Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.05.2005. In der SZ erklärt Michael Eberth, warum das Regietheater das beste ist. Die taz hat einem Verein von großer Beständigkeit bei der Arbeit zugesehen: dem Theatertreffen. In der Welt erklärt Faruk Sen, warum die Türken vielleicht doch nicht in die EU wollen. Alle sind zufrieden mit Cannes.

FR, 23.05.2005

Daniel Kothenschulte diagnostiziert nach dem Festival in Cannes, das von etwas angegrauten und vor allem ausschließlich männlichen Regisseuren bestritten wurde, die "Übermacht der Überväter". Für neue Trends sei aber "zugegeben" auch nicht die richtige Zeit. Interessantes gibt es in den Nebensektionen, dort entdeckt er eine neue Lust des Kinos am Mysterium. "Benjamin Heisenberg aus Tübingen, bekannt durch Milchwald, erobert in "Schläfer" die Domäne Christian Petzolds: die verhaltene Charakterstudie als Projektionsfläche für ein politisches Schattentheater. Ein junger Biologe wird von einer Geheimdienstfrau ermuntert, seinen arabischen Kollegen zu beschatten. Obwohl Heisenberg seinen Stil faktizistischer Lakonie nicht verlässt, erreicht er eine irritierende Überzeitlichkeit: Die Agentin scheint mitsamt der alten Staatssicherheit überlebt zu haben - und der junge Student ist ein Mitläufer, wie es sie schon in noch dunkleren Zeiten in Deutschland gab."

Arno Münster würdigt den französischen Philosophen Paul Ricoeur, der im Alter von 92 Jahren in Paris verstorben ist, als protestantischen Philosophen. In einer Times mager sinniert Adam Olschewski über die kulturelle Ausstrahlung der Lederhose. Auf der Medienseite erkennt Alexander von Streit an der Liste der mit dem erstmals vergebenen Henri-Nannen-Preis ausgezeichneten Arbeiten, wo Qualitätsjournalismus stattfindet: in den großen Zeitungen und Magazinen.

NZZ, 23.05.2005

Alexandra Stäheli ist außerordentlich zufrieden mit den Preisen, die in Cannes verliehen wurden. Der "Film der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne aus Belgien: 'L'enfant' - der letztlich mit der Palme d'Or ausgezeichnet wurde - fesselte und irritierte bis zur letzten Minute in der Art, wie vor uns die Psychologie einer sozialen Randfigur entfaltet wird - eines Charakters, der zwischen gestochen scharfem Realismus und leichter Künstlichkeit in der Schwebe bleibt." Ansonsten habe das Festival "sehr routiniert" gewirkt, "manchmal vielleicht beinahe etwas zu eingespielt und vertraut - und erinnerte damit zuweilen an jene in diesem Jahr nicht rar vertretenen Filme, in denen implizit oder explizit der Ausleierungskoeffizient langjähriger Ehen untersucht wurde."

Dieter Thomä würdigt den am 20. Mai bei Paris gestorbenen Philosophen Paul Ricoeur, der "so neugierig auf fremde Positionen und neue Gedanken war wie kein anderer Philosoph von Rang im 20. Jahrhundert ... Nicht wenige werden sich gerne an das Leuchten erinnern, das regelmäßig in Ricoeurs Augen trat, wenn er sich ins Gespräch vertiefte."

Weiteres: Eindrücke von der Jahrestagung der Goethe-Gesellschaft in Weimar, bei der über die elfjährige Freundschaft zwischen Schiller und Goethe disputiert wurde, gibt Roman Bucheli wieder. Eine beeindruckte Andrea Köhler lobt das neue Walker Art Center in Minneapolis: "Thronen und schweben - dass solches zusammengeht, ist das Werk von Herzog & de Meuron". (Von wem auch sonst. Baut eigentlich noch irgendjemand anders, außer den zweien?).

Besprochen werden eine Ausstellung über den Japaner Kisho Kurokawa im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt sowie das 16. Schaffhauser Jazzfestival.

