neue Chefredakteur Josef Depenbrock verspricht dagegen: "Qualität bleibt unser Gütesiegel".

FAZ, 30.05.2006

"Der Hahn kräht herrlich. Die junge Sopranistin Mirka Wagner lässt ihre Stimme im Wettlauf mit der Piccolo-Flöte silberklirrend auf und nieder trillern, dass es eine helle Freude ist. Dieser süß-hysterische Hahnenschrei ist der einzige Lichtblick in der muffig-polternden Neuproduktion von Nikolai Rimski-Korsakows antizaristischer Groteske 'Der goldene Hahn', die von Andreas Homoki an der Komischen Oper neu inszeniert wurde." Es folgt auf 50 Zeilen ein Verriss von Eleonore Büning, der sich gewaschen hat. Und den man einfach deshalb gern liest, weil in jeder Zeile spürbar ist, wieviel lieber sie gelobt hätte.

Peter Handke antwortet kurz und knapp auf die Kritik am Heine-Preis in der FAZ: "Ich habe nie eins der Massaker in den Jugoslawienkriegen 1991-95 geleugnet, oder abgeschwächt, oder verharmlost, oder gar gebilligt."

Weitere Artikel: Frank Pergande ahnt eine gewisse Verstörtheit der Greifswalder über ihre frisch renovierte Universität: "Die Greifswalder kannten ihr Hauptgebäude bislang in Weinrot. Jetzt ist das passiert, was genaue Restaurierungen manchmal mit sich bringen: der Bau trägt gewöhnungsbedürftiges Lichtgrau." Christian Geyer berichtet, welch erschütternden Eindruck der Besuch eines deutschen Papstes in Auschwitz auf ihn gemacht hat. Verena Lueken kommentiert die Preisverleihung der schönsten Jury (Helena Bonham Carter, Zhang Ziyi, Monica Bellucci, Samuel Jackson, Wong Kar-wai) die Cannes je hatte: "Ihre Entscheidungen waren traditionell, ihre Erscheinung aber cooler denn je." Gina Thomas berichtet in einer kurzen Meldung über die Praktiken, mit denen Buchhändler in Großbritannien gegen Bezahlung Buchtitel hervorheben. Ingeborg Harms resümiert eine Tagung im Berliner Literaturhaus zu Heine und Freud: "Wie sich abzeichnet, werden die Karten neu gemischt, was die Antithese von Geist und Leib im Koordinatenfeld von Juden- und Christentum betrifft." Vorgestellt wird ein Schriftstück von Brigitte Kronauer, die umstandslos von Kafka auf Guantanamo kommt und so im Marburger Literaturmuseum landete. "Shut your mouth and let me love" - eine Meldung informiert uns von der heroischen Tat der National Portrait Gallery in London, die für 1,4 Millionen Pfund das Porträt von John Donne kaufte, bevor es von einem Börsenmakler ersteigert worden wäre.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld, wie überrumpelt sich die Berliner Zeitung von der Berufung des neuen Chefredakteurs Josef Depenbrock (Hamburger Morgenpost) fühlt. Julia Bähr empfiehlt die Serie "The L Word" vor allem heterosexuellen Männern. Auf der letzten Seite porträtiert Andreas Kilb Palmengewinner Ken Loach. Dirk Schümer ist mit einem Trupp deutscher Mediävisten in die Reggio Emilia gereist, weiß aber immer noch nicht, ob der Tag von Canossa ein "Gipfel der Weltgeschichte" war. Gina Thomas versteht, warum britische Dozenten streiken: ihr Arbeitsvolumen hat sich in den letzten zwanzig Jahren mehr als verdoppelt, die Bezahlung nicht.

Besprochen werden "Die Räuber" live in Nürnberg, kommentiert vom Sportreporter Günther Koch, eine Mittelalter-Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg und die Aufführung von "Metropolis" nach Fritz Lang im Zürcher Schauspiel.

Welt, 30.05.2006

Im Meinungsteil bricht Matthias Kamann eine Lanze für Peter Handke, erklärt dessen Haltung zu Jugoslawien und Handke selbst zum Ausgestoßenen. "Während Handke immer noch ein Vergleich zwischen Auschwitz und dem Serbien-Bombardement vorgeworfen wird, hat es bis heute für Joschka Fischer keine Konsequenzen, dass er unter Missachtung jeder Realität über ein im Kosovo zu verhinderndes Auschwitz phantasierte. Solche Gedanken, auch Rudolf Scharpings frei erfundener 'Hufeisenplan', passten und passen halt zu gut zum feuilletonistischen Debatten-Konsens 'Deutschland findet durch den Kosovo-Krieg zu neuer internationaler Verantwortung'. Peter Handke jedoch wird aus einer Debatten-Öffentlichkeit vertrieben, die sich ihren Konsens nicht kaputtmachen lassen und künstlerischen Eigensinn nur so lange akzeptieren mag, wie dieser das Kartell bestätigt."

Im Feuilleton kolportiert Florian Stark die Umstände der Entscheidung der Heine-Preis-Jury, die mit zwölf zu fünf Stimmen "zügig" zu Gunsten Peter Handkes entschied. Berthold Seewald informiert über das größte hinduistische Heiligtum Indonesiens in Prambanan, das durch das Erdbeben auf Java schwer beschädigt wurde. Hanns-Georg Rodek wartet in Cannes auf die nächste Generation. Bis dahin meldet er, dass Wim Wenders als erster Filmemacher nun Mitglied des Ordens "Pour le Merite" ist. Michael Pilz hält den Fußball des Rotbuch-Verlags für ein intellektuelles Distinktionsobjekt. Klaus Lüber nimmt aus einer Lesung von Hans Nieswandt in der Berliner Volksbühne mit, dass DJs entspannt altern. Gabriela Walde lobt den publikumsfreundlichen Erweiterungsbau von Renzo Piano für New Yorks Pierpont Morgan Library. Gemeldet wird auch, dass die zwei verstorbenen Angehörigen der Literaturnobelpreisjury frühestens im September ersetzt werden.