TAZ, 23.05.2005

Katrin Bettina Müller charakterisiert das Berliner Theatertreffen als "Verein von großer Beständigkeit", der gerade deswegen kaum noch Aufmerksamkeit erregt. Aufreger gab es kaum, es ging solide und harmonisch zu. "Theaterklassiker und die Bearbeitung von Romanstoffen, zu Beginn der Spielzeit noch polemisch gegeneinander ausgespielt, als wären sie unterschiedlichen Begriffen des Theatralischen und Dramatischen verpflichtet, standen friedlich nebeneinander. Als folgte dem Zersplittern in die Facetten der Diskurse wieder die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Erzählung, bestimmten Geschichten und die Intimität des Kammerspiels vielfach die Szene."

Ein "glückliches" Festival hat Cristina Nord in Cannes genossen, auch die Goldene Palme für "L'enfant" geht für sie in Ordnung. "Die Dardennes verstehen sich darauf, soziale Miseren und menschliches Versagen fürs Kino zu erschließen. Dabei werden sie niemals moralisch; je weniger sie beweisen wollen, umso beklemmender gerät das Resultat. Die Figuren kommen nie zur Ruhe, sie sind ständig in Bewegung. Die Kamera heftet sich an sie, nimmt Rücken, Hinterköpfe, Nacken ins Visier und protokolliert so eine nie endende Flucht. Die Räume - ein Versteck am Fluss, eine Schnellstraße, Garagen am Stadtrand, Ruinen des sozialen Wohnungsbaus - haben präzise Konturen, sie charakterisieren ein Milieu, ohne dass der Film überdeutliche Markierung nötig hätte." Hier eine Liste der weiteren Preisträger.

Jan-Hendrik Wulf blättert in den aktuellen Ausgaben der Kulturzeitschriften du, die sich mit dem Land-Art-Künstler Richard Long beschäftigt, und Lettre, die sich der Willfensfreiheit annimmt. Rudolf Walther führt zum Tod des französischen Philosophen Paul Ricoeur durch dessen Gedankengebäude. Der Kulturwissenschaftler Claus-Marco Dieterich erklärt Clemens Niedenthal im Interview in der zweiten taz, dass die Diskussion um Rauchverbote ein Schauplatz tiefer liegender Wertedebatten ist. "Man fordert auf allen Ebenen etwa mehr Sicherheit ein und ist dafür auch bereit, Einschnitte in die persönliche Freiheit hinzunehmen."Jan Feddersen vermutet im schlechten Abschneiden von Gracia beim Eurovision Song Contest in Kiew ein Symptom für die Bedeutungslosigkeit des deutschen Pop überhaupt. Allerdings war Gracias auftritt auch "lichtschluckend".

Die einzige Besprechung ist dem Konzert der jungen aber konservativen Gruppe "Arcade Fire" aus Kanada im Berliner Postbahnhof gewidmet.

Und Tom.

SZ, 23.05.2005

Susan Vahabzadeh kann sich zufrieden zurücklehnen in ihrem durchgesessenen Kinostuhl an der Cote d'Azur. Mit dem am Wochenende zu Ende gegangenen Wettbewerb in Cannes ist sie ebenso zufrieden wie mit der Goldenen Palme für "L'enfant" der Brüder Dardenne. "Es hat dann doch seine Vorteile, wenn man auf alte Meister setzt - Cannes Nummer 58 war ein guter Jahrgang, der dem Festival einmal mehr seinen Rang bestätigt: uneinholbar. Ein paar Ausfälle hat es gegeben, aber die gibt es auf jedem Festival. Weit aus dem Fenster gelehnt hat sich Thierry Fremaux allerdings nicht mit seiner Auswahl: Der einzige Regiedebütant war Tommy Lee Jones, 58 Jahre alt und als Schauspieler schon mit einem Oscar ausgezeichnet. Und von den 21 Regisseuren im Wettbewerb waren tatsächlich nur vier zum ersten Mal in Cannes. Großartig war aber wieder einmal, wie in den zehn Tagen Wettbewerb die Filme plötzlich einen Zusammenhang bildeten, sich gegenseitig vervollständigten oder in neuem Licht erscheinen ließen."