Im Magazin gibt es den zweiten Teil von Urs Gehrigers Porträt des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad.

Besprochen wird die Schau mit Dokumentarfotografien aus China im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, die Uwe Wittstock wegen ihrer schonungslosen Offenheit zuallererst für eine "politische Sensation" hält, und eine Ausstellung mit Werken neun islamischer Künstlerinnen und Künstler in der ifa-Galerie Berlin,

FR, 30.05.2006

Die Goldene Palme für Ken Loach war vor allem eine emotionale Entscheidung, weiß Daniel Kothenschulte in seinem Resümee von Cannes und zitiert das palästinensische Jurymitglied Elia Suleiman: "Wenn, dann waren wir in diesem Augenblick in der Jury - metaphorisch gesprochen - alle Palästinenser."

Weiteres: Harry Nutt berichtet über die ungeklärten Eigentumsverhältnisse von zwei Dutzend Plakaten des Deutschen Historischen Museums in Berlin, die kurz vor der Eröffnung für Unruhe sorgen. Christian Schlüter schreibt eine Times mager über den Amoklauf von Berlin.

Peter Michalzik erlebt Andreas Dresens Inszenierung von Ödön von Horvaths "Kasimir und Karoline" am Deutschen Theater Berlin als einzige "Theatermisere". Besprochen wird außerdem eine Ausstellung mit Werken von Tacita Dean im Baseler Schaulager, Volker Löschs Aufführung von Elfriede Jelineks "Sportstück" am Schauspiel Leipzig sowie Fotografien des Regisseurs Bernhard Wicki im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt.

TAZ, 30.05.2006

Im Kulturteil schreibt Jürgen Busche eine etwas konsistenzlose Verteidigung des Heine-Preises für Peter Handke: "'Nur Narr, nur Dichter' lautet eine Formel Friedrich Nietzsches. Man kann im Dichter auch den Narren verehren, der sprichwörtlich das Privileg hat, die Wahrheit zu sagen. Über die Wahrheit streiten sollen dann andere, nicht die Dichter."

Weitere Artikel: Sabine Leucht zieht eine enttäuschte Bilanz des Münchner Theaterprojekts "Bunnyhill". Cristina Nord wirft einen letzten Blick auf das Festival von Cannes. Helmut Höge beschreibt die kleine tschechische Kulturgemeinde in Berlin. Besprochen wird zudem Ödön von Horvaths "Kasimir und Karoline", inszeniert von Andreas Dresen am Deutschen Theater in Berlin. In der zweiten taz meldet Michael Brake, dass Wal-Mart sich mit einem Franzosen über den Smiley streitet.

Auf der Meinungsseite erklärt Christian Semler, warum ein linker Populismus schlechterdings nicht möglich ist.

Und Tom.

SZ, 30.05.2006

Am Sonnabend eröffnet Angela Merkel die ständige Ausstellung des Deutschen Historischen Museums. "Überzogene Erwartungen und übertriebene Ängste bestimmen bis heute die Diskussion", meint Jens Bisky: "Nimmt das 'Dritte Reich' zu viel oder zu wenig Raum ein? Wird die DDR angemessen gewürdigt oder verharmlost? Geht es besser mit oder ohne Patriotismus? Dürfen wir stolz oder müssen wir beschämt sein? Ist Nationalgeschichte zeitgemäß oder waren die Deutschen nicht immer schon Europäer? Die achtziger Jahre leben munter fort."

Weitere Artikel: Fritz Göttler würdigt das Oeuvre Ken Loachs, der für seinen jüngsten Film "The Wind that Shakes the Barley" In Cannes die goldene Palme gewann. Gemeldet wird, dass nun auch im Düsseldorfer Landtag über Peter Handke gestritten wird. Für die Kolumne "Zwischenzeit" nimmt Wolfgang Schreiber den neuen ICE zwischen München und Nürnberg. Alexander Menden meldet, dass die größte britische Lehrer-Gewerkschaft "National Association of Teachers in Further and Higher Education" (NATFHE) einen Israel-Boykott beschlossen hat. Frank Arnold hat ein kurzes Gespräch mit Luc Besson über seinen neuen Film "Angel-A" geführt. Florian Well lauschte in München einer Diskussion zwischen dem sizilianischen Politiker und Streiter gegen die Mafia Leoluca Orlando und Otto Schily. Daniel Brössler hat sich eine elfteilige russische Fernsehserie nach "Doktor Schiwago" angesehen. Robert Jacobi meditiert über den Verfall des Dollars. Georg Rudiger gratuliert dem Freiburger Ensemble Aventure zum 20-jährigen Bestehen.

Besprochen werden eine Ausstellung des Fotografen Ed Ruscha im Kunsthaus Zürich, Andreas Dresens Inszenierung von Horvaths "Kasimir und Karoline" am Deutschen Theater in Berlin, Luc Bessons Film "Angel-A" und Bücher, darunter ein Band mit Gesprächen, die Jacques Derrida kurz vor seinem Tod führte (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite zitiert Marcus Jauer einen unheimlichen Spruch des neuen Chefredakteurs der Berliner Zeitung, Josef Depenbrock: "Ihm sei aufgefallen, dass das Ressort Vermischtes eine der meistgelesenen Seiten mache und nur 1,6 Stellen habe - anders als das Feuilleton mit 13 Jobs."