Michael Eberth, Chefdramaturg am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, erzählt von seinen Studentinnen, die sich in der Diskussion über das richtige Theater auf die Seite der "Verworrenen", der interpretierenden Regisseure stellen. Aufführungen von den Regisseuren von gestern, der Zadeks oder Taboris, die einen Gerhard Stadelmaier elektrisieren und vom "Betroffenheitskult der Werktreue" zeugen, fanden die Studentinnen langweilig.

Carlos Widmann hält Victor Farias ("Die Nazis in Chile") Entlarvung des jugendlichen chilenischen Volkshelden Salvador Allende als Rassisten und Eugenikbefürworter zwar für überwiegend richtig, aber nicht so entscheidend. "Unendlich wichtiger" war Allende als Volksfrontpräsident. Jens Bisky ist überzeugt, dass die Akademie der Künste durch ihren neuen Bau zu mehr Selbstbewusstsein und Offenheit finden wird, selbst wenn neue Ideen nach wie vor fehlen. Matthias Kross kämpft im Nachruf auf Paul Ricoeur mit dem fast unüberschaubaren Werk des französischen Philosophen (mehr auf Englisch).

Auf der Medienseite fühlt sich Christiane Langrock-Kögel auf der Verleihung des Henri-Nannen-Preises sehr wohl unter all den Qualitätsjournalisten. "Soll es mit dem deutschen 'Familienroman' weitergehen, wird er sich an Tom Lampert halten", prophezeit Autor Thomas Medicus in seinem Kommentar zum neuen Genre auf der Literaturseite. Und Kristina Maidt-Zinke freut sich nach einer Tagung über Schiller und die Musik schon auf weitere Untersuchungen dieses ihr zu spärlich beackerten Feldes.

Besprochen werden die Retrospektive zum Werk der Frauenfotografin Bettina Rheims im Düsseldorfer NRW-Forum, Nigel Lowerys Inszenierung von Gioacchino Rossinis "L'Italiana in Algeri", an der Berliner Staatsoper und Georg Wilhelm Friedrich Hegels "Philosophie der Kunst" als Vorlesungsmitschrift aus dem Jahr 1826.

Welt, 23.05.2005

Faruk Sen, Leiter des Essener Instituts für Türkeistudien, erklärt auf den Forumsseiten, warum in der Türkei die Skepsis über den EU-Beitritt wächst: Ausnahmeregelungen und Schutzklauseln der Union in Bereichen wie Freizügigkeit, Struktur- und Agrarpolitik, die geforderte Anerkennung der Republik Zypern und die Debatte um die Anerkennung der Massaker an den Armeniern 1915 als Völkermord - alles zusammen hat dazu geführt, dass heute nur noch 60 Prozent der Türken den EU-Beitritt ihres Landes befürworten. "In Umfragen zeigt sich der Stimmungsumschwung im wachsenden Zuspruch der Bevölkerung zu nationalistischen Positionen. Die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) erreichte Ende April eine Zustimmungsrate von 18 Prozent, und das ohne besondere politische Reibungspunkte im Land, an denen dieser Zuspruch hätte wachsen können. Zudem steigt das Selbstbewusstsein in der Türkei mit Blick auf die eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Mit 4172 Dollar ist das Netto-Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei im Jahr 2004 auf Rekordniveau geklettert. Zugleich hatte das Land mit einem Wirtschaftswachstum von 9,9 Prozent hinter China die weltweit zweithöchste Steigerung des Bruttosozialprodukts zu verzeichnen, und das ohne Integration in die EU - so jedenfalls sehen es die EU-Gegner."

Berliner Zeitung, 23.05.2005

Das Unglück von Nigel Lowerys Inszenierung von Giacomo Rossinis "Italienerin in Algier", urteilt Klaus Georg Koch, ist die erzwungene Komik. "Einen Abend lang macht Lowery ein Späßchen, dann noch ein Späßchen, dann noch eines, und so fort. Komisch ist Rossinis Oper aber schon selbst." Auch sonst hat sich Lowery mit der Aufführung an der Berliner Staatsoper die Sympathie des Rezensenten verspielt. "Glaubte man bisher, Lowery mache mit gelegentlichem Dilettantismus einen witzigen Kommentar auf das Technische der Regiekunst, so fällt am Dilettantismus diesmal das Ungekonnte und Einfallslose auf."
Stichwörter: Oper, Algier, Algiers

FAZ, 23.05.2005

Zum Abschluss von Cannes hält Verena Lueken zwei Dinge fest: Die große Überraschung war Tommy Lee Jones' souveränes Regiedebüt und eine frappierende Übereinstimmung: "Offenbar beschäftigt die Filmemacher in Deutschland und China, in Frankreich und Mexiko, in Italien, in den Vereinigten Staaten und Belgien vor allem eines: die Familie und dass sie nicht mehr funktioniert."

Nach der Fusion mit Heyne hatte sich Verlagsgigant Random House eine Schrumpfungskur verordnet, jetzt setzt er wieder auf Wachstum, hat sich Hannes Hintermeier von Vorstandschef Joerg Pfuhl sagen lassen: "Der Größte will der Größte bleiben und den Abstand eher ausbauen. Auch gegen den Trend und in einem insgesamt schrumpfenden Markt", fasst er die Absichten des Vorstands zusammen.

Von Peter Halls Inszenierung des "Aschenbrödel" in der Landoper Glyndebourne ist Wolfgang Sandner zwar nicht sonderlich begeistert, wohl aber von der englischen Aristokratie: "Welcher englische Aristokrat schreckte je vor den fassungslosen Blicken des niederen Standes zurück, wenn er an der Victoria Station am hellichten Tage mit Picknickkorb und Smoking den Regionalzug von London nach Lewes bestieg, um ein paar Stunden später mit dem Champagnerglas in der Hand, zwischen Kühen und Schafen wandelnd, über Koloraturarien zu sinnieren?"

Zum 85. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki versammelt die FAZ Glückwünsche von Günter Grass, Eva Demski, Peter Demetz und anderen. Christian Geyer schreibt den Nachruf auf den französischen Philosophen Paul Ricoeur. Timo John ist ganz zufrieden mit dem Museum, das die Himmelsscheibe von Nebra nun erhalten soll, auch wenn er die Bezeichnung "stronomisches Erlebniscenter" etwas windig findet. "rmg" würdigt das "Denkmal 7", das der Belgier Jan de Cock der Frankfurter Schirn errichtet. Jürgen Kaube glänzte seinem eigenen Bericht zufolge bei Meinolf Schumachers Vorlesung an der Universität Bielefeld zum "Theater im Mittelalter".

Auf der letzten Seite erzählt Thomas Speckmann die Geschichte des deutschen Soldaten Kurt Keller, den es von der Normandie über ein Strafbatallion in die russische Kriegsgefangenschaft verschlagen hat. Regina Mönch hat den kriminaltechnischen Abschlussbericht zum Brand in der Anna-Amalia-Bibliothek gelesen: "Es war ein Schwelbrand". Die Ursache steht allerdings zwar nicht für die Experten, wohl aber für Mönch fest: "Ein Schatzhaus für kostbare Weltkulturgüter wurde immer wieder nur geflickt, provisorischer und billiger als noch die unbedeutendste Landstraße in unserem Land." Alexander Kemmerer porträtiert den Völker- und Europarechtler Eric Stein.

Besprochen werden Nigel Lowerys Inszenierung von Rossinis "Italienerin in Algier" (die Julia Spinola recht einfallslos fand), Schillers "Verbrechen aus verlorener Ehre" an mehreren Frankfurter Bühnen und Bücher, darunter Uwe Johnsons DDR-Reisebericht "Sofort einsetzendes geselliges Beisammensein" und Norbert Huses Venedig-Porträt (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).